Flüchtlingspolitik
Herrschaft des Unrechts an der EU-Außengrenze
Die These vom Rechtsbruch durch die „Grenzöffnung“ 2015 ist das zentrale Narrativ der politischen Rechten. In Wirklichkeit geht es ihnen nicht um Recht und Ordnung. Griechenland zeigt, dass es ihnen darum geht, Rechtsstaat und Menschenrechte aufzuheben.
Von Matthias Lehnert Donnerstag, 12.03.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 11.03.2020, 22:23 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
An der griechisch-türkischen Grenze scheint der Ausnahmezustand zu herrschen: Geflüchtete werden beschossen, mit Tränengas und Schlagstöcken an der Einreise nach Griechenland gehindert. In der Ägäis hindern Beamt*innen der griechischen Küstenwache mit massiver Gewalt Flüchtlingsboote an der Weiterfahrt, am Montag ertrinkt ein Kind von einem kenternden Boot auf dem Weg nach Lesbos. Maskierte Bürgerwehren auf den griechischen Inseln beteiligen sich an der Migrationsabwehr und greifen Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs an. Nachdem die türkische Regierung die Grenzschließung aufgehoben hat, und zahlreiche Menschen regelrecht zur Ausreise zwingen will, sitzen Tausende Geflüchtete zwischen zwei Ländern im Niemandsland, ohne Unterkunft und Versorgung, fest.
Diejenigen Menschen, die die Grenze trotz der vehementen Abschottung passieren, werden von den griechischen Behörden inhaftiert. Am vergangenen Sonntag schließlich setzte die griechische Regierung das Asylrecht aus und will keine Asylanträge mehr annehmen. Die Regierungen der anderen europäischen Länder unterstützen die griechische Regierung in ihrem Vorgehen, die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat zusätzliches Personal in die Region entsandt, um die Behörden vor Ort bei der Grenzsicherung zu unterstützen.
Herrscht an der griechisch-türkischen Grenze ein rechtlicher Ausnahmezustand, der Menschenrechte und rechtsstaatliche Gewährleistungen außer Kraft setzen kann? Die Antwort ist klar: Nein. Die Zustände an der griechisch-türkischen Grenze und auf den Inseln in der nordöstlichen Ägäis sind keine humanitäre Katastrophe, die vom Himmel gefallen ist. Gewalt, pushbacks, Internierungen und elende Zustände in völlig überfüllten Lagern sind menschen- und staatsgemachte Verletzungen fundamentaler Rechte, die durch nichts gerechtfertigt sind.
Aussetzung des Asylrechts
Die Aussetzung des Asylrechts durch die griechische Regierung bedeutet konkret, dass eingereiste Personen von der Grenze aus ohne eine Registrierung direkt in die Türkei abgeschoben werden sollen. Laut der Begründung im griechischen Gesetzesblatt wird diese zunächst für einen Monat befristete Maßnahme mit „besonderen und unvorhergesehenen Ereignissen“ gerechtfertigt, die die Sicherheit des Landes gefährdeten. Das ist schon rein zahlenmäßig eine Dramatisierung, als dass sich nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks derzeit gerade einmal 13.000 Menschen im Grenzgebiet befinden.
Vor allem ist eine Aussetzung rechtlich nicht zulässig: Sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in Art. 33 als auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in Art. 3 formulieren nach einhelliger und unumstrittener Lesart ein Zurückweisungsverbot, soweit eine politische Verfolgung oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen. Diese sogenannten refoulement-Verbote beinhalten ein implizites Verfahrensrecht, um den Schutzbedarf prüfen zu können, verbunden mit dem Recht, bis zu einer Entscheidung im Land verbleiben zu können. Entsprechendes gilt nach Art. 4 und Art. 18 der EU-Grundrechtecharta.
Diese Rechte werden im Unionsrecht konkretisiert durch die Asylverfahrensrichtlinie: Diese Richtlinie gilt für alle Personen, die explizit oder implizit im Hoheitsgebiet eines Staates einschließlich der Grenze und der Hoheitsgewässer (Art. 3 Abs. 1) einen Schutzantrag stellen, und sie verlangt ein ordentliches Verfahren mitsamt einer umfassenden Anhörung zu den Schutzgründen.
Für den örtlichen Anwendungsbereich des refoulements-Verbotes aus der EMRK hat der EGMR überdies in der Hirsi-Entscheidung von 2012 entschieden, dass dieses auch außerhalb des Territoriums gilt, wenn staatliche Behörden eine effektive Kontrolle, also unmittelbare staatliche Gewalt anwenden.
Ausnahmen von der Durchführung eines ordentlichen Prüfverfahrens sind nicht vorgesehen: Die Asylverfahrensrichtlinie sieht allein ein beschleunigtes Verfahren bei Verfahren an der Grenze und bei einer Ankunft einer erheblichen Zahl von Asylantragsteller*innen vor (Art. 43). Diese Fallgestaltungen sehen jedoch nicht die vollständige Außerkraftsetzung des Asylverfahrens vor. Auch können Art. 33 GFK und Art. 3 EMRK nicht per se ausgesetzt werden. Insbesondere gilt die Notstandsklausel nach Art. 15 EMRK gem. Abs. 2 nicht für Art. 3 EMRK, und damit auch nicht für das darin enthaltene refoulement-Verbot.
Ebenfalls nicht einschlägig ist Art. 78 Abs. 3 AEUV: Diese Bestimmung, die von der griechischen Regierung im Zuge der Aussetzung des Asylrechts angeführt worden war, sieht für den Fall eines „plötzlichen Zustroms in einer Notlage“ vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten vor. Die Anwendbarkeit der Norm kann allerdings nicht von der griechischen Regierung ausgelöst, sondern sie muss vom Rat beschlossen werden. Zudem kann auch diese Norm das Asylverfahren nicht in Gänze aussetzen.
Auch kann die Aussetzung des Asylverfahrens auch nicht unter Verweis auf die Türkei als sicherem Drittstaat erfolgen: Die Türkei ist, wie es die Art. 38 und 39 der Asylverfahrensrichtlinie vorsehen, zum einen weder im nationalen Recht noch auf europäischer Ebene als sicherer Drittstaat kategorisiert. Dies wäre zum anderen auch rechtlich nicht möglich, da die GFK in der Türkei für Flüchtlinge aus außereuropäischen Staat rein rechtlich nicht gilt, und außerdem tatsächlich Schutzsuchende in der Türkei kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht und keine Rechte haben, die den Vorgaben der GFK entsprechen, sowie nachweislich Kettenabschiebungen unter anderem nach Syrien und Afghanistan stattfinden.
Implikationen des push-back-Urteils des EGMR
Weder die pushbacks durch unmittelbare staatliche Gewalt an der Landgrenze und in den Gewässern noch die rechtliche Aussetzung des Asylrechts können sich auf die jüngste Entscheidung des EGMR im Verfahren N.D. und N.T gegen Spanien berufen. Mit diesem Hinweis hatte unter anderem der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber, das Vorgehen der griechischen Behörden zu rechtfertigen versucht.
Ein Verweis auf diese Entscheidung, in der es um die Rückschiebung von zwei Personen aus Mali und der Elfenbeinküste aus der spanischen Exklave Melilla nach Marokko ging, verbietet sich aus drei Gründen: Erstens hat sich die Entscheidung allein mit dem Verbot der Kollektivausweisung aus Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls der EMRK beschäftigt und eine Verletzung dieser Bestimmung verneint, hingegen die Geltung des refoulement-Verbotes aus Art. 3 EMRK ausdrücklich bestätigt. Zwar ist die Entscheidung insofern widersprüchlich, als dass unklar bleibt, wie im Fall einer unmittelbaren Zurückweisung ohne Verfahren festgestellt werden kann, ob ein Schutzbedarf nach Art. 3 EMRK besteht. Jedenfalls aber kann die Entscheidung keinesfalls für Zurückweisungen für Schutzsuchende aus Syrien und angesichts der prekären Situation für Geflüchtete in der Türkei für die Praxis der griechischen Behörden herangezogen werden. Zweitens hat der EGMR in der Entscheidung N.D. und N.T. das Verbot der Kollektivausweisung mit der Möglichkeit einer legalen Einreisalternative gerechtfertigt – dies war bereits im Fall der Einreise nach Spanien für die beiden Beschwerdeführer zweifelhaft; kein Zweifel besteht indes, dass für diejenigen Geflüchteten, die sich derzeit an der griechisch-türkischen Grenze befinden, keine andere Möglichkeit einer legalen Einreise und Asylantragstellung – an einem regulären Grenzübergang oder in einer Botschaft – existiert.
Drittens: Der EGMR hat sich naturgemäß allein zur EMRK, nicht hingegen zur Genfer Flüchtlingskonvention geäußert – derweil der UNHCR als maßgebende Instanz für die Interpretation der GFK jüngst und anlässlich der aktuellen Praxis der griechischen Behörden nochmal bestätigt hat, dass die Konvention ausnahmslos gilt und eine Aussetzung und unmittelbare Rückschiebungen ohne jedwedes Verfahren verbietet. Schließlich kann der EGMR ebenso wenig bindende Aussagen über die Einschränkbarkeit der Asylverfahrensrichtlinie treffen.
Der Verweis auf die pushback-Entscheidung besitzt damit zwar kein rechtliches Fundament, er hat aber, wie sogleich zu befürchten war, eine immense Überzeugungskraft im politischen Diskurs zugunsten einer Politik der Abschottung.
Schließlich ist auch die nunmehr massenhaft praktizierte unmittelbare Inhaftierung von Schutzsuchenden unter Verweis auf eine illegale Einreise durch die griechischen Behörden nicht vom geltenden Recht gedeckt: Art. 26 der Asylverfahrensrichtlinie verbietet eine Inhaftierung von Schutzsuchenden infolge der Antragstellung, und Art. 31 GFK untersagt eine Bestrafung von Flüchtlingen wegen einer unrechtmäßigen Einreise.
Wiederherstellung von Recht und Ordnung?
Die derzeit viel beschworene und geforderte Wiederherstellung von Recht und Ordnung ist menschenrechtlich mindestens ebenso problematisch. Insbesondere ist der durch die türkische Regierung nun faktisch aufgekündigte Deal zwischen der Türkei und der EU rechtsstaatlich und menschenrechtlich keinesfalls einwandfrei. Der rechtlich zunächst unverbindliche Deal beruht im Wesentlichen auf zwei Grundgedanken für das Asylverfahren in Griechenland: erstens die zwar nicht rechtlich ausdrückliche, aber faktisch praktizierte Klassifikation der Türkei als sicherem Drittstaat; und darauf beruhend ein beschleunigtes und im Grundsatz auf eine reine Zulässigkeitsprüfung beschränktes Verfahren ohne inhaltliche Prüfung des Schutzgesuchs – was im Ergebnis eine rechtsstaatswidrige Verkürzung des Asylverfahren bedeutet. Zweitens: der grundsätzliche Verbleib der Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln, was vorhersehbar zu überfüllten Lagern und elenden und unmenschlichen Bedingungen geführt hat. Hinzu kommt, dass das griechische Asylsystem ebenso vorhersehbar mit der Bewältigung der Asylverfahren heillos überfordert war und weiterhin ist.
Es ist offensichtlich, dass diejenigen politischen Kräfte, die nun neue Verhandlungen mit der Türkei mit dem Ziel einer Neuauflage des Abkommens fordern, an diesen Grundgedanken festhalten wollen. Ein Abkommen mit der Türkei ist aus Sicht der EU in der gegenwärtigen Formation nur dann zielführend, wenn es die Externalisierung des Flüchtlingsschutzes zum Gegenstand hat.
Schließung der deutschen Grenze
Vorauseilend wird mit Blick auf eine mögliche Weiterwanderung von Geflüchteten nach Deutschland daneben einmal mehr eine Schließung der deutschen Grenze gegenüber Schutzsuchenden gefordert. Auch diese Forderung mag politisch populär sein, eine Abweisung an der deutschen, innereuropäischen Grenze ohne ein Verfahren ist und bleibt allerdings rechtswidrig und verstößt gegen europäisches Recht:
Wird eine schutzsuchende Person aufgegriffen und hat also explizit oder implizit einen Asylantrag gegenüber deutschen Behörden gestellt, unterliegt das durchzuführende Verfahren der Dublin III-VO. Dies bedeutet, dass eine Befragung stattfinden und in einem ordentlichen Verfahren mitsamt einer Rechtschutzmöglichkeit der für das Asylverfahren zuständige Mitgliedstaat ermittelt werden muss. Diese Regelungen können entsprechend des Anwendungsvorrangs des Europarechts nicht umgangen werden. Allein eine ausnahmsweise Durchführung von Grenzkontrollen ist nach den Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex‘ möglich. Diese Regelungen ermöglichen aber ebenso wenig eine Nichtannahme eines Asylgesuchs.
Aufnahme von Schutzsuchenden durch andere europäische Staaten
Andererseits existieren verschiedene rechtliche Instrumente, die eine Übernahme von Schutzsuchenden durch andere europäische Staaten ermöglichen könnten. Das Selbsteintrittsrecht der Dublin III-VO, welches bereits 2015 als Grundlage für die Aufnahme von Geflüchteten vor allem über Ungarn kommend diente, bietet die Möglichkeit, die übliche Zuständigkeit eines Mitgliedsstaates, in diesem Fall Griechenlands als Ersteinreisestaat, zu umgehen. Diese Möglichkeit eines sog. relocation kann von jedem Mitgliedstaat im Alleingang und ohne Abstimmung mit den anderen Mitgliedstaaten praktiziert werden.
Info: Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht im Verfassungsblog und wird hier mit freundlicher Erlaubnis auch MiGAZIN-Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht.
Ebenfalls ohne eine europäische Koordination können Geflüchtete im Wege von humanitären Aufnahmeprogrammen auf der Grundlage von § 23 Abs. 2 AufenthG aufgenommen werden. Dadurch kann an die Aufnahmebereitschaft zahlreicher Kommunen angeknüpft werden, die allein durch das Bundesinnenministerium bislang blockiert wird.
Eine europäische Lösung bietet daneben die sogenannte Massenzustromrichtlinie. Hinter diesem hässlich geframten Regularium, das 2001 noch unter dem Eindruck der Balkankriege verabschiedet wurde, verbirgt sich die Möglichkeit, in einem vergleichsweise unbürokratischen Verfahren Menschen in größerer Anzahl auf die Mitgliedstaaten zu verteilen und ihnen, ohne Asylverfahren, ein befristete Aufenthaltsrecht zu erteilen. Das Verfahren hat freilich große Tücken, die gegenwärtig an die Grenzen der Realität stoßen dürften: Der sog. „Massenzustrom“ muss durch den Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit festgestellt werden, und die Mitgliedstaaten müssen im Zuge des Beschlusses freiwillig erklären, wie viele Personen sie aufnehmen wollen.
Rechtsbruch 2020
Die – vielfach widerlegte – These vom Rechtsbruch durch die angebliche Grenzöffnung 2015 war und ist das zentrale Narrativ der politischen Rechten. Die Analyse der gegenwärtigen Praxis an den Außengrenzen einerseits und der Instrumentarien zur Aufnahme von Geflüchteten andererseits verdeutlichen hingegen: Die Abschottung an den Außengrenzen und die Politik der Migrationsabwehr bewegt sich selbst in einem rechtsfreien Raum. Die hegemoniale Forderung nach einer Herstellung von Recht und Ordnung ist tatsächlich die Forderung, den Rechtsstaat aufzuheben und die Menschenrechte vollends zu missachten. Auf der anderen Seite kann und darf eine emanzipatorische Politik zugunsten von Geflüchteten nicht allein auf humanitäre Grundprinzipien verweisen, sondern sie muss selbst mit der starken Kraft des Rechts argumentieren. Recht und Ordnung muss vor allem heißen: den Rechtsstaat an den Außengrenzen gewährleisten und Menschenrechte schützen. Meinung
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