Klimawandel verschärft Kampf
Erstmals mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht
So hoch war die Zahl der Flüchtlinge seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: Mehr als 70 Millionen Menschen suchten 2018 Schutz vor Gewalt und Not. Lob gab es vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen für Deutschlands Flüchtlingspolitik.
Von Marc Engelhardt, Mey Dudin Donnerstag, 20.06.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 25.06.2019, 16:01 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Immer mehr Menschen ergreifen vor Krisen, Kriegen und Konflikten die Flucht. 2018 überschritt die weltweite Zahl der Flüchtlinge erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die Marke von 70 Millionen: 70,8 Millionen Männer, Frauen und Kinder suchten 2018 fern ihrer Heimat Schutz. Das geht aus dem Weltflüchtlingsbericht hervor, den das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) am Mittwoch in Berlin und Genf vorlegte.
Vermutlich seien sogar noch mehr Menschen auf der Flucht, denn von den vier Millionen geflohenen Venezolanern seien nicht alle erfasst, sagte UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. 2017 waren weltweit 68,5 Millionen Flüchtlinge gezählt worden.
Deutschland gehört zu den Ländern, die laut UNHCR 2018 am meisten Flüchtlinge beherbergten (1,1 Millionen). Grandi lobte die Bundesregierung für ihre Flüchtlingspolitik. Die Regierung investiere in die Integration, gleichzeitig werde der 2015 entstandene Rückstau bei der Registrierung aufgeholt.
Lob für Merkel
Damit habe Deutschland bewiesen, dass der Mythos der angeblich unbewältigbaren Flüchtlingskrise falsch sei. „Deutschland ist ein Modell, dem andere Länder folgen sollten“, empfahl Grandi. Ausdrücklich lobte Grandi Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie habe 2015 Mut bewiesen, und er sei überzeugt, dass die Geschichte ihr Recht geben werde.
Mehr als die Hälfte der 70,8 Millionen Geflohenen sind Flüchtlinge im eigenen Land (41,3 Millionen). Zu den Flüchtlingen im Ausland zählen 5,5 Millionen Palästinenser und 20,4 Millionen, die unter dem Schutz des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) stehen. Schließlich sind 3,5 Millionen Asylsuchende miterfasst.
Höchststand
Jedes Jahr vor dem Weltflüchtlingstag am 20. Juni verkündet das UNHCR die aktuellen Zahlen zu Flucht und Vertreibung. Und seit Jahren jagt ein Höchststand den nächsten. Vor zehn Jahren, 2009, lag die Zahl der Geflohenen noch bei 43,3 Millionen Menschen. Viele von denen, die damals erfasst wurden, sind es bis heute: Ein Fünftel der erfassten Flüchtlinge harrt seit mindestens 20 Jahren fern der Heimat aus, vier von fünf Flüchtlingen seit mindestens fünf Jahren.
Der Grund ist einfach: Jedes Jahr vertreiben neue Krisen weitere Menschen: 13,6 Millionen neue Flüchtende waren es 2018. Die alten Krisen und Konflikte bleiben unterdessen ungelöst. „Konflikte ziehen sich länger und länger hin, wir scheinen die Fähigkeit verloren zu haben, Frieden zu schließen“, warnte Grandi. Und er macht den Dauerstreit im Sicherheitsrat dafür mitverantwortlich. „Die Lösung von Konflikten setzt internationalen Kooperationswillen voraus.“
Dauerkonflikte
Die Dauerkonflikte spiegeln sich in den Herkunftsländern der Flüchtlinge wieder. Zwei Drittel aller Flüchtlinge stammten 2018 aus fünf Ländern, nämlich Syrien (6,7 Millionen), Afghanistan (2,7 Millionen), dem Südsudan (2,3 Millionen), Myanmar (1,1 Millionen) und Somalia (900.000). Dass 2,9 Millionen Geflohene 2018 in ihre Heimat zurückkehren konnten, erscheint da fast wie ein Wunder.
„Wann haben Sie zuletzt von einem gelösten Konflikt gehört?“, fragte Grandi in Genf und gab selbst die Antwort: „2016, als der westafrikanische Staatenbund Ecowas die Krise in Gambia beendet hat.“ Damals wurde der jahrzehntelang herrschende Diktator Yahya Jammeh ins Exil geschickt, der Wahlsieger übernahm die Macht. Blut wurde keines vergossen, und die 50.000 Flüchtlinge aus dem Senegal kehrten zurück. „Das Beispiel zeigt: Flüchtlinge kehren zurück, wenn zuhause wieder Frieden herrscht.“
Klimakrise
Stattdessen tragen neue Faktoren zu Flucht und Vertreibung bei, allen voran die Klimakrise. „Den Klimaflüchtling“ gebe es nicht, sagte Grandi. Aber der Klimanotstand sei ein kritischer Faktor. So würden vorhandene Krisen durch den Kampf um schwindende Ressourcen verschärft, wie derzeit in der Sahel-Region. In Ländern wie Somalia kehrten Dürren inzwischen nahezu jährlich wieder und vertrieben Menschen aus ihren Siedlungsgebieten.
Doch Grandi sieht auch Silberstreifen am düsteren Horizont. So seien seit 2016 rund 5,8 Milliarden Euro für Schulbildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen oder andere langfristige Hilfe eingeworben worden, von denen Aufnahmeländer profitieren sollen. 2018 war zum fünften Mal in Folge die Türkei das Land, das mit 3,7 Millionen die meisten Flüchtlinge beherbergte. Es folgten Pakistan (1,4 Millionen), Uganda (1,2 Millionen), der Sudan (1,1 Millionen) und Deutschland (1,1 Millionen). (epd/mig) Leitartikel Panorama
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