„Bröckelnde Amnesie“
Hilfe, die Weißen kommen!
Ende 2019 kündigte Ruprecht Polenz, Sondergesandter der Bundesregierung für die deutsch-namibischen Beziehungen, nach langen Verhandlungen einen „Pakt“ an, auf dessen Grundlage eine „Wiedergutmachung“ für den Völkermord an Herero und Nama geregelt werden könnte, sollte, müsste…
Von Johannes Schillo Montag, 10.02.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.02.2020, 11:09 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Die Gräueltaten deutscher Kolonialtruppen an den beiden Volksgruppen in Deutsch-Südwestafrika Anfang des 20. Jahrhunderts – übrigens nicht die einzigen Massaker in der vergleichsweise kurzen deutschen Kolonialgeschichte – werden erst seit 2015 von der Bundesregierung als Völkermord bezeichnet. Eine offizielle Entschuldigung von deutscher Seite steht jedoch noch aus. Deshalb fragte die Wochenzeitung „Das Parlament“ (Nr. 2-3/2020) den grünen Bundestagsabgeordneten Ottmar von Holtz, warum sich die deutsche Regierung in der Sache so schwertut. „Das wüsste ich auch gern“, war die prompte Antwort, verbunden mit der Aufforderung, die Gewalttaten endlich offiziell als Völkermord anzuerkennen und dazu im Bundestag eine Resolution zu verabschieden. „In einem zweiten Schritt sollte die Bundeskanzlerin oder der Bundespräsident die Angehörigen der Opfer um Entschuldigung bitten.“ Wiedergutmachung wäre dann der dritte.
Glücklicherweise gibt das deutsche Parlament auch noch „Das Parlament“ heraus, sodass man in der aktuellen Ausgabe (fast) alles über die Untaten des wilhelminischen Imperialismus, die neuerdings „bröckelnde Amnesie“ – Überschrift: „Langsam stellt sich Deutschland dem Schrecken seines kolonialen Erbes“ – und die ach so schwierige Wiedergutmachung erfahren kann. Deutschland erbringt eben in Sachen Vergangenheitsbewältigung Bestleistungen! Man denke nur, jetzt ist es gerade einmal hundert Jahre her und schon stellt sich die Nation, die mittlerweile überall auf dem Globus „Verantwortung“ übernehmen will bzw. muss, ihren früheren Schandtaten und bekennt sich irgendwie dazu, dass eine Wiedergutmachung erfolgen müsste. Vielleicht gibt man demnächst geraubte Kunstschätze zurück? Aber haben die da unten überhaupt anständige Museen, in denen man die Bilder aufhängen kann? Und wäre eine solche Rückgabe, auch noch mit eigenem Restitutionsgesetz, nicht ein Anreiz für weitere Völkerschaften oder Vorbesitzer, die hiesigen Museums-Depots zu plündern? Alles sehr schwierig!
Mit Trägern und Askari…
MdB von Holtz, Obmann seiner Partei im Entwicklungsausschuss, ist hier natürlich ein mutiger Vorkämpfer – vor allem, wenn man sieht, was sich sonst noch im Bundestag tut. „Die Bilanz des deutschen Kolonialismus – Warum sich die Deutschen nicht für die Kolonialzeit entschuldigen müssen und erst recht nicht dafür bezahlen müssen!“ hieß z.B. ein Vortrag von Professor Bruce Gilley in Berlin. Dazu hatte im Dezember 2019 die AfD in ihren Fraktionssaal „alle MdBs, Referenten, Mitarbeiter und Presse“ eingeladen. Die Hauptbotschaft: Nach dem Ende der Besetzung durch die Kolonialherren hätten sich dortige Länder eher zu einer „Kloake menschlichen Leids“ entwickelt. Die Schlussfolgerung: Der Westen müsse eine abermalige Kolonialisierung der afrikanischen Länder in Erwägung ziehen, „vielleicht sollten die Belgier nach Kongo zurückkehren“, wie Gilley in einem Aufsatz schrieb, „100 Jahre des Desasters sind genug.“ (www.epochtimes.de, 28.11.19) „Danke für die Unterdrückung!“ nannte die FAZ das Fazit des Vortrags (28.11.19).
Bartholomäus Grill, langjähriger Afrika-Korrespondent des „Spiegel“, hat 2019 das Buch „Wir Herrenmenschen – Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“ veröffentlicht, das an die europäische Welteroberung und den deutschen Beitrag erinnert – übrigens nicht die erste Aufklärungsschrift dieser Art. Vor 50 Jahren legte bereits Grills Kollege Gert von Paczensky seine umfangreiche Abrechnung mit der europäischen Kolonialherrschaft vor, die später den Titel „Die Weißen kommen“ erhielt, also den Schreckensruf bekannt machte, den im 19. Jahrhundert Millionen Menschen in Übersee kannten. Man sieht, wie die Aufarbeitung seit einem halben Jahrhundert langsam Fahrt aufnimmt!
Insofern ist Grills Feststellung (im „Parlament“), dass wir „erst in jüngster Zeit beginnen, die kollektive Amnesie zu überwinden“, auch von einer Art Amnesie getragen. Recht hat der Experte mit seiner Feststellung, dass heute Fotos von Afrikanern, die zu Tode verängstigt auf überfüllten Schiffen im Mittelmeer dahintreiben, bei vielen Deutschen oft nur noch Furcht und Abscheu auslösen. Wenn der Mob, wie in Dresden bei einer fremdenfeindlichen Demonstration geschehen, als Reaktion auf Fernsehbilder von in Seenot geratenen Migranten „Absaufen! Absaufen!“ skandiert, dann ist das eine Dehumanisierung wie in der Epoche des Kolonialismus. Zudem eine groteske Umkehrung der Weltlage und ihrer Gewaltverhältnisse – mit dem Effekt, dass sich der weiße Mann (und nicht zu vergessen: seine weiße Frau) durch eine schwarze Flut überwältigt sieht. Aber muss man sich das so erklären, dass rassistische Weltbilder, die seit Kaiser Wilhelm immer da waren, jetzt wieder „hemmungslos aufbrechen“? Sozusagen als Wiederkehr des Verdrängten?
…Heia, heia, Safari
An anderer Stelle tut sich das deutsche Volk zwar auch mit der Vergangenheitsbewältigung schwer, aber das weiß mittlerweile das letzte AfD-Mitglied: Um den Holocaust kommt man als Deutscher nicht herum. Verdrängen geht nicht, Leugnen steht unter Strafe, also muss man mit irgendwelchen Tricks eine Relativierung versuchen, die Grenzen des Sagbaren verschieben oder sich mit indirekter Rede behelfen. Dass der deutsche Massenmord in Afrika fast vollständig aus dem Bewusstsein verschwunden ist, kann also nicht auf eine – sozialpsychologisch begründete – Schuldabwehr zurückgehen. Hier ist zunächst an die ganz simple Tatsache zu erinnern, dass in dieser Hinsicht eben keine spezielle Erinnerungskultur installiert wurde.
Deutschland verlor 1919 seine Kolonien. Sie gingen in den Besitz anderer Kolonialmächte über. Ein besonderes Unrecht war also vom damaligen Siegerstandpunkt aus nicht zu beklagen. Anders nach dem nächsten großen Völkermorden, als der Weltkriegsverlierer Deutschland 1945 eine definitive Absage an sein „verbrecherisches“ Vorgängerregime abzuliefern und in politischer Kultur wie Volkserziehung glaubhaft zu machen hatte. Dem kam der Adenauerstaat – wenn auch widerwillig – nach, denn nur so ging der Aufstieg einer europäischen Mittelmacht zu alter Größe.
Vielleicht sollte man sich eher solchen Interessenlagen zuwenden, um die bröckelnde Amnesie zu erklären. Heute ist Afrika neu im Visier, „übergeordnete Interessen prägen das Verhältnis Deutschlands zu seinen Ex-Kolonien in Afrika“, hieß es zur letzten, dritten Afrikakonferenz im Bundeskanzleramt. „Wir sind uns alle einig, dass Afrika mit seinen mehr als 50 Staaten und einer wachsenden Bevölkerung bei der Lösung globaler Fragen eine wichtige Rolle zukommt“, sagte die Bundeskanzlerin bei der Konferenz Ende 2019. Mit der wachsenden Bevölkerung ist dabei schon ein entscheidender Punkt benannt: Die soll gefälligst in Afrika bleiben, die Staaten haben dafür das Ihre zu tun. Im diplomatischen Verkehr gehört es sich dabei, Respekt vor fremden Mächten zu zeigen, denn man will ja etwas von ihnen. Eine – ganz kostenlose – Entschuldigung macht sich da gut. Bei der materiellen Wiedergutmachung muss man dann allerdings aufpassen: Erst wenn die Leistung der anderen Seite gesichert ist, kann man auch einmal großzügig sein und ein paar Kulturgüter zurückführen. Bis das in trockenen Tüchern ist, geht es eben ganz, ganz langsam. Meinung Politik
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Folgender Beitrag verweist ebenfalls auf die Verdrängung und fehlende
Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/aufarbeitung-des-deutschen-kolonialismus-die-politik.1005.de.html?dram:article_id=468639