Europäischer Gerichtshof
Ungarn, Polen und Tschechien hätten Flüchtlinge aufnehmen müssen
Es war ein Hauptzankapfel in der sogenannten Flüchtlingskrise: die Umverteilung Zehntausender Asylbewerber aus Griechenland und Italien. Jetzt hat die Justiz gegen die geurteilt, die nicht mitgemacht haben. Direkte Folgen hat die Entscheidung aber nicht.
Von Phillipp Saure Freitag, 03.04.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 26.01.2021, 14:44 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Polen, Ungarn und Tschechien haben EU-Recht gebrochen, als sie die Übernahme von Asylbewerbern aus Griechenland und Italien verweigerten. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag in Luxemburg und gab damit möglicherweise ein Signal zur anstehenden Reform des europäischen Asylsystems. Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von einer „Anleitung“ für die Zukunft, während aus den drei betroffenen Hauptstädten andere Töne verlauteten. (AZ: C-715/17, C-718/17 und C-719/17)
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung hatten die EU-Innenminister im September 2015 per Mehrheitsvotum zwei Beschlüsse gefällt. Damit sollten 160.000 Asylbewerber aus Italien und Griechenland in die übrigen EU-Staaten umgesiedelt werden, um die Länder an den Außengrenzen zu entlasten. Am Ende wurden laut EU-Kommission aus verschiedenen Gründen nur knapp 35.000 Menschen umverteilt.
Polen und Ungarn nahmen laut EuGH keine der ihnen zugeteilten Menschen auf, Tschechien lediglich zwölf. Die EU-Kommission verklagte die Länder darum vor dem EuGH. Vor Gericht führten die Osteuropäer eine Reihe von Argumenten ins Feld. Ungarn und Polen machten insbesondere die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit geltend. Sie seien durch die Aufnahmeregelung gefährdet. Tschechien brachte laut EuGH vor, die Umverteilung sei für die Bewältigung der Migration zu unwirksam. Alle drei bestritten die Klagen ferner aus formalen Gründen.
Urteil ohne direkte Folgen
Der EuGH urteilte nun anders. Er verwies darauf, dass die Beschlüsse von 2015 durchaus erlaubten, öffentliche Ordnung und innere Sicherheit zu gewährleisten. Jedes Land hätte sich dafür nach Einzelfallprüfungen gegen die Aufnahme von als Risiko beurteilten Asylbewerbern sperren können. Auch das Argument mangelnder Wirksamkeit wies der EuGH ab. Wenn sich ein Land auf seine einseitige Beurteilung stützen könnte, um gemeinsame Beschlüsse nicht umzusetzen, würde das die Solidarität und Rechtsverbindlichkeit beeinträchtigen.
Direkte Folgen wie Geldbußen oder eine unmittelbare Verpflichtung für die Aufnahme von Flüchtlingen – die Beschlüsse sind inzwischen außer Kraft – besitzt das Urteil nicht. Es könnte aber Signalwirkung haben. Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher Linksfraktion im Bundestag, erklärt, warum das Urteil ohne praktische Folgen bleibt: Der zugrundeliegende Beschluss des Rates zur Umverteilung Schutzsuchender wurde inzwischen aufgehoben – und damit auch die Möglichkeit zur Verhängung von Zwangsgeldern.
Von der Leyen: Anleitung für die Zukunft
Kommissionschefin von der Leyen sagte in Brüssel, das Urteil „bezieht sich auf die Vergangenheit, aber es wird uns Anleitung für die Zukunft geben“. Sie will nach Ostern ihre Pläne zur Reform des EU-Asylrechts vorstellen. Die EuGH-Entscheidung sei in Hinsicht „auf die Verantwortung der Mitgliedstaaten sehr deutlich“. Ob das heißt, dass von der Leyen eine allgemeine Aufnahmeverpflichtung für Flüchtlinge vorschlagen will, ist aber unklar.
Die Europa-Abgeordnete Cornelia Ernst (Linke) forderte genau dies. Sie verlangte mit Blick auf den EuGH-Spruch nun ein System, „das alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich an der Aufnahme von Asylsuchenden beteiligt“. Ihre Kollegin Birgit Sippel (SPD) erklärte: „Das ist ein starkes Signal dafür, dass europäische Migrations- und Asylpolitik auf Solidarität und Zusammenarbeit basieren muss.“ Der Grüne Erik Marquardt nannte das Urteil „wegweisend für die kommenden Debatten um das Europäische Asylsystem“.
Ungarn, Polen, Tschechien wiegeln ab
Andere Töne kamen aus Warschau, Budapest und Prag. Das Urteil habe „keine weiteren Folgen“, erklärte Ungarns Justizministerin Judit Varga. „Die Prozedur hat dem Asylsystem der Europäischen Union sogar geschadet, weil es nicht die obligatorische Umverteilung von Asylbewerbern ist, die die Migrationskrise lösen wird“, fügte sie hinzu. Varga kritisierte ferner, dass nur drei Staaten vor den EuGH gebracht wurden, obwohl fast keiner die Beschlüsse voll umgesetzt habe.
Das Urteil werde „keine praktische Bedeutung haben“, teilte auch der polnische Regierungssprecher Piotr Muller laut EU-Vertretung des Landes mit. Polen respektiert demnach zwar den Richterspruch. „Allerdings war die Weigerung, den Mechanismus zu erfüllen, von der Notwendigkeit diktiert, die polnische Sicherheit zu schützen und gegen unkontrollierte Migration zu verteidigen“, erklärte Muller. Auch Tschechien machte Medienberichten zufolge klar, dass das Urteil keine Konsequenzen haben werde. (epd/mig) Leitartikel Recht
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