Differenzen in Hanau
Rassistischer Anschlag schlägt weiter Wellen
Sechs Monate nach dem Anschlag in Hanau rufen Initiativen bundesweit zu Kundgebungen auf. Aktivisten und Behörden stimmen darin überein, dass die Opfer Hilfe brauchen. In der Bewertung der Konsequenzen aber liegen sie über Kreuz.
Von Jens Bayer-Gimm Mittwoch, 19.08.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.08.2020, 17:02 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Behörden hätten hinsichtlich der Verhinderung der Tat und in der Aufarbeitung versagt, sagt Hagen Kopp. Der Hanauer Flüchtlingsaktivist, Mitbegründer des bundesweiten Netzwerks „kein Mensch ist illegal“, hat mit Mitstreitern die „Initiative 19. Februar Hanau“ gegründet. Am 19. Februar erschoss ein Mann in Hanau aus rassistischer Gesinnung neun Menschen mit ausländischen Wurzeln, bevor er seine Mutter und sich selbst tötete. Tausende gingen daraufhin in der südhessischen Stadt zu Trauermärschen und Kundgebungen gegen Rassismus auf die Straße, fast die gesamte Staatsspitze reiste zur Trauerfeier an.
Sechs Monate danach, an diesem Mittwoch und am Samstag, gedenken bundesweit Initiativen der Opfer rassistischer Anschläge in Deutschland. „Wir fordern eine lückenlose Aufklärung der Tat, damit so etwas nie wieder passiert“, fordert Kopp. Er wirft den Behörden vor, dem Täter noch im August 2019 einen auf Europa erweiterten Waffenschein ausgestellt zu haben. Ein Traktat mit rassistischen Vernichtungsfantasien auf der Website des Täters sei zwei Wochen lang vor der Tat unentdeckt geblieben.
Schwere Vorwürfe gegen die Polizei
In der Tatnacht selbst seien manche Angehörige nicht oder falsch über das Schicksal ihrer Sohnes informiert worden, der Vater der getöteten Frau sei von Polizisten versehentlich selbst mit Gewehren bedroht worden, kritisierte Kopp. Die Veranstalter forderten daher den Rücktritt des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU) und aller Verantwortlicher, die Warnsignale für terroristische Anschläge ignoriert oder verschwiegen hätten.
Die Stadt Hanau will sich die Forderung der Initiative nach einer „Entnazifizierung der Behörden“ nicht zu eigen machen und verweist auf ihre konkrete Hilfe. Die Stadt habe am zweiten Tag nach dem Anschlag drei Beauftragte zur Beratung der Angehörigen der Opfer benannt, erläutert die Magistratssprecherin Güzin Langner. Diese hätten etwa bei den Beerdigungen oder Überführungen in die Türkei geholfen sowie therapeutische Hilfe vermittelt. Auch unterstützten die Beauftragten Angehörige bei ihrem Wunsch nach einem Wohnungswechsel, hierfür würden allerdings noch Wohnungen gesucht.
Bouffier will Opfer-Angehörige einladen
Langner weist darauf hin, dass Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) sich mit Angehörigen getroffen habe. Bei den Trauerkundgebungen hatte Kaminsky stets betont: „Die Opfer waren keine Fremden, sie waren Mitbürger und Mitbürgerinnen.“ Der Magistrat habe den Opfern postum die Ehrenplakette der Stadt in Gold verliehen und sie auf dem Friedhof in Ehrengräbern bestatten lassen. Außerdem sei die Ausschreibung für einen Wettbewerb zur Gestaltung einer Gedenkstätte vorbereitet worden.
Auch die hessische Landesregierung betont in diesen Tagen ihr Engagement. Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) kündigte an, die Angehörigen der Opfer Ende August zum zweiten Mal einzuladen. „Es ist unser aller Aufgabe, Rassismus, Hass und Hetze zu bekämpfen und uns jedem in den Weg zu stellen, der hier in unserem Land Zwietracht säen möchte“, sagte Bouffier. Er hob hervor, dass die Polizei Kontaktbeamte für die Angehörigen bestimmt habe und dass der Opferhilfeverein Hanauer Hilfe stark vom Land unterstützt werde. Auch sei das Budget des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrums gegen Extremismus dieses Jahr um drei Millionen Euro auf zehn Millionen Euro erhöht worden.
Für die Hinterbliebenen ist die Welt nicht mehr normal
An die Familien der Opfer des rassistischen Terroranschlags in Hanau sind nach Angaben des Bundesjustizministeriums bisher Hilfeleistungen in Höhe von knapp 1,2 Millionen Euro gezahlt worden, mehr als 100.000 Euro an Verletzte.
Doch für die Hinterbliebenen ist die Welt nicht mehr normal. Die Familien der Opfer bräuchten jetzt vor allem Ruhe, sagt die Stadtteilmanagerin Eftelya Erbaşlı. Ihr Weststadtbüro liegt rund 400 Meter vom zweiten Tatort entfernt. Die Bewältigung der Trauer brauche Zeit. Noch stehe die psychische Stabilisierung im Vordergrund, nicht die materiellen Nöte. Erbaşlı hat einzelne Hinterbliebene beraten, wegen Corona in den vergangenen Monaten nur per Videokonferenz. Einem Angehörigen habe sie eine Therapie vermittelt.
Ende der Ermittlungen nicht absehbar
Weitere Angehörige hätten kreative Angebote oder Ausflüge zur Stärkung des Selbstwertgefühls wahrgenommen. Auch unter den im Stadtteiltreff betreuten Kindern, etwa in der Hausaufgabenhilfe, befänden sich Verwandte und Freunde der Opfer. Die Kinder hätten in den vergangenen Monaten zur psychischen Stabilisierung regelmäßig an Videokonferenzen teilgenommen. Viele Angehörige wünschten sich klare Auskünfte der Polizei, was die Ermittlungen erbracht hätten, sagt Erbaşlı. Mitunter machten auch Verschwörungstheorien die Runde.
Die Aufklärung des Anschlags hat der Generalbundesanwalt in Karlsruhe an sich gezogen. Es stehe fest, dass Tobias R. der Täter gewesen sei, sagt dessen Sprecher Markus Schmitt. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass noch jemand anderes beteiligt war. Jedoch versuchten die Ermittler herauszufinden, ob es irgendwelche Mitwisser, Anstifter oder Unterstützer gegeben habe. Ein Ende der Ermittlungen sei nicht absehbar. (epd/mig) Aktuell Panorama
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