Auschwitz-Gedenken
„Das Böse“ – Teil der deutschen Identität
Mustergültig geläutert – so präsentierte sich die deutsche Nation beim diesjährigen Gedenken an die Befreiung des KZ Auschwitz und bestaunte öffentlich ihr „Wunder der Versöhnung“ (Bundespräsident Steinmeier). Doch „das Böse“ gibt einfach nicht auf!
Von Johannes Schillo Donnerstag, 30.01.2020, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.02.2020, 17:43 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Vor 75 Jahren befreite die Rote Armee das KZ Auschwitz, nachdem die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion verwüstet und dort 25 Millionen Menschen umgebracht hatte. Doch in die östliche Richtung bemühte sich (West-)Deutschland nie um ein „Wunder der Versöhnung“. Im Gegenteil, der alte Feind ist der neue. Ganz anders im Falle Israels, wo dieses Jahr in Yad Vashem die Auschwitz-Gedenkveranstaltungen begannen und Steinmeier eine vorbildliche Rolle spielte – während Israel, Polen und Russland teilweise schlechte Noten bekamen; in hiesigen Kommentaren war sogar von der Feier einer „erinnerungspolitischen Privatparty“, von einer „vertanen Chance“ (ARD) die Rede.
Doch hat die deutsche „Erinnerungskultur“ dieses Lob verdient? Ist sie frei von geschichtspolitischen Instrumentalisierungen und nur der Aufarbeitung des Vergangenen gewidmet? Bei denjenigen, die historisch-politische Bildung betreiben, sind da schon seit längerem Zweifel laut geworden (vgl. „Alles bewältigt? Eine Erinnerungskultur, die Deutschland dient“). Zweifel, die auch von den letzten bildungspolitischen Entscheidungen bestärkt werden.
So wurde 2019 das Bundesprogramm „Jugend erinnert“ neu aufgelegt, das die „Wissensvermittlung über die NS-Terrorherrschaft und die SED-Diktatur in der jungen Generation“ stärken soll. Für jeden erkennbar wird also regierungsoffiziell eine Gleichsetzung der „beiden Diktaturen“ vorgenommen – damit in der Konsequenz auch eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Ausrottungs- und Expansionspolitik –, die die Programmverantwortlichen, wenn sie darauf angesprochen werden, meist von sich weisen. Offiziell gilt natürlich, dass der Holocaust ein singulärer Akt war, der sich mit nichts vergleichen, auch „mit Worten kaum erfassen“ lässt (FAZ, 24.1.20).
Kein schwarzrotgoldener Schlussstrich!?
Im Dezember 2019 besuchte Bundeskanzlerin Merkel zum ersten Mal, seit sie regiert, die KZ-Gedenkstätte Auschwitz und erklärte die Judenvernichtung zum „Teil unserer nationalen Identität“ (FAZ, 7.12.19). Dabei wurde wieder die Einzigartigkeit der historischen Verpflichtung betont: Die deutsche Kanzlerin empfand „tiefe Scham“ angesichts des NS mit seinem „größten Menschheitsverbrechen“ – einem „Zivilisationsbruch“, der sich, was die deutsche Vergangenheitsbewältigung immer wieder betont, „mit Menschenverstand nicht erfassen“ lässt. „Eigentlich müsste man verstummen“, hieß es in ihrer Rede, die dann noch einmal wortreich auf Deutschlands Pflicht zu sprechen kam, die Erinnerung an die damaligen Verbrechen wach zu halten.
Ähnlich Bundespräsident Steinmeier in seiner viel gelobten Rede in Yad Vashem, der dann am 27. Januar sein Auftritt in Auschwitz folgte. Das ging ohne außenpolitische Verwerfungen über die Bühne, der polnische Präsident sprach vor 17 Staatsoberhäuptern, der Welt wurde wieder das „absolut Böse“ (FAZ, 28.1.20.) vorgeführt. Auch die AfD beteiligte sich am pflichtgemäßen Gedenken und erinnerte in einem kurzen Statement daran, dass der Massenmord „durch die Nationalsozialisten begangen“ wurde (AfD-kompakt, 27.1.20), während Steinmeier stets von „den Deutschen“ gesprochen hatte.
Die Feierstunde im Bundestag brachte dann zwei Tage später keine Überraschungen. Die „bösen Geister der Vergangenheit“ quälen, so Steinmeier, Deutschland zwar immer noch, doch Israels Staatspräsident Rivlin stellte dem Land ein derart wohlwollendes Zeugnis aus, dass es schon peinlich war: „Leuchtturm“ freiheitlicher Werte in Europa und international, Merkel „die Führerin der freien Welt“, Verantwortung für alles Gute, namentlich beim Klimaschutz, bei der Sorge um Geflüchtete etc. Das war natürlich eine Provokation für die AfD-Fraktion, die bei allem brav mitklatschte – die sich am Schluss aber, als Rivlin Differenzen zur deutschen Regierung in der Iran-Frage ansprach, bestätigt sehen konnte. Wenn die Erinnerungskultur zu solchen Ergebnissen führt, kann vielleicht auch die AfD Positives an ihr entdecken?
Wach gehalten wird die Erinnerung hierzulande in der Tat. Doch gab es beim Dauerprogramm der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung in Sachen NS-Herrschaft nach der Wende einigen Renovierungsbedarf. Es wurde nicht beendet, findet mittlerweile aber, wie die Rede von den beiden Diktaturen deutlich macht, im Rahmen eines „antitotalitären Konsenses“ seine Fortsetzung, wobei immer wieder Einwände gegen diesen „Schuldkult“ laut werden. Björn Höckes berüchtigte Dresdener Rede, die eine 180-Grad-Wende der deutschen Erinnerungskultur forderte, oder Alexander Gaulands Ansprache vor der AfD-Jugend, wo er die Nazi-Zeit als „Vogelschiss“ in der ruhmreichen 1000-jährigen deutschen Geschichte relativierte, artikulierten in AfD-typischer Direktheit, die die sprachlichen Tabus der Bundesrepublik verletzen will, solche Bedenken.
Einlassungen dieser Art werden allgemein als Aufkommen einer rechtsradikalen Schlussstrichpropaganda beklagt. Der Erziehungswissenschaftler Klaus Ahlheim hat dagegen jüngst („Moralkeule“ Auschwitz und Erinnerungskultur, Ulm 2019) daran erinnert, dass die AfD gar kein neues, extremistisches Gedankengut in den politischen Betrieb einführt, sondern dass hier ganz entschieden von den etablierten Parteien vorgearbeitet wurde. Die AfD präsentiert bloß allgemein anerkannte demokratische Topoi in einer (sprachlich) radikalisierten Variante und spiegelt sie an ihre Urheber im Protestmodus zurück.
Eine wichtige Etappe war Martin Walsers berühmte Paulskirchen-Rede aus dem Jahr 1998, die die Klagen über die KZ-„Moralkeule“ und die „Monumentalisierung der Schande“ durch das Berliner Holocaust-Mahnmal salonfähig machte. Mit den Worten des damaligen Bundeskanzlers Schröder: Ein Schriftsteller könne eben sagen, was „ein deutscher Bundeskanzler nicht sagen darf.“ Dabei war die Pose der Zurückhaltung geheuchelt, denn die rotgrüne Regierungserklärung sprach selber vom „Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muss“. Der Regierungssprecher erläuterte das damals so: Im Umgang mit der Geschichte sei man unter Rotgrün „nicht so verzagt“, Deutschland lasse sich „nicht mehr mit dem schlechten Gewissen traktieren.“
Die Normalität einer Nation, die mit der politischen Büßerrolle als Weltkriegsverlierer und ehemaliger Unrechtsstaat abschließt, wird seit der Wiedervereinigung dadurch bestimmt, dass man nicht aufhört, sich zu erinnern. Man macht daraus ein politisches Ritual. Die neudeutsche Unverzagtheit, beim damaligen Bundespräsidenten Herzog als „Unverkrampftheit“ vorgetragen, behält die Gedenkroutine bei, eliminiert die „singulären“ deutschen Untaten nicht aus der Erinnerungskultur, sondern nutzt sie als Ausweis einer moralischen Läuterung, was Schröder und Co. seinerzeit auch gleich einbrachten, um ihre Beteiligung am Kosovokrieg zu legitimieren. Seitdem gilt die deutsche Berufung auf Auschwitz – bis hin zur jüngsten „Hunnenrede“ der deutschen „Verteidigungs“-Ministerin – als Gütesiegel einer Nation, die weiß, wovon sie redet, wenn sie „Verantwortung“ auf dem Globus übernehmen will.
Pro bono – contra malum
Die vorherrschende NS-Vergangenheitsbewältigung historisiert den Faschismus und ist damit gerade nicht „Schuldkult“, der die Nation in ihren gegenwärtigen Aktivitäten hemmt, sondern Entschuldungskult. Sie dokumentiert die definitive Wandlung des heutigen Deutschlands, das – moralisch und militärisch – ins Lager der Sieger gewechselt ist und das sich – da es schon alles selber gebüßt hat – von keinem ausländischen Politiker mehr mit der unrühmlichen Vergangenheit „traktieren“ lassen muss. Im vereinten Deutschland geht das dann in den offiziell angesagten antitotalitären Konsens ein: Im Rückblick kann sich das deutsche Volk diverser Diktatur- und Katastrophenerfahrungen vergewissern, die ihm unfähige, schlafwandelnde oder einfach böse Politiker (gerne auch Größen- oder sonstwie Wahnsinnige) bereiteten, womit die heute amtierenden Staatsmänner und, nicht zu vergessen, -frauen schon einmal grundsätzlich an Vertrauen gewonnen haben sollen.
Die politisch perfide, wissenschaftlich unhaltbare und für die historisch-politische Bildung unproduktive Gleichsetzung von Drittem Reich und DDR – die dann in der Extremismustheorie mit weiteren antidemokratischen Schreckensbildern angereichert wird – hat auf jeden Fall den Nutzen, dass das heutige demokratische Herrschaftssystem in Deutschland, dem politologisch versierte Beobachter bei anderer Gelegenheit gerne die Diagnose „Postdemokratie“ ausstellen, als das prinzipiell Gute im Verhältnis zu sonstwo oder früher anzutreffenden Regimen von Völkermördern und Despoten erscheint. So führt die Gedenkkultur letztlich zu einem nationalen Selbstbewusstsein, auf dem die heutige AfD-Propaganda bestens aufbauen kann.
Wenn man – wie der Bundespräsident – die Überwindung von Nationalismus und Rassismus als Kampf gegen „das Böse“ mystifiziert, also daraus ein ewig-strebendes Bemühen macht, kann sich die AfD dem ohne Weiteres anschließen. Denn eins wissen deren Islamkritiker: Wo zwei oder drei Orientalen im Namen Allahs versammelt sind, da ist das Böse mitten unter ihnen. Und so betonten die Alternativdeutschen gleich die unbedingte Israel-Solidarität und forderten die Bundesregierung auf, „die Appeasement-Politik gegenüber dem Iran zu ändern“, also einen Kriegskurs einzuschlagen (AfD-kompakt, 27.1.20).
Die FAZ (27.1.20) zog die Nutzanwendung für den Antifaschismus allgemein: Man hat sich das Böse vorzuknöpfen! Dass die Täter damals auf „gesellschaftlichen Druck“ hin handelten, der möglicherweise „mit dem Kapitalismus zusammenhing“, wie Adorno in seinem berühmten Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ behauptete, sei völlig abwegig: Was heute fehlt, ist mehr Herzens- und Gewissensbildung. „Gepriesen sei der Herr“, wie Steinmeier seine Rede begann, letztlich hilft nur beten. Meinung
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Schlüssige Erklärungsmodelle für die „Psychistorie“ der Deutschen kamen letztes Jahr von Sven Fuchs („Die Kindheit ist politisch!) und von Herbert Renz-Polster (Erziehung prägt Gesinnung) – und bereits vor rund 70 Jahren von Adorno / Fromm (autoritärer Charakter – der wohl nicht mehr so existiert wie damals). Es geht um Erziehung! MfG K. Stickler