Stilles Gedenken
„Das hätte ein Massaker unbeschreiblichen Ausmaßes werden können“
Bundes- und Landespolitiker reisen einen Tag nach dem Synagogen-Anschlag nach Halle, um mit der Jüdischen Gemeinde zu sprechen. Es geht um Antisemitismus in Deutschland und die Frage nach der Sicherheit.
Von Romy Richter Freitag, 11.10.2019, 8:31 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 16.10.2019, 19:46 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Das ganze Ausmaß des offenkundig rechtsextremistisch und antisemitisch motivierten Anschlags in Halle in Sachsen-Anhalt wird am Tag nach den tödlichen Schüssen auf zwei Menschen immer deutlicher. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sagt am Donnerstagnachmittag auf einer Pressekonferenz, wenn der Täter wie geplant in die Synagoge in der Humboldtstraße eingedrungen wäre, hätte das „ein Massaker unbeschreiblichen Ausmaßes“ gegeben. 60 Menschen hatten sich am Mittwoch dort zum Gottesdienst versammelt. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe spricht von Terror.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der wie viele andere Bundes- und Landespolitiker am Donnerstag nach Halle gekommen ist und die Tatorte besucht hat, betont: „Dieses brutale Verbrechen ist eine Schande für unser ganzes Land.“ Vor der Synagoge im Paulusviertel und vor einem nahegelegenen Döner-Imbiss, an dem am Vortag eine 40 Jahre alte Frau aus Halle sowie ein 20 Jahre alter Mann aus Merseburg auf offener Straße erschossen wurden, haben viele Menschen Blumen, Blumengebinde, kleine Steine niedergelegt. Entsetzen und Trauer sind groß, manche ringen nach Worten, andere finden klare Worte, auch eindeutige Botschaften sind darunter: „Nie wieder rechter Wahnsinn!“
Igor Matriyets steht vor den Mauern der Synagoge. Er trägt demonstrativ seine Kippa. Das macht er sonst eigentlich nicht. Aus einem Gefühl der Unsicherheit heraus, und weil er seinen Glauben so beschreibt: „Wie ein Christ, der auch nur Weihnachten in die Kirche zum Gottesdienst geht.“ Heute aber ist alles anders. Der 28-Jährige ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Halle, die zur Zielscheibe eines Anschlags geworden ist. Der junge Mann war geschockt, als er von der Tat in den Nachrichten erfuhr.
„Wir haben gebetet“
Benjamin Leins hängt ein Plakat aus dem Fenster, direkt gegenüber dem Tatort. Es trägt die Aufschrift: „Humboldstraße gegen Antisemitismus und Hass“. Der Student der Kirchenmusik wohnt hier, und er will nicht, dass der Täter und sein Anliegen im Fokus stehen. Zum Zeitpunkt der Tat habe er einen lauten Knall gehört, berichtet er. Das Paulusviertel ist eine beliebte Wohngegend in Halle, viele Studenten wohnen hier, viele Familien. Die Polizei und die Präsenz der Medienvertreter dominieren das Bild in der kleinen Humboldtstraße.
Einen lauten Knall hörte auch Christina Feist. Die 29-Jährige war am Mittwochabend selbst in der Synagoge. Sie war extra mit einer Besuchergruppe aus Berlin angereist, um hier den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu feiern: „Wir haben gebetet.“ Immer wieder erzählt sie ihre Erlebnisse vor den Kameras und Mikrofonen der internationalen Presse, auf Deutsch, auf Englisch. Sie berichtet, über die installierte Kamera vor der Synagoge habe man drinnen verfolgen können, dass ein Mann in Kampfmontur in das Gebäude eindringen wollte. „Ich hoffe, dass es nie wieder so ein Jom Kippur gibt“, sagt sie. Dann bricht sie ab, ist schöpft.
Versäumnisse bei der Sicherheit
Was passiert ist, hat der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, selbst noch gar nicht richtig verarbeitet: „Es war furchtbar, ganz schrecklich.“ Am Morgen dachte er noch, das müsse ein schlechter Traum gewesen sein. Kurze Zeit später empfängt er Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, Landesinnenminister Holger Stahlknecht (beide CDU), den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und weitere Politiker. Steinmeier betont: „Die Geschichte mahnt uns, die Gegenwart fordert uns.“
Privorozki sieht ebenso wie Zentralratspräsident Schuster Versäumnisse, was die Sicherheit jüdischer Einrichtungen betrifft. Auf der Pressekonferenz kündigen Seehofer, Stahlknecht und Haseloff umgehend Konsequenzen an. Auch der Kampf gegen Rechtsextremismus müsse verstärkt werden, erklären die Politiker. Stahlknecht warnt vor den „geistigen Brandstiftern“ und erinnert dabei auch an die politischen Auseinandersetzungen im Landtag seit 2016 nach dem Wahlerfolg der AfD, bei denen die Sprache des Nationalsozialismus wieder Einzug ins Parlament gehalten habe. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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