Interview mit Daniel Gerlach
Nahost-Experte: Kein schnelles Ende des Libyen-Konflikts
Das Bürgerkriegsland Libyen ist vom Wiederaufbau mit internationaler Hilfe noch eine Weile entfernt, aber lokale Initiativen der Zivilbevölkerung machen Hoffnung, sagt der Nahost-Experte und Buchautor Daniel Gerlach im Gespräch.
Von Franziska Hein Donnerstag, 25.04.2019, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 28.04.2019, 16:11 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
In Libyen werden immer mehr Zivilisten Opfer der Kämpfe zwischen den Milizen im Dienst der Regierung und den von General Chalifa Haftar geführten Rebellen. Seit Wochen rücken Truppen des Generals Haftar immer weiter Richtung der libyschen Hauptstadt Tripolis vor. Nach UN-Angaben gibt es Hunderte Tote und Verletzte, Tausende sind auf der Flucht. Nahost-Experte Daniel Gerlach (41) beschreibt im Gespräch, welche Chancen das Bürgerkriegsland für eine neue politische Zukunft hat.
Herr Gerlach, wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung in Libyen?
Daniel Gerlach: Ich vermute nicht, dass es General Haftar gelingen wird, Tripolis schnell zu erobern. Falls er es tut, wird es ihm schwerfallen, in Libyen eine stabile Machtbasis herzustellen, um einen Staat, Stabilität und Sicherheit aufzubauen. Also das, was er verspricht. Libyen ist vom Wiederaufbau mit internationaler Hilfe noch eine Weile entfernt. Aber: Was die Zivilbevölkerung angeht, sehe ich in Libyen Zeichen der Hoffnung.
Daniel Gerlach ist Gründer der Candid Foundation, die in Libyen Projekte auf lokaler Ebene unterstützt, um die Zivilgesellschaft zu stärken und eine zivile Konfliktbearbeitung zu ermöglichen. Vor kurzem hat er das Buch „Der Nahe Osten geht nicht unter“ veröffentlicht. Gerlach ist außerdem Herausgeber des Fachmagazins „zenith„.
Was genau macht Ihnen Hoffnung?
Daniel Gerlach: Wir müssen uns, was die Struktur der Zivilgesellschaft in der arabischen Welt angeht, ein wenig von westlichen Vorstellungen verabschieden. Die libysche Zivilgesellschaft ist nicht einfach wie bei uns in NGOs, Vereinen oder Berufsverbänden organisiert. Daher müssen wir einerseits auf die lokale Ebene schauen: Wie engagieren sich Menschen in den Kommunen, um das öffentliche Leben aufrecht zu erhalten und dem Krieg zu begegnen. Und auf traditionelle Strukturen: Das sind in Libyen auch Familien und Stämme. Sie sind zwar nicht immer „die Guten“ in dem Spiel, aber sie sind wichtige Faktoren. In Libyen gibt es auf lokaler Ebene viele Menschen, die nicht mehr darauf warten, dass der Staat alles richtet. Und das in einem Staat, der seine Bürger immer kleingehalten hat.
Was passiert denn auf lokaler Ebene?
Daniel Gerlach: Da gibt es viele Initiativen. Und seien es Sportvereine, Lesezirkel oder sogar Umweltschützer. Die Menschen glauben offenbar nicht nur an das Narrativ von Krieg und Chaos, sondern daran, dass sie ihre Zukunft ein Stück weit selbst in die Hand nehmen können. Und unter Libyern im In- und Ausland gibt es eine kritische Masse exzellent ausgebildeter junger Menschen, die theoretisch verstehen, wie Demokratie und die Organisation eines Gemeinwesens funktionieren. Diese Menschen sind zwar während der Herrschaft von Muammar al-Gaddafi geboren und aufgewachsen, aber sie sind stark international vernetzt. Sie können nicht viel mit der Idee vom einem neuen starken Mann an der Spitze, einem neuen Alleinherrscher, anfangen.
Was können westliche Nationen im Umgang mit arabischen Gesellschaften besser machen?
Daniel Gerlach: Als der arabische Frühling ausbrach, mag Demokratie schon ein Ziel der Demonstranten gewesen sein. Aber es ging ihnen vor allem um Gerechtigkeit, um Würde, um Mitsprachrecht. Man muss nicht jede Gesellschaft und jeden Staat zu einer Demokratie nach deutschem Vorbild neu formen, um sie gewissermaßen satisfaktionsfähig zu machen. Viele Menschen in der arabischen Welt wollen Demokratie, aber viele sehen den westlich-europäischen Umgang mit Demokratie eben auch kritisch: Als sei die Demokratie eine Art Ersatzreligion, die man nicht anzweifeln und hinterfragen dürfe. Ich denke, westliche Nationen sollten Hilfe und Zusammenarbeit daran knüpfen, wie Staaten mit ihrer Bevölkerung umgehen, aber nicht automatisch an die Vorstellung, dass sie einmal so werden müssen wie wir. Liberale Demokratie ist ja selbst in Europa heute nicht mehr selbstverständlich.
Aus dem Westen schwingt oft ein gewisses Misstrauen gegenüber erklärtermaßen „undemokratischen“ Staaten mit. Im Sudan wurde die Regierung abgesetzt. Und die Europäische Union betont tags darauf, sie lehne eine Militärregierung ab und wolle lieber eine zivile Regierung…
Daniel Gerlach: Natürlich muss man das aus europäischer Perspektive so sagen: Wir wollen keine Militärregierung. Aber man wird auch erst einmal mit diesem Militärregime auf eine distanzierte Art und Weise arbeiten müssen, um dafür zu sorgen, dass es die Übergabe an eine zivile Regierung überhaupt erst ermöglicht. Im Sudan und auch in Algerien könnte sich übrigens ein ägyptisches Szenario wiederholen. In Ägypten war es auch das Militär, das Präsident Mubarak 2011 die Unterstützung entzogen hat. Dann ließ man eine demokratische Wahl zu, die neue Regierung versagte und das Militär übernahm wieder die Macht. Aber dieses Mal richtig. Man wird es im Sudan und in Algerien womöglich mit einer sogenannten zivilen Regierung zu tun bekommen, die von Militärs beschützt, aber im Zweifelsfall auch entfernt werden kann.
Wer über den Nahen Osten schreibt, schreibt oft über Krieg, autoritäre Regime und Terror. Sie hingegen plädieren in Ihrem aktuellen Buch für einen Perspektivwechsel. Warum geht der Nahe Osten nicht unter?
Daniel Gerlach: Dieses Buch ist auch das Ergebnis ganz persönlicher Erfahrungen, der Titel ist natürlich ein nicht ganz unironischer Bruch mit den Untergangsszenarien zum Nahen Osten, die man in vielen anderen Buchtiteln präsentiert bekommt. Als ich angefangen habe, diese Region in den Medien wahrzunehmen, gab es einen brutalen Bürgerkrieg im Libanon und einen Krieg zwischen dem Irak und dem Iran mit fast einer Million Toten. Wenn man den Zeitstrahl anlegt, stellt man fest: Es stimmt nicht, dass sich die Region in allen Belangen nur zum Negativen entwickelt hat. Es gibt heute auch eine aufgeklärte, selbstbewusste und in vielerlei Hinsicht sogar tabubefreite Generation, die international vernetzt ist und kosmopolitisch denkt. Sie ist noch nicht an der Macht, aber eben auch Teil der arabischen Welt. Mir geht es um Narrative, die ich teilweise hinterfragen möchte. Ich habe ja keine alternativen Fakten und tue auch nicht so, als gäbe es all die Probleme, die wir aus den Nachrichten kennen, nicht. Aber: Die Art und Weise, wie man über die Zukunft redet, beeinflusst ja auch deren Verlauf. (epd/mig) Aktuell Ausland
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