Aus für "Aquarius"
Leben retten im Mittelmeer wurde unmöglich gemacht
Der Druck war zu groß: Die Seenotretter beenden den Einsatz der "Aquarius". Das Schiff wurde zum Symbol der europäischen Flüchtlingspolitik. Nun suchen "Ärzte ohne Grenzen" und SOS Méditerranée nach Alternativen. Migrationsforscher Bade kritisiert EU-Flüchtlingspolitik. Denunziationen und Kriminalisierung hätten fürs erste gesiegt.
Montag, 10.12.2018, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.12.2018, 17:48 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der Einsatz des Rettungsschiffs „Aquarius“ im Mittelmeer wird beendet: Nach monatelangen Auseinandersetzungen sehen sich „Ärzte ohne Grenzen“ und SOS Méditerranée gezwungen, das Schiff außer Betrieb zu nehmen, wie die beiden Hilfsorganisationen am Freitag mitteilten. Bereits seit zwei Monaten habe es den Hafen von Marseille nicht verlassen können.
„Was wir in den vergangenen Monaten erlebt haben, war eine gezielte Kampagne gegen die Rettung von verzweifelten Menschen auf dem Mittelmeer“, erklärte Florian Westphal, Geschäftsführer von „Ärzte ohne Grenzen“ in Deutschland. Dies bedeute, dass mehr Menschen ertrinken werden.
Dafür sei auch die EU verantwortlich, sagte die Geschäftsführerin von SOS Méditerranée in Deutschland, Verena Papke. Dass Leben retten im Mittelmeer unmöglich gemacht werden solle, verdeutliche das Scheitern Europas. „Wir haben den Höhepunkt der Kriminalisierung von humanitärer Hilfe auf See erreicht.“
Moralische Pflicht, weiterzumachen
Als erstem Schiff verweigerte Italien der „Aquarius“ im Juni einen Hafen zum Anlegen. Mit über 600 Flüchtlingen an Bord musste die Besatzung eine Woche lang im Mittelmeer ausharren, bis das Schiff schließlich in Spanien anlegen durfte. Auch für andere Rettungsschiffe blieben die italienischen Häfen daraufhin geschlossen. Zudem wurden der „Aquarius“ den Organisationen zufolge nach Rettungseinsätzen auf politischen Druck hin zweimal die Flagge entzogen. Und die italienischen Behörden hätten das Schiff wegen angeblich illegaler Abfallentsorgung beschlagnahmen wollen.
Dennoch wollen beide Organisationen weitermachen. „Wir müssen auf das Meer zurückkehren, es ist unsere moralische Pflicht und unser Recht, weiterzumachen“, betonte Sophie Beau von SOS Méditerranée Frankreich in Paris. Das soll mit einem neuen Schiff geschehen. Dafür würden nun mutige Reedereien gesucht, die bereit seien, „ein Zeichen der Solidarität mit den zivilen Seenotrettern zu setzen“, sagte Papke.
Bislang keine Pläne
„Wir sind mit Reedereien im Gespräch, aber bisher war noch kein passendes Schiff dabei, weil ein Rettungsschiff zahlreiche Kriterien erfüllen muss“, erläuterte Papke dem „Evangelischen Pressedienst“. Auch mit Ländern innerhalb und außerhalb der EU sei die Organisation im Gespräch, um zu sehen, unter welcher Flagge das neue Schiff fahren könne. „Wir brauchen eine stabile Flagge, die uns nicht so schnell entzogen wird.“
„Ärzte ohne Grenzen“ teilte auf Anfrage des „Evangelischen Pressedienstes“ mit, die Organisation überlege, wie sie weiter vorgehen werde. Bislang gebe es keine Pläne für eine Zusammenarbeit mit einer weiteren Organisation. Nothilfekoordinatorin Karline Kleijer erklärte, solange Menschen im Mittelmeer und in Libyen litten, werde „Ärzte ohne Grenzen“ nach Möglichkeiten suchen, sie medizinisch zu versorgen.
Bade: Kriminalisierung hat gesiegt
Der renommierte Migrationsforscher Prof. Klaus J. Bade sagte dem MiGAZIN: „Denunziationen und Kriminalisierung, auch aus Deutschland, haben fürs erste gesiegt. Das passt wenig zu den hehren Zielen des globalen Migrationspakts„. Bade zeigte sich erfreut, dass die Retter weitermachen: „Mit der Rettung von Ertrinkenden im Dienst der Menschlichkeit. Und durch Dokumentation auf See im Kampf gegen das organisierte Verbrechen an der Menschlichkeit im Mittelmeer.“
Diese Politik wird nach Überzeugung Bades von Europa und Deutschland aus noch befördert durch die Aufrüstung der libyschen Küstenwache, „die zum Teil im Einvernehmen mit kriminellen Schleppern arbeitet und abgefangene Flüchtlinge zurück in die Lager deportiert.“
Amnesty und Barley bedauern Ende
Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bedauerte das Ende des „Aquarius“-Einsatzes. Dass die beiden Organisationen gezwungen würden, ihre Rettungsoperationen zu beenden, zeige die Prioritäten der europäischen Regierungen: die Schließung der Mittelmeerroute sogar zum Preis von mehr Todesopfern, erklärte Generalsekretär Kumi Naidoo.
Enttäuscht vom Aus zeigte sich auch Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD). Die „Aquarius“ stehe auch für ein besseres, menschliches Europa, sagte die designierte SPD-Europaspitzenkandidatin Barley. „Wer auf See Leben rettet, verdient Respekt und nicht Schikane und Kriminalisierung.“
Fast 30.000 Menschen gerettet
Derweil rufen die Vereinten Nationen zu verstärkter Seenotrettung im Mittelmeer auf. Auch nichtstaatliche Organisationen müssten die Möglichkeit haben, in koordinierter Absprache Such- und Rettungsmaßnahmen auszuweiten, erklärte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Vorrang müsse immer haben, Leben zu retten. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte warnte davor, Hilfe für Migranten zu kriminalisieren. Wenn immer weniger Schiffe von Staaten und Hilfsorganisationen im Mittelmeer unterwegs seien, bedrohe dies das Überleben von Migranten, so eine Sprecherin.
Den Rettungsorganisationen zufolge wurden bei den Einsätzen der „Aquarius“ seit Februar 2016 fast 30.000 Kinder, Frauen und Männer vor dem Ertrinken bewahrt. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen in diesem Jahr bislang 2.160 Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben. (epd/mig) Aktuell Panorama
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