Türkei-Wahlen
Was haben wir in Deutschland falsch gemacht?
In Deutschland gab es wohl selten eine derartige öffentliche Enttäuschung am Wählerwillen wie im Fall der Türken. Von Selbstkritik keine Spur. Dabei machen wir so viel falsch in unserer belehrenden, arroganten Art. Von Yasin Baş
Von Yasin Baş Mittwoch, 27.06.2018, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.06.2018, 22:18 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Enttäuschung über das Wahlergebnis in der Türkei ist nicht zu übersehen, zu überhören und zu überlesen. In Deutschland gab es wohl selten eine derartige öffentliche Enttäuschung und emotionale Anteilnahme am Wählerwillen. Oder können sie sich daran erinnern, dass wir während und nach den Wahlen in Ungarn, der Slowakei, Polen, Russland oder den USA tagelang über das Wählerverhalten der hier lebenden Wahlberechtigten aus diesen Ländern und der damit angeblich zusammenhängenden Zugehörigkeit zu Deutschland diskutiert haben?
Unsere belehrende, teilweise auch arrogant daherkommende Art kann nämlich genau das Gegenteil unseres Interesses bewirken und mehr Menschen ausschließen. Möchten wir, dass diese Menschen sich abwenden oder wollen wir sie gewinnen? Wir müssen uns Gedanken über die ausgrenzenden Strategien von Teilen der Medien, Politik und der gesellschaftlichen Ränder, die immer mehr in die Mitte hineinragen, machen.
Wir machen es uns zu einfach, in dem wir die Fehler bei den Erdoğan-Wählern suchen. Wir sollten uns eher die Frage stellen, was wir alles falsch gemacht haben. Wir sollten beispielsweise überlegen, ob Diskriminierung im Alltag, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt etwas mit dem Wahlverhalten zu tun haben könnte. Ebenfalls können wir uns fragen, ob alltäglicher Rassismus, Islamfeindlichkeit, Muslimhass und Xenophobie der in unserer „Mitte“ dazu beiträgt, dass so viele Menschen für die eine oder andere Partei stimmen.
Selbstkritik tut not
Seit Jahresbeginn gab es fast 50 Anschläge seitens PKK-naher Gruppierungen auf muslimische Einrichtungen und Gotteshäuser in Deutschland. Diese Übergriffe wurden bei weitem nicht ausreichend thematisiert. Im Gegenteil, sie wurden nicht selten bagatellisiert. Trotz Bekennerschreiben wurden bislang Schuldige kaum belangt. Nicht nur die distanzierte Berichterstattung, sondern auch die fehlende Anteilnahme wurde von der türkischstämmigen Gesellschaft in Deutschland registriert.
Es gab zwar Beistand, jedoch von ganz anderer Seite, nämlich aus der Türkei. Zumindest hat Erdoğan den Menschen das Gefühl vermittelt, dass er ihre Sorgen beachtet und sich um sie kümmert. Allein das genügt schon, die Herzen dieser Menschen zu gewinnen. Dann wundern wir uns, warum diese Menschen ihn wählen? Wie wundern uns, weshalb wir diese Menschen nicht wie gewünscht erreichen? Wo bleibt unsere Selbstkritik?
Empathielosigkeit
Unsere Empathielosigkeit trägt schon seit Jahren dazu bei, dass wir immer mehr Menschen emotional verlieren. Dass die Meinungsführerschaft in der Debatte Leuten wie Özdemir, Dağdelen, Ateş, Kelek usw. überlassen wird, die in der türkischstämmigen Gesellschaft überhaupt keine Reputation besitzen – ganz im Gegenteil, jedoch von unseren Medien hofiert werden, ist ein weiteres Dilemma.
Und haben wir uns je gefragt, was für ein Licht es auf uns wirft, dass Özdemir und seine Kollegen ebenso wie die Dağdelen-Genossen während des türkischen Wahlkampfs offen für die HDP geworben haben, die nach fester Überzeugung der Mehrheit der Türkeistämmigen als verlängerter, demokratisch anmutender Arm der bewaffneten Terrororganisation PKK gilt? Es ist kein Schönheitsfehler, sondern ein störender Makel, dass wir uns nicht von unserem rechthaberischen und arroganten Blickwinkel lösen können. Aktuell Meinung
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Dieser Beitrag stellt die richtige Grundfrage, verliert sich aber darin, scheinbar politische Gegner zu kritisieren. In der alten Bundesrepublik begann das, was sich jetzt (vom Autor angedeutet: Arroganz) „breit macht“. Man hat es nie geschafft (vermutlich nie wirklich gewollt, politisch falsch eingeschätzt: sie gehen ja bald zurück – wenn wir sie nicht mehr brauchen) die Eineanderer (vulgo Gastarbeiter) zu integrieren. Dann hat man die Chance verpasst (die Türkei an der langen „Leine“ verhungern lassen), die Türkei in Europa zu integrieren. Und nun beschweren sich tatsächlich viele über das Wahlverhalten der Deutschtürken. Wenn man die Frage also gründlich betrachtet ist ein großer Teil des Problems hier entstanden und hausgemacht.
Dass der Weg der Türkei aktuell in die Irre führt, was sich noch zeigen wird, bleibt davon unberührt.
„Erdogans Wiederwahl – kein Grund für deutsche Selbstgerechtigkeit“
https://www.nachdenkseiten.de/?p=44635
Alles richtig bin ihrem Artikel.Aber es bleibt eine Frage offen.Warum gibt es diese Probleme nicht mit den anderen Einwanderungsländer wie Portugal,Italien,Griechenland,Spanien,Vietnam usw?
Es gibt dieses Thema genauso in anderen Communities. Eben diese, die sie erwähnt haben- bitte genauer recherchieren.
Der Blick auf die türkische community ist allerdings immer schärfer und daher wenig neutral.
Der Artikel spricht türkischen Wählern in Deutschland indirekt die demokratische Reife ab. Wer sich durch innenpolitische Verfehlungen in Deutschland in seiner politischen Willensbildung in der Türkei maßgeblich beeinflussen lässt, handelt politisch substanz- und geistlos.
Wichtig ist erst einmal festzustellen, dass ein Wahlberechtigter ein mündiger Bürger ist und somit für seine politischen Entscheidungen selbst Verantwortung trägt. Diese Verantwortung schiebt der Autor auf die deutsche Gesellschaft und Politik. Das ist so billig und vor allem macht er genau das, was er auch den arroganten Deutschen vorwirft: Er macht es sich zu einfach.
Die ganze Geschichte hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die Ausgrenzung und Diskriminierung der Türken in Deutschland. Die andere Seite sind die gezielten Manipulationen Erdogans, wenn er die Situation der Auslandstürken ausnutzt und an den nationalen Stolz der Türken appelliert.
Eien Aufklärung, dass die Auslandstürken einen skrupelloser Verbrecher wählen, der Krieg gegen sein eigenes Volk im Südosten der Türkei führt, der Journalisten wegsperrt, die Meinungs- und Pressefreiheit kastriert, die Gewaltenteilung aufhebt und das Völkerrecht bricht, das alles wird hier bei Migazin nicht thematisiert.
Der Artikel verdrängt die problematische Politik von Erdoğan völlig und missbraucht schlicht den Begriff Rassismus. Daher noch mal zur Erinnerung: In der Türkei gibt es nur eingeschränkte Pressefreiheit, religiöse Minderheiten werden benachteiligt und es gibt keine Möglichkeit zur Kriegsdienstverweigerung. Menschenrechtliche Kritik an diesen Zuständen und an Erdoğan als Hauptverantwortlichen für rassistisch zu verurteilen, beleuchtet sehr gut die derzeitigen Abgründe des türkisch-deutschen Verhältnisses.
Wenn Özil und Gündoğan sich mit Erdoğan in dessen Wahlkampf zeigen, werten sie mit seiner Person auch seine Politik auf. Angriffe, wie die von Bernd Holzhauer, sind natürlich purer Rassismus und gehören problematisiert. Grundsätzlich bleibt es aber kritikwürdig, in Deutschland rechtliche Freiheiten zu genießen und gleichzeitig autoritäre Politik in anderen Ländern zu unterstüzen. Die Kritik des DFB war schon angebracht.
Die Erklärung, dass die Wahl von antiliberalen Parteien eine Reaktion auf erfahrene Verletzungen sei, lässt sich übrigens auch umdrehen: Kann die Unterstützung der AfD durch Deutsche nicht auch durch deren schlechte Erfahrungen mit Migrant*innen erklärt werden? In diesem Fall wäre das beste Mittel gegen die AfD nicht die Forderung nach mehr antirassistischer Aufklärung für die Mehrheitsdeutschen, sondern die Forderung, dass sich die Migrant*innen in Deutschland einfach mal besser benehmen und weniger kriminell, fundamentalistisch usw. sein sollen – dann werden die Deutschen sicher schon aufhören, die AfD zu wählen. Ist das wenig überzeugend? Dann bleibt nur der Grundsatz, dass die Unterstützung antiliberaler Parteien wie AfD und AKP für eine multikulturelle Gesellschaft falsch und entsprechend kritikwürdig ist.
Es wird wohl noch lange dauern, bis sich das türkisch-deutsche Verhältnis wieder erholt. Schade.
Man kann es Arroganz nennen, man kann es aber auch Selbstbewusstsein nennen. Dass man sich ggü. den Türken in Deutschland demokratisch fortschrittlicher hält ist vollkommen nachvollziehbar. Wenn so viele Türken tiefste Befriedigung darin finden, dass ihr Präsident die deutsche Regierung Nazis nennt, von den ganzen schwachsinnigen und beleidigenden Artikeln in den türkischen Medien mal abgesehen, sollten sich die AKP Türken über offene Feindlichkeit nicht wundern und beschweren schon gar nicht. Die türkische Community schwächt sich, wenn man in der Heimat einen Diktator wählt, weil sie ihre Glaubwürdigkeit verliert.
Demokratiefeindlichen, Hassschürer und Rückwärtsgewandten Menschen soll es in Deutschland möglichst unangenehm gemacht werden. Ihr Leben hier sollte auf allen Ebenen erschwert werden und zur Rückkehr in ihre Heimat motiviert werden, damit sie in dem von ihnen bevorzugten System leben können.
Den Türken werfe ich Heuschlerei und Selbstgerechtigkeit vor.
Dass die Türken in Deutschland als die größte Minderheit mehr in den Focus rücken, muss ich Ihnen wahrscheinlich nicht erklären …
„Dass die Meinungsführerschaft in der Debatte Leuten wie Özdemir, Dağdelen, Ateş, Kelek usw. überlassen wird, die in der türkischstämmigen Gesellschaft überhaupt keine Reputation besitzen.“
„Und haben wir uns je gefragt, was für ein Licht es auf uns wirft, dass Özdemir und seine Kollegen ebenso wie die Dağdelen-Genossen während des türkischen Wahlkampfs offen für die HDP geworben haben, die nach fester Überzeugung der Mehrheit der Türkeistämmigen als verlängerter, demokratisch anmutender Arm der bewaffneten Terrororganisation PKK gilt?“
Sie lehnen sich m. E. sehr weit aus dem Fenster, wenn Sie von in solchen Zusammnehängen von DER türkischstämmigen Gesellschaft bzw. der MEHRHEIT der Türkeistämmigen schreiben …
„Es gab zwar Beistand, jedoch von ganz anderer Seite, nämlich aus der Türkei. Zumindest hat Erdoğan den Menschen das Gefühl vermittelt, dass er ihre Sorgen beachtet und sich um sie kümmert. Allein das genügt schon, die Herzen dieser Menschen zu gewinnen.“
Nein, tut es ebn nicht oder haben Sie andere Zahlen von der Wahl übermittelt bekommen?!
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/integration-deutschtuerken-und-erdogan-a-1215851.html
Wie man derart selbstgefällig und selbstgerecht auf deutschen Straßen den knappen Wahlausgang feiern kann ist mir ein Rätsel. Verdammt, mindestens die Hälfte der Nation will ihn nicht, wie kann man dann feiern, als sei man gerade Weltmeister geworden?!
Was ich auch gar nicht verstanden habe: Warum Sie den Artikel in „Wir“-Form verfasst haben …
Warum ich etwas gegen die Diskriminierung im Alltag und auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in Deutschland bewirke, wenn ich meine Stimme Erdogan gebe, müssten Sie mir auch erstmal erklären …
@Sebastian Reichel
Der Vergleich mit der AFD Wählerschaft ist gelungen.
Man muss gar nicht glücklich sein über den Wahlausgang in der Türkei. Das bin ich übrigens auch nicht. (Meine Favoritin ist Meral Akşener, weil sie Demokratin ist, sowie die IYI-Partei, weil sie an die demokratische Tradition der DP-AP-DYP anknüpft und Mitglieder der demokratischen DP über ihre Wahlliste kandidierten, von denen einige ins Parlament gewählt wurden nach 16 Jahren Auszeit – darunter der Demokrat Gültekin Uysal.) Aber zur Demokratie gehört auch, dass man das Wahlergebnis sowie das Wahlverhalten der Deutschtürken akzeptieren und respektieren muss, statt sie zu verteufeln. Selbst die türkische Opposition (welche übrigens stärker, bunter, lebendiger, mutiger und selbstbewusster geworden ist!) hat das Wahlergebnis anerkannt. Genau dieser Respekt und diese Anerkennung hat mir bei den Deutschen gefehlt (abgesehen bei Merkel und einigen Politikern). Stattdessen die übliche Manier, die wir von Deutschen oft gewohnt sind: Arroganz und die Immerrechthaberei (bedingt durch geistige Unsicherheit und Minderwertigkeitskomplexe). Und genau das ist der falsche Weg. Ich sehe in Anbetracht einer stärkeren und selbstbewussteren Opposition (gegenüber einem stärkeren Präsidenten) nicht schwarz für die Demokratie in der Türkei. Im Gegenteil: Die Demokraten haben nach 16 Jahren Auszeit immerhin mit 43 Abgeordneten ins Parlament geschafft (gewählt v.a. von enttäuschten AKP-Wählern). Das ist ein beachtlicher Erfolg. Die Türkei besteht eben nicht nur aus Erdoğan, egal wie stärker dieser jetzt auch sein mag im Gegensatz zu vorher. Deswegen sage ich zum Wahlausgang, ganz egal wie sie ausgegangen ist, dass sie zum guten führen möge (auf Türkisch: Hayırlı olsun).