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Historiker Paul Nolte

„Bevölkerung tut sich schwer mit einer bunten Gesellschaft“

Vor 30 Jahren führte die friedliche Revolution in der DDR zur deutschen Einheit. Der Historiker Paul Nolte erklärt im Gespräch die Aufarbeitung und die heutige Situation im Osten. Er sieht einen "nationalistischen Rückschlag" in den früheren kommunistischen Staaten.

Von Corinna Buschow Montag, 30.09.2019, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.10.2019, 15:11 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Herr Nolte, der Mauerfall jährt sich im November zum 30. Mal. Die Unzufriedenheit der Ostdeutschen im vereinten Deutschland scheint so groß wie nie, blickt man auf die Wahlergebnisse. Haben Sie dafür eine Erklärung?

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Paul Nolte: Die Diagnose teile ich nicht. Ich glaube nicht, dass die Unzufriedenheit so hoch ist wie nie zuvor. Wir sehen eher verschiedene Wellen. In einer Posteuphorie Anfang der 90er Jahre fragten die Menschen bereits, wo die versprochenen blühenden Landschaften sind. Es gab gewaltsame Ausschreitungen gegen Ausländer in Rostock-Lichtenhagen und anderswo. Auch das waren schon Phänomene von Verwundungen und Enttäuschungen. Zudem will ich nicht von „dem“ Osten sprechen. Auch 25 Prozent AfD-Wähler sind nicht „der“ Osten. Darin spiegeln sich letztlich Unzufriedenheit und Entwicklungen, die wir auch anderswo in postkommunistischen Transformationsgesellschaften sehen, beispielsweise in Polen und Ungarn, aber auch im Westen, wo die AfD zehn bis zwölf Prozent erreicht. Bei der großen Mehrheit der Ostdeutschen ist die Normalität der Ankunft im Westen und in der Demokratie in meinen Augen so groß wie nie zuvor.

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Der Ostbeauftragte Christian Hirte sagte, der Osten erlebe vielleicht gerade das, was die Bundesrepublik 1968 erlebt hat. Ist da was dran?

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Paul Nolte: Ja und nein. Es lohnt sich auf jeden Fall, in diesen Zeiträumen zu denken und zu schauen, was sich 25 bis 30 Jahre nach solchen Zäsuren tut. Durch die nächste Generation kommt oft ein Backlash. Im Moment sehen wir in Polen, Ungarn und auch anderen früheren kommunistischen Staaten – auch der früheren DDR – einen solchen nationalistischen Rückschlag. Das historisch eindrücklichste Beispiel dafür ist die Situation der USA nach dem Bürgerkrieg. 30 Jahre danach, Mitte der 1890er Jahre, kam in den Südstaaten der Widerstand gegen die Überformung aus dem Norden, gegen die liberalen Zumutungen auf und auch der Rassismus erreichte einen neuen Höhepunkt. Etwas Ähnliches sehen wir in Deutschland seit 1989: mit der asymmetrischen Situation der Regelsetzung durch den „Sieger der Geschichte“, den mentalen Wunden und der illiberalen Gegenreaktion. Der Vergleich mit 1968 hinkt eher, weil das ein liberaler, progressiver Aufbruch war. Aber richtig ist: Teile der Bevölkerung tun sich noch immer schwer mit einer bunteren Gesellschaft – das freilich nicht nur im Osten.

Gibt es ein Rezept gegen den Backlash?

Paul Nolte: Dafür muss man noch genauer hinschauen. Bei der Wahlgeografie in Brandenburg und Sachsen ist auffällig, dass es eine West-Ost-Differenz in den Ländern selbst gibt. Die Zahl der AfD-Wähler ist im Osten, weiter weg von den Städten und den Verkehrsachsen nach Westen, höher. Wir sollten den Blick auf diese Ebene richten und nicht von „dem“ Osten sprechen. Denn auch in den „neuen Ländern“ gibt es viele prosperierende Gebiete. Dazu zählen große Städte oder die Ostsee-Küste, wo der Tourismus enorm wichtig ist. Die östliche Peripherie ist politisch und kulturell in besonderer Weise vernachlässigt worden, und ökonomisch benachteiligt. Dort fühlen sich die Menschen abgehängt. Das ist nicht nur ein deutsches Problem, sondern ein europäisches, immerhin ist das die Nahtstelle zu Polen. Da braucht es eine deutsch-polnische, eine europäische Initiative, um zu schauen, was man in dem Grenzsaum auch infrastrukturell auf die Beine stellen kann.

Ihr Schwerpunkt ist die Neuere Geschichte. Wo bewegt sich da die DDR: Schon Geschichte oder noch mitten in der Aufarbeitung?

Paul Nolte: Man muss unterschieden zwischen Aufarbeitung, also den Fragen von Schuld und Verstrickung, und geschichtswissenschaftlicher Beschäftigung. Bei der DDR ging die Aufarbeitung sofort los – ein Unterschied zur Zeit des Nationalsozialismus. Im Rückblick muss man sagen: Es war nicht falsch, da nicht erst mal zehn Jahre den Mantel drüber zu breiten. Die Aufarbeitung geht in Einzelfällen immer noch weiter, aber wir sind doch in einer gewissen Endphase, einer Befriedung. Die historische Erforschung steht auf einem anderen Blatt. Mit dem Ende der DDR hat die Soforthistorisierung eingesetzt, obwohl man in unserem Fach eigentlich sagt, dass man einen gewissen Sicherheitsabstand braucht. Da kann sich noch einiges tun. So ist die Geschichtswissenschaft ein Prüfstein dafür, auch ostdeutsche Lebensgeschichten vorkommen zu lassen. Dazu kommt: Auch die Post-DDR-Zeit ist mittlerweile Geschichte, der sich Historiker annehmen müssen.

Bundespräsident Steinmeier beklagte jüngst, dass die Erfahrungen Ostdeutscher nicht in das gesamtdeutsche „Wir“ eingeflossen sind. Woran liegt das?

Paul Nolte: Es gibt eine dominierende westdeutsche Erzählung, die ein Stück weit dem Verlauf der Dinge geschuldet ist. Die Asymmetrie ist unvermeidlich, denn der Kommunismus hatte abgewirtschaftet und nicht die Ordnung des Grundgesetzes. Aber die Frage nach Siegern und Verlierern ist nicht die einzige und tritt sogar zunehmend in den Hintergrund. Wir müssen aus der normativen Falle herauskommen: Lebensgeschichten der DDR zu erzählen und plausibel zu machen, heißt ja nicht, das Honecker-Regime zu rechtfertigen.

Trotzdem geht es bei der Erinnerung immer wieder um die Schrecken der SED-Diktatur. Ist es erlaubt und nötig, auch an Positives aus der DDR zu erinnern?

Paul Nolte: Es ist erlaubt, man darf dabei nur die gesellschaftlichen Zwangsmechanismen nicht wegblenden. An mancher Stelle könnte das der Osten sogar selbstbewusster von sich sagen, etwa bei der Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Berufstätigkeit von Frauen oder der Kinderbetreuung. Da haben wir in den vergangenen 30 Jahren in ganz Deutschland vom Osten gelernt.

Immer wieder flammt auch die Diskussion darüber auf, ob der 3. Oktober als Feiertag richtig gewählt ist. DDR-Bürgerrechtler bringen oft den 9. Oktober, den Tag der großen Montagsdemonstration in Leipzig, ins Spiel. Könnten Sie einer Änderung etwas abgewinnen?

Paul Nolte: Ich finde den 3. Oktober in Ordnung, auch wenn ich selbst eine Präferenz für Feiertage habe, die eher aus der Bewegung kommen. So ist es etwa der 14. Juli in Frankreich, der Tag des Sturms auf die Bastille zu Beginn der Französischen Revolution. Die Amerikaner haben den 4. Juli, den Tag der Unabhängigkeit. Das ist zwar nicht der Tag eines Volksaufstandes, aber schon eher ein Revoluzzer-Moment als etwa der Tag der Unterzeichnung der Verfassung. Trotzdem würde ich am 3. Oktober nicht rütteln, zumal der 9. Oktober in der kollektiven Erinnerung ja ebenfalls eine Rolle spielt. Man braucht nicht immer einen gesetzlichen Feiertag. Manch einer wird auch noch wissen, was der Buß- und Bettag ist, obwohl er in fast allen Bundesländern kein Feiertag mehr ist, und dass der 27. Januar – der Tag der Befreiung von Auschwitz – wichtig ist.

Sie sind Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin. Wie bewerten Sie die Rolle der Kirchen bei der friedlichen Revolution?

Paul Nolte: Sie hatten eine starke Rolle in den ganzen sozialen Bewegungen der 80er-Jahre in Ost und West. Mich ärgert sogar, wenn man die Formel hört, die DDR-Opposition habe sich „unter dem Dach der Kirche“ versammelt. Das klingt, als ginge es da nur um die Gebäude. Das unterschätzt für mich die inhaltliche Dimension, die religiöse Motivation vieler Akteure und die persönlichen Netzwerke in den Kirchen, die das damals möglich gemacht haben. (epd/mig) Aktuell Gesellschaft

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