"Ein Unding"
Seehofers Erlass zur Schleierfahndung ist ein offener Verstoß gegen EU-Recht
Per Erlass hat Bundesinnenminister Horst Seehofer eine verstärkte Kontrolle an deutschen Binnengrenzen angeordnet. Ulla Jelpke schreibt in ihrem MiGAZIN-Gastbeitrag, warum er gegen EU-Recht verstößt.
Von Ulla Jelpke Montag, 18.11.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 20.11.2019, 16:58 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der jüngste Erlass von Bundesinnenminister Seehofer an die Bundespolizei zu verstärkten Kontrollen an allen deutschen Binnengrenzen ist ein Verstoß gegen EU-Recht. Verdachtsunabhängige polizeiliche Kontrollen im grenznahen Raum – die so genannte Schleierfahndung – dürfen nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollen haben, das räumt auch die Bundesregierung auf meine Anfrage ein (19/126). Wenn es aber nunmehr „wahrnehmbare“, „regelmäßig wiederkehrende Schwerpunktaktionen“ „in unmittelbarer Grenznähe“ geben soll, dann ist das mit EU-Recht offenkundig nicht vereinbar.
Womöglich weiß man das auch im Bundesinnenministerium, und womöglich ist das der Grund dafür, warum die Erlasse an die Bundespolizei vom 30. September und 6. November 2019 den Abgeordneten des Bundestages bislang trotz mehrfacher Anfrage nicht übermittelt wurden: Der Bruch des EU-Rechts könnte in Kenntnis des Wortlauts der Anweisungen allzu offenbar werden. Es bestehe kein Anspruch auf Aktenvorlage oder Dokumentenherausgabe, hieß es zur Begründung aus dem Ministerium lapidar. Auf mein erneutes Drängen hin sicherte jedoch Bundesinnenminister Seehofer im Innenausschuss des Bundestages am vergangenen Mittwoch die Übersendung der Erlasse zu und entschuldigte sich, eine solche Information der Abgeordneten solle auch für die Zukunft sichergestellt werden. Das wäre zu hoffen, denn es ist generell ein Unding, dass die Presse oftmals besser informiert ist als die zur Kontrolle der Regierung berufenen Abgeordneten. Nicht selten stechen Behörden- oder Ministeriumsbeschäftigte interne Papiere gezielt an bestimmte Medien durch – gerne etwa der „Bild“-Zeitung –, um auf diese Weise eine politisch genehme Berichterstattung zu erzielen. Die Offenlegung der Erlasse an die Bundespolizei ist aber nicht nur politisch, sondern auch rechtlich geboten: Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (hier, hier und hier) und auch deutscher Gerichte müssen die Vorgaben zur Begrenzung der Schleierfahndung rechtlich klar geregelt, transparent und offen sein – interne Anweisungen an die Behörden werden diesen rechtlichen Anforderungen nicht gerecht.
Die neue EU-Kommission muss die Erlasslage in Deutschland zur Schleierfahndung hinsichtlich ihrer (Un-)Vereinbarkeit mit EU-Recht zügig überprüfen, um den Verstoß gegen das zentrale Prinzip der unkontrollierten Reisefreiheit innerhalb der EU schnellstmöglich zu beenden. Meine Erwartungen diesbezüglich sind allerdings gering, denn schon bei der Fortführung systematischer Binnengrenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze hat sich die Kommission in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt. Vermutlich aus strategischen Gründen (man will es sich mit der Bundesregierung nicht verderben) wurde deshalb bislang kein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland (und andere Mitgliedstaaten) eingeleitet, obwohl die mehrmals verlängerten Kontrollen vom EU-Recht längst nicht mehr gedeckt sind und die EU-Kommission ursprünglich die Beendigung aller Binnengrenzkontrollen bis Ende 2016 (!) angestrebt hatte. Grenzkontrollen innerhalb der EU sind nur im absoluten Ausnahmefall, zeitlich befristet und nur bei erheblichen Bedrohungen für die Sicherheit und Ordnung zulässig – diese Voraussetzungen liegen offenkundig nicht vor.
Auch die vom Bundesinnenministerium angeordnete direkte Zurückweisung von Schutzsuchenden, gegen die ein Wiedereinreiseverbot ausgesprochen wurde, ist meines Erachtens ein klarer Verstoß gegen EU- und internationales Recht: Das Zurückweisungsverbot nach Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gilt absolut, selbst für schwere Straftäter. Und hierin liegt der eigentliche ‚Lackmustest für die wehrhafte Demokratie‘, von dem Seehofer sprach: Werden die Menschenrechte und rechtsstaatliche Verfahren auch dann eingehalten, wenn „Volkes Stimme“ (oder die BILD-Zeitung) nach einem kurzen Prozess ruft – wie im Fall Miri?
Zur Erinnerung: Wegen der rechtlich unzureichend geregelten Schleierfahndung hatte die EU-Kommission bereits in der Vergangenheit ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet – im Oktober 2014, unter anderem infolge entsprechender Hinweise der Linksfraktion. In der Folge wurde nach längeren Verhandlungen im März 2016 ein Erlass des Bundesinnenministeriums zur Anwendung von § 23 Absatz 1 Nummer 3 des Bundespolizeigesetzes veröffentlicht, der den rechtlichen Bedenken der EU-Kommission Rechnung tragen sollte und im Februar 2017 zur Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens führte – auch wenn nach Auffassung der Linksfraktion dieser Schritt den Anforderungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht genügte. Nach dem Erlass vom 7. März 2016 aber sollen Kontrollmaßnahmen der Bundespolizei im Rahmen der Schleierfahndung unregelmäßig und „stichprobenartig“ erfolgen und „nicht allein aus Anlass des Grenzübertritts“ stattfinden. Die Kontrollen müssten zudem „so ausgestaltet werden, dass sie sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheiden und nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben“. Sie sollen auf konkreten polizeilichen Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität beruhen.
Die aktuellen Anweisungen Seehofers zu „wahrnehmbaren“, „regelmäßig wiederkehrenden“ Kontrollen „in unmittelbarer Grenznähe“ , um Personen mit einem Wiedereinreiseverbot ausfindig zu machen, widersprechen damit sogar den eigenen Vorgaben des Erlasses vom 7. März 2016. Es ist erschreckend zu beobachten, wie sehr sich das politische Klima – maßgeblich auch infolge des verhetzenden Wirkens der AfD – inzwischen verändert hat, dass selbst offenkundig rechtswidrige Anweisungen zu grenzkontrollartigen Identitätsfeststellungen ohne wahrnehmbaren Widerspruch bleiben. Im Gegenteil, es gab sogar viel Applaus für den Innenminister aus den Reihen mehrerer Parteien, in den Medien und aus Polizeikreisen. Die Grenzen seien „offen wie Scheunentore“ beklagte sich Polizeigewerkschafts-Chef Rainer Wendt in AfD-Manier, obwohl offene Grenzen innerhalb der Europäischen Union jedenfalls bis gestern noch grundlegend positiv konnotiert waren. Aktuell Meinung
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Gegen Offene Grenzen für in der EU-lebende Menschen die im Sinne der Freizügigkeit die Ländergrenzen übertreten hat niemand etwas.
Wogegen die meisten (und damit eben nicht nur die „Bild“ Leser) etwas haben ist der Missbrauch eben dieser Regelungen.
„Verstoß gegen EU-Gesetze“ – ist doof wenn sich kein anderer EU-Staat daran hält!
Sie vertreten die Meinung der Bürger die sie gewählt haben – also fragen sie diese einfach mal.
Andererseits, was soll man von einer Person anderes erwarten die selber als Sprecherin der antikapitalistischen Linken zu einer vom Verfassungsschutz überwachten Strömung innerhalb der Linken gehört(e).
Ich würde mal sagen – ihre Sichtweise wird nur von einer Minderheit in der Bevölkerung geteilt
AfD-Trolle argumentieren auch hier nicht rechtlich, sondern politisch, ebenso wie der ehemalige österreichische FPÖ-Innenminister sinngemäß: Das Recht hat sich der Politik unterzuordnen.
Alles klar – weil ich nicht die Meinung der Autorin teile bin ich ein „AfD-Troll“. Genau solche Aussagen sind es die die Gesellschaft in Richtig und Falsch spalten.
Spannende Sichtweise und eine Beleidigung gleichermaßen, ist das hier der neue Umgangston im Migazin?
Recht wird zudem in den meisten Fällen von der Politik gestaltet – sofern es nicht um GRUND-Rechte geht ist das auch vollkommen in Ordnung.
Die EU ist ein Rechtsgebilde das von Politikern gestaltet und in Recht gegossen wurde. Das EU-Recht hat sich also schon immer der Politik untergeordnet denn die offenen Grenzen der EU sind eben kein „Grundrecht“.
Ich bin ebenso nur auf die Argumente unseres Innenministers eingegangen der eben diese in einer Sitzung des Bundestages so verteidigt hat.
Die Argumentationskette war: Die offenen Grenzen IN der EU bedingen das die Schleierfahndung an den Außengrenzen der EU funktioniert. Sie tun dies augenscheinlich nicht und er bekräftigte dies mit einigen Zahlen aufgegriffener Personen nach nur 48 Stunden.
Übrigens zum Thema „politisch und rechtlich“. Die Linksfraktion handelt ebenso politisch und die Grenzen sind oftmals schwammig. Der Berliner Mietendeckel ist „Recht“ und wurde vom Berliner Senat bestimmt.
Während die EU-Kommision ein Vertragsverletzungsverfahren einstellt weil -ihrer Rechtsminung nach- der neue Erlaß dem Gesetz genüge tut sieht die Linksfraktion in -ihrer Rechtsmeinung- das anders.
Das Recht wird also immer ausgelegt – je nachdem welcher politischen Seite man vielleicht eher geneigt ist.
Und auch wenn ihnen das nicht gefällt – der Auslegungscharakter ist in den meisten Gesetzen absichtlich vorgesehen.
Aus der Sicht von Frau Jelpke mag das ein Unding sein. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht kann man aber zu einer anderen Beurteilung kommen.
Wenn das Land, das mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen und versorgt hat sich davor sorgt, dass seine europäischen Nachbarn sich nicht an europäisches Recht halten und jegliche Migration nach Deutschland weiterleiten, Maßnahmen ergreift …. ja dann muss man als Linke die Keule rausholen.
Madame Jelpke findet polizeiliche Maßnahmen nur dann gut, wenn es ein sozialistischer Staat ist, der sie ausübt. (Siehe Würdigung der Stasi im „Grußwort an Aufklärer“ vom 18.05.2010).
Man bedenke auch, dass Frau Jelpke unter Verdacht steht, sensible Informationen an militante Linke weitergeleitet zu haben. Darüber hinaus bestehen Kontakte zu verbotenen Organisationen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verboten hat bzw. die Verbotsentscheidung bestätigte.
Darüber hinaus empfindet Frau Jelpke die Polizeitaktik gegenüber kriminellen, arabischen Clans als rassistisch und als Dreckskampagne….
Ist hier die Autorin eine Autorität, die über das Verhalten des Innenministers urteilen sollte?
Man darf noch dran erinnern, dass die Flüchtlingswelle vom September 2015 gar nicht der Auslöser der Grenzkontrollen war. Dauerhafte Grenzkontrollen hat sich Seehofer schon öffentlich gewünscht, nachdem sie im Mai/Juni während des G7-Gipfels in Elmau kurzfristig eingeführt worden waren, er freute sich damals besonders über Aufgriffe wegen Autodiebstählen und Drogen und ärgerte sich sehr, dass die Kontrollen nach dem Gipfel wieder beendet wurden. Die Flüchtlingswelle drei Monate später war nur der passende Anlass für den nächsten, diesmal erfolgreichen, Versuch dieses Serientäters, seinen Wunsch nach überwachten Grenzen durchzusetzen.