Deutsche IS-Anhänger
Deutschland steht in der Pflicht und in der Schuld
Die Türkei will mutmaßliche Anhänger der Terrororganisation „IS“ nach Deutschland abschieben. Das berichtete die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes bestätigte die Meldung. Experten sehen Deutschland in der Pflicht und Schuld.
Von Martina Schwager Freitag, 15.11.2019, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.11.2019, 17:29 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der Bremer Strafrechtsexperte Bernhard Docke weist auf die völkerrechtliche Verpflichtung Deutschlands hin, eigene Staatsangehörige aufzunehmen. Die Bundesregierung habe sich lange davor gedrückt, sich um die deutschen ehemaligen IS-Kämpfer und ihre Familien zu kümmern, sagte Docke dem „Evangelischen Pressedienst“. „Der deutsche Staat muss sie aus der Gefahrenzone holen und hier in rechtsstaatlichen Verfahren klären, ob und wenn ja welche Straftaten sie begangen haben. Die verantwortlichen Politiker dürfen sich nicht länger wegducken.“
Ebenso wie Deutschland von anderen Ländern verlange, dass sie etwa abgelehnte Asylbewerber oder Straftäter zurücknähmen, müsse es dieser Pflicht auch selbst nachkommen, sagte der Rechtsanwalt, der Anfang der 2000er Jahre den Guantanamo-Häftling Murat Kurnaz erfolgreich verteidigt hat.
100 deutsche IS-Sympathisanten
Bei den Betroffenen, die nach Deutschland abgeschoben werden, soll es sich unter anderem um eine aus Niedersachsen stammende siebenköpfige Familie handeln. Bis zu 100 deutsche IS-Sympathisanten mit rund 100 Kindern sollen noch in türkischen Gefängnissen oder in von Kurden bewachten Lagern in Nordsyrien leben.
Docke sagte, eine strafrechtliche Verfolgung der nach Deutschland abgeschobenen Menschen hänge davon ab, ob sich eventuelle Verbrechen nachweisen ließen. Beweise für die Unterstützung einer terroristischen Organisation im Ausland könnten etwa türkische Behörden oder Propaganda-Videos liefern. Lägen diese vor, könne Anklage vor den zuständigen Oberlandesgerichten erhoben werden. Bei entsprechendem Tatverdacht könnten die Rückkehrer dann auch direkt bei der Einreise in Untersuchungshaft genommen werden.
IS-Rückkehrer „gewaltige Herausforderung“
Der Osnabrücker Islamexperte Michael Kiefer sieht vielschichtige Probleme auf die deutschen Behörden zukommen. „Das sind gewaltige Herausforderungen, weil jetzt innerhalb kurzer Zeit eine zwei- bis dreistellige Zahl von Personen einschließlich Frauen und Kindern nach Deutschland kommen könnten“, sagte Kiefer dem „Evangelischen Pressedienst“.
Bereits vor einem Jahr hätte die Bundesregierung beginnen können, die IS-Sympathisanten aus der Türkei und Nordsyrien geordnet und nach und nach zurückzuholen. Doch sie habe sich stets geweigert, kritisierte der Islamwissenschaftler der Universität Osnabrück: „Das rächt sich jetzt. Nun haben die Türken das Heft das Handelns in der Hand.“
Kaum Informationen
Das große Problem sei, dass die deutschen Behörden bislang kaum Informationen über die zurückgeschickten Personen erhalten hätten, erläuterte Kiefer, der auch Projekte zur Radikalisierungsprävention wissenschaftlich begleitet. Jugendämter, Kitas und Schulen hätten keine Zeit, sich auf möglicherweise radikalisierte oder traumatisierte Familien einzustellen. Wenn etwa Eltern in Haft kämen, müssten die Kinder in Obhut genommen und an erfahrene Pflegeeltern oder Betreuungseinrichtungen vermittelt werden.
Wenn Familien nach wie vor radikalisiert seien, sei es schwer, sie mit Beratungsangeboten zu erreichen und die Kinder vor Indoktrinierung zu schützen. Allein die Tatsache, dass Eltern einer radikalen Ideologie anhingen, biete keine Handhabe, Kinder in Obhut zu nehmen, sagte Kiefer. Er sei skeptisch, ob etwa in ländlichen Gebieten Einrichtungen auf Rückkehrer vorbereitet seien, die nicht zur Kooperation bereit sind. Rückkehrer hätten aber, wenn sie nicht in Haft kämen, das Recht, ihren Wohnort frei zu wählen. (epd/mig) Aktuell Panorama
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