Weiter warten auf Familiennachzug
Bundesregierung ignoriert Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
Heute vor einem Jahr entschied der EuGH: Unbegleitete Minderjährige, bei denen die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt wird, haben einen Anspruch auf Elternnachzug. Das gilt auch, wenn sie während des Asylverfahrens volljährig werden. Das Auswärtige Amt weigert sich jedoch bis heute, das Urteil umzusetzen.
Von Muy, Schwarz Freitag, 12.04.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 16.07.2020, 20:33 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, denen im Asylverfahren der Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) zuerkannt wird, haben einen Rechtsanspruch darauf, ihre Eltern nach Deutschland nachzuholen. So steht es im Aufenthaltsgesetz und auch in der EU-Familienzusammenführungsrichtlinie 1. Dieses Recht endet jedoch, so die bisherige Auffassung der deutschen Behörden, mit dem 18. Geburtstag der/des Jugendlichen in Deutschland. Die Minderjährigkeit zum Zeitpunkt der Asylantragstellung soll nach deutscher Rechtsauffassung keine Rolle spielen. Dies führt in der deutschen Praxis dazu, dass die Möglichkeit des Elternnachzugs von der behördlichen Bearbeitungsdauer des Asylantrags und des Antrags auf Elternnachzug abhängt und nicht vom Schutzstatus des Minderjährigen.
In diesem Punkt galt in den Niederlanden bis 2018 eine ähnliche Rechtspraxis. Aus diesem Grund wurde der Visumantrag von Abiel und Saba M. 2 im Mai 2015 abgelehnt. Abiel und Saba M. sind die Eltern eines eritreischen Mädchens mit GFK-Flüchtlingsstatus, das 2014 als unbegleitete Minderjährige in die Niederlande eingereist und dort einen Asylantrag gestellt hatte und während des Asylverfahrens volljährig wurde. Die Eltern klagten 2015 gegen die Ablehnung ihrer Visumanträge. Das niederländische Gericht legte diesen Fall dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Klärung vor. Das Gericht wollte vom EuGH wissen: Ist eine unbegleitete Person, die minderjährig einreist und einen Asylantrag stellt, während des Asylverfahrens volljährig wird und dann als Flüchtling anerkannt wird, „unbegleitete Minderjährige“ im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie – und hat folglich das Recht auf Elternnachzug?
EuGH: Recht auf Elternnachzug – auch nach dem 18. Geburtstag
Am 12. April 2018 entschied der EuGH über den Fall. Demnach besteht ein Anspruch auf Elternnachzug, wenn die/der Jugendliche zum Zeitpunkt der Einreise in einen EU-Staat und der Stellung eines Asylantrags unter 18 Jahre alt ist und im Asylverfahren die Flüchtlingseigenschaft festgestellt wird. Es ist unerheblich, ob die/der Jugendliche während des Asylverfahrens volljährig wird.
Das Gericht stützt seine Entscheidung dabei auf die Auslegung von EU-Recht. So sind die EU-Staaten bei der Auslegung der Familienzusammenführungsrichtlinie in Bezug auf den Elternnachzug zu Personen mit Flüchtlingseigenschaft an die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit gebunden. Würde es auf den Zeitpunkt der behördlichen Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ankommen, so hätte dies zur Folge, dass zwei unbegleitete Minderjährige gleichen Alters, die am gleichen Tag einen Asylantrag stellen, je nach der Bearbeitungsdauer dieser Anträge unterschiedlich behandelt werden würden, ohne dass sie hierauf irgendeinen Einfluss hätten. Im Gegensatz dazu ermögliche es das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags, die gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden.
Denn, so stellt der EuGH klar: Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist ein rein „deklaratorischer Akt“. Das bedeutet: Die betreffende Person ist bereits zum Zeitpunkt der Einreise und des Asylantrags Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Im Asylverfahren wird dies lediglich festgestellt.
Auswärtiges Amt: Ablehnung statt Umsetzung
Für viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland, die während des Asylverfahrens oder auch danach volljährig geworden waren und die aufgrund der deutschen Rechtspraxis ihre Eltern nicht mehr nachholen konnten, keimte nach Bekanntwerden des Urteils Hoffnung auf. Ihre Eltern beantragten Termine zur Beantragung eines Visums bei einer deutschen Auslandsvertretung, oder sie legten Beschwerde („Remonstration“) gegen abgelehnte Visaanträge ein.
Nach einigen Monaten folgte dann die Ernüchterung: Statt Visa erhielten die Eltern Ablehnungsbescheide. Darin behaupteten die deutschen Auslandsvertretungen, das Urteil des EuGH entfalte für Deutschland „keine Bindungswirkung“, da sich die niederländische Rechtslage von der deutschen deutlich unterscheide. In den Niederlanden hätten die Eltern eines Minderjährigen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, das nicht mit dem Ende der Minderjährigkeit erlischt. In Deutschland werde das Aufenthaltsrecht hingegen nur bis zum letzten Tag der Minderjährigkeit erteilt.
Dieser höchst zweifelhafte Umgang des Auswärtigen Amtes mit der europäischen Rechtsprechung traf offenbar auch innerhalb der Bundesregierung auf Zweifel. Zumindest erklärte der Staatsminister Michael Roth am 17. Oktober 2018 auf eine Anfrage der Linksfraktion, die Position, zum EuGH-Urteil bestehe im Hinblick auf die Rechtslage in Deutschland kein Umsetzungsbedarf, sei seitens des Auswärtigen Amtes allein mit dem Bundesinnenministerium abgestimmt worden. Da von weiteren Ressorts zwischenzeitlich „Abstimmungsbedarf“ angemeldet worden sei, sei „eine größere Ressortabstimmung begonnen“ worden.
An einer schnellen Klärung und Umsetzung des recht klaren Wortlauts des EuGH-Urteils schienen die Verantwortlichen offenbar nicht wirklich interessiert. Zuletzt am 20. März 2019 teilte die Bundesregierung, wiederum auf Anfrage der Linksfraktion, mit, die Abstimmungen innerhalb der Bundesregierung seien hierzu „noch nicht abgeschlossen“. Die Bundesregierung bemühe sich aber um einen raschen Abschluss der Prüfung.
Gerichte: EuGH-Urteil gilt auch für Deutschland
Mittlerweile haben es die ersten Fälle vor die nationalen Gerichte geschafft. Die ersten Entscheidungen erteilen der zweifelhaften Rechtsauffassung des Auswärtigen Amtes eine Abfuhr. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg argumentierte in zwei Beschlüssen in Eilverfahren am 04.09.2018 3 und am 19.12.2018 4, dass mit Blick auf das EuGH-Urteil vom 12.04.2018 damit zu rechnen sei, dass die Eltern eines unbegleiteten Minderjährigen auch nach dessen 18. Geburtstag einen Anspruch auf Erteilung eines Visums und einer Aufenthaltserlaubnis haben werden.
Noch expliziter setzt sich das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 01.02.2019 5 mit dem EuGH-Urteil und der Rechtsauffassung des Auswärtigen Amtes auseinander. Mit dem Urteil verpflichtet das Gericht das Auswärtige Amt mit Bezug auf das EuGH-Urteil, seinen Ablehnungsbescheid aufzuheben und der Mutter eines mittlerweile 20-jährigen Syrers ein Visum zum Familiennachzug zu erteilen. Das Gericht erteilt der Argumentation des Auswärtigen Amtes, das Urteil sei aufgrund der unterschiedlichen Rechtslage in den Niederlanden und in Deutschland nicht bindend, eine deutliche Absage: Völlig unabhängig von der Frage, ob die Eltern nach der Einreise ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten oder nicht, habe der EuGH unmissverständlich festgestellt, dass die Bestimmung des Zeitpunkts, bis zu welchem ein Flüchtling minderjährig sein muss, um das Recht auf Elternnachzug in Anspruch nehmen zu können, nicht dem Ermessen der Einzelstaaten überlassen bleiben kann, sondern für alle EU-Staaten einheitlich zu bestimmen ist. Allerdings ist das Urteil offenbar nicht rechtskräftig geworden: Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ hat das Auswärtige Amt Sprungrevision eingelegt, so dass die Sache demnächst vor dem Bundesverwaltungsgericht neu aufgerollt werden dürfte.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Das SPD-geführte Auswärtige Amt weigert sich nach einem Jahr noch immer, die Rechtsprechung des EuGH in die Praxis umzusetzen. Seine Argumente verfehlen mit Blick auf den klaren Wortlaut und den Regelungszweck des EuGH-Urteils schlicht das Thema, und das absichtsvoll. Die Bundesregierung wiederum enthält sich einer Klarstellung, der es nun – nach einem Jahr – auch aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bedarf. Stattdessen wird die Entscheidung nun wiederum der Gerichtsbarkeit zugeschoben. Die bisher bekannten Beschlüsse und das aktuelle Urteil gehen in eine klare Richtung: Das EuGH-Urteil gilt selbstverständlich auch für Deutschland. Aber die Bundesregierung stellt sich stur. Die Leidtragenden sind die jungen Menschen, die weiterhin von ihren Familien getrennt leben müssen.
- Richtlinie 2003/86/EG, Art. 10 Absatz 3
- Namen geändert
- OVG 3 S 47.18, OVG 3 M 52.18
- OVG 3 S 98.18
- VG 15 K 936.17 V
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