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Bellinda Bartolucci, Pro Asyl, Flüchtlinge, Flüchtlingspolitik, Asyl
Bellinda Bartolucci ist Leiterin Rechtspolitik bei Pro Asyl © privat, Zeichnung MiG

Frist-Aussetzung in der Corona-Krise

Bamf verursacht erst Chaos, dann Klagewelle

Nach der Aussetzung von Dublin-Überstellungen kommt das Bamf mit einem Trick um die Ecke: der Aussetzung der Überstellungsfrist. So soll verhindert werden, dass Asylsuchende in Deutschland ein Asylverfahren bekommen. Damit verursacht das Bamf Chaos.

Von und Dienstag, 14.04.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.04.2020, 13:54 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Am 18. März 2020 beschloss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), aufgrund der Corona-Pandemie keine Dublin-Überstellungen mehr durchzuführen. Angesichts der dramatischen gesundheitlichen Lage in vielen Mitgliedstaaten der EU und um das Corona-Virus nicht weiterzuverbreiten eine richtige Entscheidung. Italien zum Beispiel, das aktuell mit am härtesten von der Corona-Krise getroffene Land der Welt, ist normalerweise mit einem Drittel der Überstellungen Hauptziel von Dublin-Überstellungen aus Deutschland.

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Keine Überstellungen, aber bloß nicht für die Asylverfahren zuständig werden

Scheinbar will das Bundesamt aber alles tun um zu verhindern, dass Asylsuchende aufgrund von Fristablauf in Deutschland bleiben könnten. Zum Hintergrund: Eines der Grundprinzipien der europäischen Dublin-III-Verordnung ist, dass eine Person in dem aktuellen Mitgliedstaat bleiben darf und dort ihr Asylverfahren durchlaufen kann, wenn sie nicht innerhalb von in der Regel sechs Monaten in den Ersteinreisestaat überstellt wird. Die Verordnung ist am sog. Beschleunigungsgebot ausgerichtet, um für Betroffene nach einer bestimmten Zeit Rechtssicherheit zu schaffen.

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Insgesamt findet nur in weniger als einem Drittel der Dublin-Fälle (28%) eine Überstellung aus Deutschland in einen anderen Mitgliedstaat statt. Dies kann verschiedene Gründe haben, zum Beispiel wenn Deutschland sich aus humanitären Gründen für zuständig erklärt (Selbsteintritt) – wobei das mittlerweile immer seltener vorkommt und in 2019 nur in 3.070 Fällen geschehen ist (2018 wurde noch in 7.809 Fällen das Selbsteintrittsrecht genutzt). Oftmals sind es auch die Gerichte, die aus rechtlichen Gründen im Eilverfahren eine Überstellung stoppen (Zahlen dazu gibt es hier). Statistisch wird nicht erfasst, wie häufig Deutschland aufgrund von Fristablauf für einen Asylantrag zuständig wird, aber diese Zahl dürfte erheblich sein.

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Anstatt während der Corona-Krise Fälle durch Selbsteintritt oder zumindest durch Fristablauf sich von selbst erledigen zu lassen, hat das Bundesamt nun die Aussetzung der Frist aus dem Hut gezaubert – dabei beruft sich das BAMF auf § 80 Abs. 4 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung. Beratungsstrukturen sind in Aufruhr: Bislang war der Versuch einer solchen Aussetzung in Dublin-Verfahren bis auf wenige Ausnahmefälle nicht bekannt.

Zermürbende Hängepartie widerspricht Europarecht

In dem Schreiben des BAMF, das aktuell an alle Dublin-Fälle verschickt wird, wird angeführt, dass aufgrund der Corona-Krise Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten seien und die Überstellung ausgesetzt ist. Zudem wird die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach den beiden oben genannten Regelungen angekündigt. Nach einer solchen Aussetzung soll die Überstellungsfrist komplett neu zu laufen beginnen. Wenn also jemand eigentlich schon vier Monate der Frist hinter sich hat, hat das Bundesamt nach Ende der Aussetzung also erneut sechs Monate Zeit, um die Rückführung zu organisieren. Für die Betroffenen eine zermürbende Hängepartie, die so noch mehr in die Länge gezogen wird.

Das widerspricht auch dem der Dublin-III-Verordnung zu Grunde liegenden Beschleunigungsgebot, nach der die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats und damit auch der Zugang zum inhaltlichen Asylverfahren schnell erfolgen sollen. Denn grundsätzliches Ziel der Dublin-Verordnung ist es, zügig für jede*n Asylsuchende*n einen zuständigen Mitgliedstaat zu definieren und so das Phänomen der „refugees in orbit“ (Flüchtlinge ohne zuständigen Staat) zu verhindern (siehe dazu Erwägungsgrund 5 der Dublin-Verordnung).

Ohne Rechtsgrundlage – Bamf verschickt Aussetzung an alle Dublin-Fälle

Das Bundesamt agiert offensichtlich nach dem Gießkannenprinzip und verschickt an alle Personen, bei denen ein Dublin-Verfahren läuft oder irgendwann mal lief, das bereits genannte Schreiben und damit auch an Personen, bei denen kein Klageverfahren läuft oder ein Eilantrag schon gewonnen wurde – Rechtsgrundlage egal. Gemäß der oben genannten Verwaltungsgerichtsordnung ist die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nämlich nur dann rechtlich möglich, wenn der Dublin-Bescheid noch nicht bestandskräftig ist, d.h. wenn noch fristgerecht Klage erhoben werden kann oder eben schon erhoben wurde. Auch die Regelung in der Dublin-III-Verordnung, auf die sich das Bundesamt beruft, bezieht sich auf anhängige Klageverfahren.

Diese neue Praxis kommt in einer Zeit, in der Beratungsstrukturen ausgedünnt sind. Rechtsanwält*innen arbeiten vielfach von zu Hause und versuchen teils neben Kinderbetreuung noch so gut wie möglich ihre Mandant*innen zu vertreten. Essentielle Gespräche mit den Betroffenen sind nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt möglich. Rechtsberatungsstellen machen zwar oft noch Telefonberatung, aber auch bei ihnen sind die Kapazitäten und Zugänge zu den Betroffenen extrem begrenzt.

Das BAMF erkennt diese Problematik selbst an und hat deswegen angekündigt, keine ablehnenden Bescheide mehr zu verschicken. Bei Dublin-Verfahren wird dies aber plötzlich nicht mehr berücksichtigt und Bescheide auch weiterhin verschickt. Die neue Regelung ist dabei eine zusätzliche Herausforderung für Berater*innen, da sie den meisten so noch nicht bekannt ist und die rechtliche Unterstützung der Expert*innen ebenfalls durch die derzeitigen Umstände leidet.

PRO ASYL und Equal Rights Beyond Borders haben deswegen erste Beratungshinweise zur Einordnung der neuen Vorgehensweise und zur Erstorientierung veröffentlicht. Im Einzelfall – insbesondere zur Frage einer Klagerücknahme – ist aber die Beratung durch fachkundige Rechtsanwält*innen unerlässlich.

Auch die Verwaltungsgerichte sehen sich unnötiger zusätzlicher Arbeit ausgesetzt. Teils verschicken sie Hinweise an das Bamf, dass die Aussetzung bei bereits gewonnenem Eilverfahren nicht greift – Tätigkeiten, die nicht sein müssten in einer herausfordernden Zeit. Wenn das Bundesamt nicht noch von seiner aktuellen Linie abweicht, dürften auch jetzt neu entstehende Praxis- und Rechtsfragen die Verwaltungsgerichte noch länger beschäftigen. Während die Politik oft über die Überlastung der Verwaltungsgerichte klagt, verursacht eine Bundesbehörde sehendes Auge eine neue Klagewelle.

Nötig wäre Selbsteintritt, mindestens aber Fristweiterlauf

Die aktuelle Lage macht erforderlich, dass das Bundesamt sich in Dublin-Fällen sich für die Asylverfahren als zuständig erklärt. Schließlich sieht die Verordnung selbst für besondere Fälle den sog. Selbsteintritt vor, Deutschland hat also auch rechtlich die Möglichkeit – und Pflicht –, hier für Rechtssicherheit zu sorgen.

Denn wirklich absehbar ist es schließlich nicht, wie sich die Corona-Pandemie weiterentwickelt und ab wann wieder in einen Mitgliedstaat wie Italien überstellt werden kann. Damit verzögert sich auch die inhaltliche Bearbeitung eines Asylantrags auf den Sankt Nimmerleinstag – und das eigentliche Ziel der Dublin-Verordnung, einen zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen und „refugees in orbit“ zu verhindern, wird unterlaufen. Unter den derzeitigen Umständen verursacht dieses Verhalten des BAMF zusätzlich Ängste bei den Betroffenen. Deswegen sollte jetzt für alle Beteiligte Klarheit geschaffen werden und diese gerade nicht noch verzögert werden.

Mindestens sollten bei Überstellungsverfahren aber die Fristen weiterlaufen. Aus den gleichen Gründen, aus denen das Bundesamt ablehnende Bescheide nicht mehr verschickt, sollte dies auch bei neuen Dublin-Bescheiden der Fall sein – denn eine Rechtsberatung ist aktuell nur schwierig zu organisieren. Meinung

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