Heute vor 75 Jahren
Kindheit neben dem KZ
Als Kind lebte Fritz Koeniger direkt neben dem berüchtigten NS-Konzentrationslager in Dachau. Er sah ausgemergelte Häftlinge, die aus den Luken von Waggons heraus versuchten, mit Blechnäpfen nach Schnee zu angeln - so durstig waren sie.
Von Susanne Schröder Mittwoch, 29.04.2020, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 28.04.2020, 19:30 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Eine Gießkanne, eine selbstgenähte Fahne, ein Kirchenliedblatt: Der Tag der Befreiung des KZ Dachau ist für Fritz Koeniger untrennbar mit diesen drei Dingen verbunden. Als Zehnjähriger erlebte er vor 75 Jahren hautnah die Ankunft der US-Truppen. Mit seinen Eltern und sechs Geschwistern wohnte der Junge seit 1939 im Werksgebäude der Amperwerke, für die sein Vater arbeitete – am Westrand des KZ Dachau, rechterhand der Lagerbereich der SS-Leute, linkerhand die Gleise, auf denen die Züge mit Deportierten zur Rampe rollten.
Das Lager prägte Fritz Koenigers Kindheit. Täglich fuhr er mit dem Schulbus, der vor allem die Kinder der SS-Familien transportierte, quer über das Lager und sah die Häftlinge in ihrer schlechten Kleidung bei Regen und Hitze schuften. „Und wenn wir sonntags von der Messe nach Hause kamen, standen oft Züge auf den Gleisen“, erinnert sich der 85-Jährige. Durch die Luken der Waggons habe er die ausgemergelten Gestalten gesehen. „Oft ließen sie einen Blechnapf, mit einem Stein beschwert, an einer Schnur hinunter und versuchten, Schnee vom Boden zu holen“, beschreibt Koeniger das Bild, das sich in seiner Seele eingebrannt hat. Er habe immer den Impuls gehabt, hinzulaufen und die Büchse mit Schnee zu füllen. „Aber ich habe mich nicht getraut – es standen ja überall SS-Posten“, sagt er.
Koenigers Vater war kein Parteimitglied. Er sei gläubiger Katholik und beim Kolpingwerk engagiert gewesen, dazu die sieben Kinder, „das war wohl ein gewisser Schutz“, sagt der Sohn. Zudem wurde er als Verantwortlicher für die Stromversorgung der Stadt und auch des Lagers Dachau als „kriegswichtig“ eingestuft und musste deshalb nicht an die Front. Seine Eltern hätten das NS-Regime als Unrecht abgelehnt, der Vater hörte zu Hause heimlich den Feindsender BBC und riskierte manchmal eine Essenspende an KZ-Häftlinge.
Den ganzen Tag Wasser getragen
An den 28. April 1945 erinnert sich Fritz Koeniger noch 75 Jahre später, als sei es gestern gewesen. „Wir kamen morgens aus dem Luftschutzkeller in die Wohnung im Dachgeschoss und sahen, dass wieder ein Zug vor dem Haus stand“, berichtet der Zeitzeuge. Der Vater sei hinausgegangen und bleich zurückgekehrt. „Er hat an diesem Tag kaum geredet und den ganzen Tag mit einer Gießkanne Wasser hinausgetragen“, erzählt Fritz Koeniger, der das Geschehen vom Fenster aus verfolgte.
Viel später recherchierte er die Zahlen zu dem berüchtigten „Todeszug“ aus Buchenwald: 4.480 KZ-Häftlinge seien in 45 Waggons in Weimar losgefahren, doch lebend kamen nur 816 an. Ihnen brachte der Vater Wasser. Noch heute hört Fritz Koeniger das Keifen der Hausnachbarn: „‚Der bringt uns noch den Typhus rein‘, haben sie über den Vater geschimpft und angefangen, das Treppenhaus zu schrubben.“ Die Lager-SS befand sich angesichts der anrückenden US-Truppen in Auflösung. Erst um 15 Uhr seien Traktoranhänger, wie immer gezogen von KZ-Häftlingen, geschickt worden, „die die fast Toten, die noch ein bissl gelebt haben, abgeholt haben“.
Der richtige Zeitpunkt
Abends dann habe die Mutter aus weißen Laken eine Fahne genäht und die Eltern hätten diskutiert, wann der richtige Zeitpunkt wäre, sie zu hissen, erinnert sich der Sohn. Nicht zu früh, um nicht von den letzten SS-Leuten erschossen zu werden – und nicht zu spät, bevor die US-Soldaten ankämen. Die Nacht und den halben Sonntag hätten die Hausbewohner im Luftschutzkeller gewartet. Gegen 13 Uhr habe die Mutter den Entschluss gefasst, die Fahne aufzuhängen. „Wir haben solche Angst gehabt, ob sie heil wiederkommt“, erinnert Koeniger sich an sein junges Ich und die kleineren Geschwister.
Am Nachmittag des 29. April dann die Ankunft der Amerikaner, die – von Westen kommend – als erstes auf den Zug voller Leichen stießen. In der Annahme, dass die Amperwerke Teil der Lagerverwaltung seien, stürmten sie das Gebäude, nahmen Koenigers Vater mit und verhörten ihn. „Mein Vater konnte keinen Pass vorzeigen, und sie glaubten ihm nicht, dass er kein SS-Mann sei“, berichtet Fritz Koeniger. So stellten ihn die GIs zu den SS-Leuten, die später beim als „Dachau-Massaker“ bekanntgewordenen Vergeltungsakt erschossen wurden.
Kurz davor…
Doch kurz davor habe ein GI den Vater noch einmal befragt und schließlich dessen Brieftasche untersucht. Dort fand der Soldat ein gefaltetes Liedblatt, das der Vater als eifriger Kirchenchorsänger zum Üben für die Maiandacht bei sich trug: „‚Ein Mutterherz hab ich gefunden‘, dazu die Noten und auf der Vorderseite ein Madonnenbild“, beschreibt Fritz Koeniger. „Da hat der Soldat den Vater auf die andere Seite gestellt“, sagt der alte Herr – und seine Stimme bricht für einen Moment.
Der Krieg und das Lager ließen Fritz Koeniger auch nach 1945 nicht los. Er studierte Sozialarbeit und kümmerte sich in Ingolstadt und Landshut um jene „Displaced Persons“, die der Krieg heimatlos ausgespuckt hatte. Später baute er die Caritas Dachau auf und wurde 1970 zum katholischen Diakon geweiht. An den Jahrestagen der KZ-Befreiung überwältige ihn neben der Erinnerung an das Leid der Häftlinge vor allem die „große Dankbarkeit, dass der Vater wieder heimgekommen ist“, sagt er. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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