Exklusiv-Buchauszug (5/5)
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt erst recht!
Das Oberlandesgericht München hat das Urteil im NSU-Verfahren verkündet - lebenslänglich für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Dennoch sind viele Fragen sind unbeantwortet geblieben. MiGAZIN veröffentlicht in einem Fünfteiler Exklusiv-Auszüge aus dem Buch von Opferanwalt der Nebenklage, Mehmet Daimagüler.
Von Mehmet Daimagüler Freitag, 13.07.2018, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.07.2018, 17:57 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Wir haben ausgiebig darüber gesprochen, dass dieser Staat, dass unser Staat, viele Fehler begangen und sich an den Opfern des NSU versündigt hat. Hinter diesem Staat stehen Menschen, die in seinem Namen handeln. Manchmal kennen wir ihre Namen, oft aber bleiben sie anonym. Auch weil sich niemand für sie interessiert. Ich möchte über zwei Männer in Uniform sprechen, über zwei Soldaten, die sich genauso verhalten haben, wie wir es uns als Demokraten wünschen dürfen: Hauptmann Pohl und Vertrauenssoldat Panzergrenadier Gutwasser. Uwe Mundlos war von 1992 bis 1994 Soldat. Er leistete seinen Grundwehrdienst ab. In dieser Zeit wurde er in seiner Freizeit von der Polizei festgenommen. Der Vorwurf lautete unter anderem auf Volksverhetzung. Er hatte Nazi-Propaganda bei sich geführt. Hauptmann Pohl war sein Vorgesetzter. Als er von dem Strafverfahren erfuhr, beantragte er sofort in Ergänzung zur zivilen Strafbarkeit zusätzliche militärdisziplinarische Maßnahmen wie Arrest. Er argumentierte, dass ein Soldat der Bundeswehr in seiner Person aktiv für die Demokratie einstehen müsse. Durch die Bestrafung von Mundlos könne und müsse ein wichtiges Zeichen für die anderen Soldaten gesetzt werden. In diesem Sinne und vollkommen eindeutig nahm auch der Vertrauenssoldat Gutwasser Stellung zur Causa Mundlos. Unisono forderten beide Männer ein schnelles Handeln in dieser Sache.
Aus der Dienstakte Mundlos ist ersichtlich, dass Mundlos nicht bestraft wurde, dass er stattdessen befördert und in Ehren aus der Bundeswehr entlassen wurde. Eindeutig ist aber, dass sich beim Fall Mundlos ein Offizier und ein Mannschaftsdienstgrad der Bundeswehr genauso verhalten haben, wie man es sich als Bürger wünscht. Sie haben verantwortungsvoll gehandelt und demonstriert, dass das Bild vom Bürger in Uniform auch in der Realität existiert. Wir haben in diesem Verfahren viel über den Staat gesprochen. Aber den Staat gibt es nicht. Diese beiden Soldaten sind auch Staat – ein Staat, dem man gern vertraut.
Ein Held der Mitmenschlichkeit
Auf Seite 220 der Anklageschrift findet sich, versteckt in einer Fußnote und leicht zu übersehen, der Name Andreas H. Er ist ein Zeuge im Mordfall Enver Şimşek. Am 9. November 2000 fuhr er an dem mobilen Blumenstand Herrn Şimşeks vorbei. Er hielt an, um Blumen zu kaufen. Der Blumenstand war aufgebaut. Ein Kleintransporter mit der Aufschrift „Blumenhandel Enver Şimşek“ stand daneben. Von Enver Şimşek allerdings keine Spur. Andreas Heuler wartete ab und machte sich zunehmend Sorgen. Er rief nach Herrn Şimşek und entschloss sich nach wenigen Minuten, die Polizei zu verständigen. Die Polizei beschwichtigte. Es werde schon alles in Ordnung sein.
Bereits an dieser Stelle frage ich mich: Hätte ich mich so verhalten wie Herr Heuler? Hätte ich aus Sorge um einen mir vollkommen unbekannten Menschen die Polizei angerufen? Die ehrliche Antwort ist: Nein, ich hätte es wohl nicht getan.
Die Geschichte geht weiter. Andreas H. wartete noch eine Weile und machte sich dann auf die Suche nach dem Blumenhändler. Er ging in den nahe liegenden Wald und rief laut: „Herr Şimşek, geht es Ihnen gut?“ Er kannte den Mann nicht, aber der Name stand ja auf dem Transporter. Es war ein türkischer Name, aber das spielte für ihn keine Rolle. Er dachte, dass Enver Şimşek vielleicht in den Wald gegangen war, um sich zu erleichtern, dort einen Herzinfarkt erlitten hatte und nun hilflos zwischen den Bäumen lag.
Nun tat Andreas H. etwas, das ich ganz sicher nicht getan hätte. Er rief noch einmal bei der Polizei an, ließ sich nicht abwimmeln und bestand auf einen Streifenwagen. Die Polizei kam nach wenigen Minuten, und gemeinsam entdeckte man den schwer verletzten Enver Şimşek im fensterlosen Hinterraum des Lieferwagens. Andreas H. lief zu seinem Wagen und holte seine Rettungsausrüstung, denn er war Rettungssanitäter. Durch seine erste Hilfe konnte der sofortige Tod Enver Şimşeks abgewendet werden. Er starb erst zwei Tage später im Krankenhaus.
Wer nun einwenden möchte, nun gut, was sind schon zwei Tage, dem möchte ich antworten: Für die Angehörigen macht das einen großen Unterschied. In diesen zwei Tagen konnten sie Abschied nehmen von einem geliebten Menschen. Sie sind die einzigen Opferangehörigen der Česká-Mordserie, denen diese Gnade zuteilwurde. Wer selbst schon einmal einen geliebten Menschen verloren hat, der weiß, wie viel Trost eine letzte gemeinsame Zeit, ein letztes Halten der Hand, ein letzter Kuss vor dem Abschied geben kann. Diese letzte Zeit der Gemeinsamkeit und des Abschieds hat Andreas H. der Familie Şimşek geschenkt. Wir haben ihn am 21. Verhandlungstag persönlich erleben dürfen. Wir haben gesehen, mit welcher Bescheidenheit und mit welcher Selbstverständlichkeit er getan hat, was er getan hat. Für mich ist er ein großer, ein stiller Held der Mitmenschlichkeit. Ich werde ihn niemals vergessen.
Menschen, die wir brauchen
Am 19. Januar 2001 explodierte eine Bombe in einem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse. Die damals 19-jährige Mashia M. wurde dabei schwer verletzt. Sie erlitt furchtbare Verbrennungen am ganzen Körper. Ihr Überleben grenzt an ein Wunder. Sie musste Wochen und Monate im Krankenhaus verbringen und wurde immer wieder operiert. Noch im Krankenhaus bereitete sie sich trotz ihres Zustandes auf das Abitur vor. Sie bestand ihre Prüfungen mit Bravour. Im Anschluss studierte sie Chemie, gewiss kein anspruchsloses Studium, und nach ihrem Abschluss noch Medizin obendrauf.
Wir haben Mashia M. hier vor Gericht als Zeugin erlebt. Ich war tief beeindruckt von diesem Menschen. Sie beantwortete jede Frage konzentriert und mit Bedacht. Selbst auf Fragen, die sie als belastend empfunden haben musste, antwortete sie vollkommen besonnen und mit ruhiger Stimme. Dabei saß sie weniger als zwei Meter entfernt von Beate Zschäpe und den anderen Angeklagten, die mutmaßlich ihr und ihrer Familie nach dem Leben getrachtet hatten.
Von meinem Platz aus hatte ich einen Blick auf beide Frauen. Links Beate Zschäpe, rechts Mashia M. Ich konnte nicht anders, als mir zu denken:
Da sitzt links ein Mensch, der sich für überlegen hält, der glaubt, er sei etwas Besseres, der sich selbst als Herrenmenschen sieht. Aber was genau hat diese Person eigentlich geleistet? Hat sie gearbeitet, um für das eigene Leben zu sorgen? Hat sie im Leben irgendwann einmal bei irgendeiner Gelegenheit etwas getan, das das Leben der Mitmenschen besser oder schöner gemacht hat? Sie beruft sich auf Deutschland, sie beruft sich auf ihr Deutschsein. Da darf man und da muss man fragen: Hat sie etwas für unser Land, hat sie etwas für Deutschland getan? Hat sie etwas für die Menschen in Deutschland vollbracht? Die Antwort auf alle diese Fragen muss ein klares Nein sein. Ihre einzige „Leistung“ besteht darin, unendlich viel Unheil über andere Menschen gebracht zu haben. Dies gilt für sie wie für die Angeklagten André Eminger, Holger Gerlach und Ralf Wohlleben.
Tipp: Lesen Sie auch die anderen Teile dieser Reihe:
1. Vom Terror Einzelner zum Versagen aller im NSU-Komplex
2. Wie groß war der NSU wirklich?
3. Der NSU-Prozess: ein Überblick
4. Wer vom NSU sprechen will, darf zum Rassismus nicht schweigen
5. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt erst recht!
Und da sitzt rechts Mashia M., deren Eltern nach Deutschland kamen, auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder. So haben es Menschen seit den Anfängen der Zeit überall in der Welt gehalten: Die Kinder sollten es einmal besser haben. Sie bauten sich eine bescheidene Existenz auf mit ihrer eigenen Hände Arbeit. Dieses kleine Geschäft in der Kölner Probsteigasse ernährte Eltern und Kinder bis zu jenem Tag, als die Bombe explodierte. Schwer verletzt an Körper und Seele hat dieser junge Mensch, Mashia M., nicht aufgegeben. Sie ist heute Ärztin. Jeden Tag hilft sie anderen Menschen. Sie rettet Menschen. Sie macht Menschen glücklich, die Patienten wie deren Angehörige. Und dann glauben Menschen wie Beate Zschäpe, sie seien etwas Besseres? Sie glauben, sie seien besser für unser Land? Nein, wir brauchen Menschen wie Mashia M., nicht Menschen, die außer Hass in ihrem Leben nichts aufweisen können, ein Hass, der zerstören, der aber nie etwas erschaffen kann.
Als ich Mashia M. fragte, ob sie überlegt habe, als Konsequenz des Bombenanschlages Deutschland zu verlassen, antwortete sie: „Als das Bekennervideo veröffentlicht wurde und klar wurde, dass ich wegen meiner Herkunft so angegriffen wurde, war natürlich die erste Frage: Was soll ich hier noch? Ich bin ja ein Muster an Integration, und wenn man sogar Leute wie mich so bekämpft (…) Andererseits war das ja das, was die wollten, und ich dachte: jetzt erst recht!“
Unsere Aufgabe
„Jetzt erst recht!“ Diese drei Worte sind es, die mir Kraft und Hoffnung geben, die mir Aufgabe sind. Wenn ein Mensch wie Mashia M., eine Überlebende des Nazi-Terrors, diesen Optimismus und diese Stärke hat, wie können wir dann verzagt sein? Deutschland ist ein gutes Land. Dieses Land hat seinen Einwanderern wahnsinnig viel zu verdanken. Und seine Einwanderer haben diesem Land wahnsinnig viel zu verdanken. Besinnen wir uns also auf all das Gute, das wir in vielen Jahrzehnten gemeinsam aufgebaut haben. Seien wir gut zueinander. Lassen Sie uns die vielen Gemeinsamkeiten sehen, die uns verbinden, und nicht nur das, was uns unterscheidet. Und wenn wir unsere Unterschiede bemerken: So mancher Unterschied ist gut. Nicht jedes Anderssein ist problematisch, sondern im Gegenteil Voraussetzung für jene Vielfalt, die wir für Kreativität und Innovation brauchen. Wir können voneinander lernen. Wir haben eine gemeinsame Grundlage: Unsere Verfassung. Sie ist mehr als „nur“ Gesetz. Sie beschreibt eine Idee des Zusammenlebens. Sie bietet Orientierung für jeden Menschen, der in Deutschland lebt. Unsere Verfassung ist in Buchstaben gegossene Leitkultur.
Lassen wir uns nicht dadurch entmutigen, dass unser Staat im NSU-Komplex seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden ist, sondern lassen wir uns gemeinsam daran arbeiten, es in Zukunft besser zu machen. Denn: Unser Staat, das sind wir. Es ist unsere Demokratie, unser Rechtsstaat, unser Grundgesetz: Unsere Institutionen und unsere Verfassungsgrundsätze sind stark, aber sie sind keine unverletzlichen Naturgewalten. Sie sind nur so stark wie die Menschen, die hinter ihnen stehen, die sie im Alltag leben. Wir müssen uns einbringen, unser Wort erheben, solidarisch sein. Unsere Demokratie ist zu wichtig, um ihren Schutz allein Politikern anzuvertrauen. Unser Rechtsstaat ist zu wichtig, um seinen Schutz allein Juristen zu überlassen. Wir Bürger sind gefragt. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jetzt erst recht! Aktuell Meinung
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