Verfassungsschutzbericht 2018
„Hohe Gefährdungslage“ durch Rechtsextremisten
12.700 Rechtsextremisten sind nach Einschätzung des Verfassungsschutzes gewaltbereit. Seehofer äußert sich besorgt - auch wegen einer "hohen Waffenaffinität" der Szene. Den Mordfall Lübcke sieht er als Zäsur - und als Aufforderung zum Handeln. Er lasse Verbote prüfen.
Freitag, 28.06.2019, 5:27 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.07.2019, 15:48 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke bescheinigt auch der Verfassungsschutz der rechtsextremistischen Szene eine hohe Gewaltbereitschaft. Derzeit gelten in Deutschland 24.100 Personen als Rechtsextremisten, 100 mehr als vor einem Jahr, wie aus dem am Donnerstag in Berlin vorgestellten Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz hervorgeht. Dies sei „ein neuer Höchststand“ bei einem seit 2014 andauernden Anstieg, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). Mehr als jeder zweite Rechtsextremist (rund 12.700 Personen) werde als gewaltbereit eingestuft.
Der Minister sieht deswegen eine „hohe Gefährdungslage“. Er halte die Zahlen „in Verbindung mit der hohen Waffenaffinität“ dieser Szene für besorgniserregend, betonte er und kündigte an, dass er auch künftig von der Möglichkeit der Vereinsverbote Gebrauch machen wolle. Der „politische Mord“ an Lübcke sei eine „Zäsur“, ein Alarmsignal, weil er sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte. Er werde daher „alle Optionen“ prüfen lassen, um dem Rechtsstaat „mehr Biss“ zu verleihen. Feinde des Rechtsstaats müssten aus dem Verkehr gezogen werden, „gerade wenn sie so brandgefährlich sind“. Welche Gruppierungen er für ein Verbot im Auge hat, wollte er nicht sagen.
Insgesamt seien die Bedrohungen für die Gesellschaft vielfältiger und komplexer geworden, resümierte Seehofer. Vor allem der Cyberraum werde dafür vermehrt genutzt. Er kündigte an, in dieser Hinsicht den Verfassungsschutz stärken zu wollen und kündigte für den Herbst eine Debatte in der großen Koalition über ein solches Gesetz an.
Rechtsextremismus bundesweites Problem
Die rechtsextremistisch motivierte Gewalt hat dem Verfassungsschutz zufolge im vergangenen Jahr leicht zugenommen. Demnach gab es 1.088 Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund. 2017 waren es noch 1.054. Dabei stieg die Zahl der versuchten Tötungsdelikte von vier auf sechs. Diese waren den Angaben nach ausnahmslos fremdenfeindlich motiviert. Insgesamt wurden bis Ende 2018 bei der „Politisch motivierten Kriminalität – rechts“ 19.409 Straftaten gezählt. Ein Jahr zuvor waren es 19.467.
Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang sagte, der Rechtsextremismus sei kein regionales Problem, sondern ein bundesweites. Auffällig sei die hohe Gewaltbereitschaft. Rechtsextremisten seien inzwischen auch selbstbewusster in ihrem Auftreten. Sie veranstalteten Musikkonzerte und Kampfsportveranstaltungen, internationale Kontakte würden weiter gefestigt. Zum Fall Lübcke sagte Haldenwang, dass man „auf sehr gutem Weg“ sei, was die Aufklärung der Tat angehe.
Geständnis im Fall Lübcke
Der 65-jährige Lübcke war Anfang Juni vor seinem Wohnhaus mit einem Kopfschuss getötet worden. Der CDU-Politiker war in rechten Kreisen verhasst, weil er eine humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen befürwortete. Am Dienstag legte der in Haft sitzende Verdächtige Stephan E. ein Geständnis ab. E. ist laut Verfassungsschutz seit Jahrzehnten in der rechten Szene aktiv.
Neben den Rechtsextremisten ist nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes auch die Zahl der Islamisten weiter gestiegen: von 25.810 im Jahr 2017 auf 26.560 Personen im vergangenen Jahr. Eine langfristige Gefahr könnten die Rückkehrer aus Syrien und dem Irak darstellen, die „Veteranen des Kalifats“ der Terrormiliz „IS“. Das gelte auch für die Frauen und Kinder. Haldenwang betonte, hier müsse man aufpassen, dass nicht „eine neue Dschihadistengeneration“ heranwachse. Im vergangenen Jahr sei eine Vielzahl „islamistisch“ motivierter Anschlagsplanungen frühzeitig aufgedeckt worden. Erst am Donnerstag wurde in Sachsen ein Terrorverdächtiger wegen mutmaßlicher Beteiligung an einem der Anschläge in Paris 2015 festgenommen.
Eine Seite NSU
Bei den Linksextremisten liegt die Gesamtzahl der gewaltorientierten laut Bericht unverändert bei 9.000 Personen. Insgesamt wird von 32.000 Linksextremisten ausgegangen, 2.500 mehr als ein Jahr zuvor. Die Zahl linksextremistischer Straftaten sei im Vorjahresvergleich von 6.393 auf 4.622 Delikte zurückgegangen. Die Gewaltdelikte gingen demnach ebenfalls von 1.648 auf 1.010 zurück.
Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2018 umfasst 388 Seiten. Er ist unterteilt in die Bereiche Rechts- und Linksextremismus sowie „Islamismus“ und „Ausländer“. Letzere nehmen mit 109 Seiten den größten Teil des Berichts ein, gefolgt von Linksextremismus, über den die Verfassungsschützer auf insgesamt 63 Seiten informieren. Den kleinsten Raum nimmt mit 59 Seiten der Rechtsextremismus ein. Auf einer Seite informiert der Verfassungsschutz über den Ausgang des NSU-Prozesses. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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