"Akt der Willkür"
Scharfe Kritik an Festsetzung der „Sea-Watch 4“
Dem Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 4“ ergeht es mit der Festsetzung wie anderen Rettungsschiffen im Mittelmeer. Die evangelische Kirche spricht von einem „Akt der Willkür“. Nun soll die Zivilgesellschaft mobilisiert werden. Derweil verzeichnet Italien Rekordzahl an Flüchtlingsbooten, die Lampedusa erreichen.
Dienstag, 22.09.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 22.09.2020, 16:32 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Empörung über die Festsetzung des kirchlichen Seenotrettungsschiffs „Sea-Watch 4“ wächst. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, nannte die Festsetzung einen „unverantwortlichen Akt der Willkür“. „Wer Seenotrettung behindert, nimmt billigend in Kauf, dass Menschen ertrinken“, sagte Bedford-Strohm am Montag. Unter dem Vorwand der Schiffssicherheit solle ganz offensichtlich die Rettung von Menschen aus Seenot verhindert werden. Unterdessen wurde der „Alan Kurdi“ mit 133 Geretteten an Bord weiterhin kein Hafen zugewiesen, sie lag am Montag nach wie vor vor der Insel Lampedusa.
Die „Sea-Watch 4“ war in der Nacht zu Sonntag in der sizilianischen Hafenstadt Palermo von italienischen Behörden festgesetzt worden, nachdem sie mehr als 350 Menschen aus Seenot gerettet hatte. Zur Begründung seien angebliche Sicherheitsmängel genannt worden, hatte Sea-Watch am Sonntag erklärt.
Der EU-Grünen-Politiker Sven Giegold sagte dem „Evangelischen Pressedienst“ auf Anfrage, es sei nicht verwunderlich, dass es der „Sea-Watch 4“ nun ebenso ergehe wie anderen zivilen Seenotrettungsschiffen. Er nannte die Gründe für die Festsetzung „zynisch“. Die italienischen Behörden hatten unter anderem bemängelt, dass es zu viele Rettungswesten an Bord gegeben habe. Giegold gehört zu den Initiatoren der Resolution „Wir schicken ein Schiff“, die im vergangenen Jahr auf dem Kirchentag in Dortmund verabschiedet worden war.
Bedford-Strohm: Regierung muss handeln
Die „Sea-Watch 4“ wurde aus überwiegend kirchlichen Spenden finanziert – größtenteils gehen sie auf das zivile Bündnis „United4Rescue“ zurück, das auf Initiative der evangelischen Kirche gegründet wurde. Mehr als 600 Mitglieder hat das Bündnis mittlerweile. Man werde die vielen Unterstützer des Bündnisses nun mobilisieren, kündigte Giegold an, der selbst Mitglied bei „United4Rescue“ ist: „Ich gehe davon aus, dass der Protest lauter wird, als wenn das Schiff einer einzelnen Organisation festgesetzt würde.“ Der Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, ist ebenfalls Mitglied im Bündnis.
Bedford-Strohm, der auch bayerischer Landesbischof ist, forderte die deutsche Regierung zum Handeln auf. Man müsse die deutsche Präsidentschaft im Rat der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nutzen, damit eine staatlich organisierte Seenotrettungsmission im Mittelmeer eingesetzt werde. „Die jetzige Politik kostet Menschenleben“, sagte er.
Ärzte ohne Grenzen fordern Kurskorrektur
Die Nichtregierungsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, die zusammen mit Sea-Watch die „Sea-Watch 4“ betreibt, forderte mit Blick auf den angekündigten neuen EU-Migrationspakt eine klare Kurskorrektur. „Die Vorgänge auf dem Mittelmeer und auf den griechischen Inseln machen überdeutlich: Die bisherige Strategie ist nicht nur moralisch grundfalsch, sie funktioniert auch nicht. Es wäre der helle Wahnsinn, einfach mit den gleichen Maßnahmen weiter zu machen und ein anderes Resultat zu erwarten“, sagte der Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Deutschland, Christian Katzer.
Das deutsche Schiff „Alan Kurdi“ mit 133 Geretteten an Bord, darunter gut die Hälfte Kinder und Jugendliche, war am Montag weiter auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Obwohl das Schiff vor der Küste von Lampedusa liegt, habe Italien sich für nicht zuständig erklärt und die Koordinierung der Rettung verweigert, sagte Gorden Isler von der Hilfsorganisation Sea-Eye. Die italienischen Behörden verwiesen laut Isler auf die Zuständigkeit des deutschen Flaggenstaates. Bislang sei die Lage an Bord ruhig, hieß es.
Rekordzahl an Flüchtlingsbooten erreicht Lampedusa
Derweil wurde bekannt, dass immer mehr Flüchtlingsbooten Lampedusa erreichen. Innerhalb von 24 Stunden erreichten der römischen Tagezeitung „La Repubblica“ zufolge 26 Boote die italienische Insel südlich von Sizilien. Nachdem Hunderte Migranten in den vergangenen Wochen auf Einrichtungen auf Sizilien und dem italienischen Festland verteilt worden waren, sei das Erstaufnahmelager auf Lampedusa mit rund Tausend Menschen bereits erneut überfüllt. Das Camp verfügt über knapp 200 Plätze.
Unterdessen einigten sich Italien und Tunesien auf eine Verdoppelung der Zahl der Rückführungen nach Tunesien. Bis zu 600 tunesische Migranten wird das nordafrikanische Land pro Monat zurücknehmen, erklärte die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese. Sie werden mit Charterflügen von Italien in ihr Heimatland zurückgebracht werden. Hintergrund ist der starke Anstieg der Zahl der Flüchtlingsboote aus Tunesien mit einem hohen Anteil tunesischer Migranten, die in den vergangenen Wochen Lampedusa erreichten. Die italienische Insel liegt im südlichen Mittelmeer vor der tunesischen Küste. Seit Jahresbeginn erreichten laut Innenministerium 21.000 Bootsflüchtlinge Italien, darunter 9.000 Tunesier. (epd/mig) Aktuell Politik
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