Frist für Abschiebung
Deutschland verstößt gegen EU-Recht
Das BAMF nutzt die Corona-Pandemie, um die Frist für Dublin-Abschiebungen von Geflüchteten zu verlängern. Diese Praxis verstößt allerdings EU-Recht und belastet Verwaltungsgerichte wie Geflüchtete unnötig.
Von Hendrik Lammers Donnerstag, 24.09.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 24.09.2020, 10:30 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Die Europäische Union richtet sich bei der Aufnahme von Geflüchteten nach der Dublin-III-Verordnung. Diese regelt: Asylsuchende können innerhalb von sechs Monaten in den Mitgliedsstaat abgeschoben werden, den sie zuerst betreten haben. Eigentlich dürfen die Geflüchteten nach Ablauf dieser Frist das Asylverfahren am aktuellen Ort durchlaufen. Doch um diese Frist gibt es seit Monaten Streit. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) verlängert die Frist bei einem Großteil der „Dublin-Fälle“ wegen der Corona-Pandemie. Die Fristverlängerung versetzt die Geflüchteten in Angst und Unsicherheit.
Europäisches Asylsystem regelt Zuständigkeit für Asylverfahren
Bisher lief es folgendermaßen: Da Deutschland von Staaten umgeben ist, die die Dublin-III-Verordnung unterschrieben haben, sendet und erhält es zigtausende Anfragen zur Rücknahme von Asylsuchenden mit „Dublin-Verfahren“. Die Verordnung gilt in der EU sowie Norwegen, Schweiz, Liechtenstein und Island. In 2019 durchliefen etwa ein Drittel der Asylsuchenden in Deutschland ein Dublin-Verfahren.
Deutschland und die anderen Staaten versuchen jeweils, möglichst viele „Dublin-Fälle“ in den vorgegebenen sechs Monaten zu „überstellen“ – also untereinander abzuschieben. Darunter gab es auch regelmäßig Abschiebungen in Länder, in denen die Aufnahmebedingungen für Geflüchtete schlecht sind. Hauptsächlich wurde von Deutschland aus in 2019 nach Italien überstellt, wo viele Asylsuchende obdachlos werden und ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen.
Corona-Pandemie: Bamf überstellte einige Monate nicht
Am 18. März 2020 hatte das Bamf dann mitgeteilt, vorerst keine Dublin-Überstellungen mehr vorzunehmen. Hintergrund waren die verheerenden Folgen durch den Ausbruch der Corona-Pandemie. Eine völlig sinnvolle Entscheidung, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Dies dürfte auch in allgemeinem europäischem Interesse gewesen sein.
Doch kurz darauf verschickte das Bamf Briefe an die Geflüchteten, die vorher ein Klageverfahren zur Überprüfung der Abschiebungsanordnung in ein „Dublin-Land“ eröffnet hatten. In den Briefen stand, die Behörde habe neben der Abschiebung ebenso den Fristablauf für die Überstellung1 ausgesetzt. Was bedeutet das genau? Und was versprach sich das Bamf davon?
Sobald das Bamf Überstellungen irgendwann wieder für durchführbar halte, würde es die Abschiebungen wieder anordnen und neue sechs Monate Frist gewinnen, um letztlich doch möglichst viele Asylsuchende abschieben zu können. Hierbei verweist das Bamf auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG)2 aus dem Jahr 2019. In diesem Urteil hatte das Gericht entschieden, dass die behördliche Aussetzung der Abschiebung3 unter bestimmten Umständen zu einer Unterbrechung der Überstellungfrist nach der Dublin-III-Verordnung führen kann. Die Rechtmäßigkeit der Unterbrechung und der damit zusammenhängende Neubeginn der Sechs-Monats-Frist ist laut dem Urteil aber an gewisse Kriterien gebunden: Die Unterbrechung darf nicht missbräuchlich oder willkürlich genutzt werden. Sie muss sachlich vertretbar sein. Die Frist kann entsprechend unterbrochen werden, wenn ernsthafte Zweifel an einer Abschiebungsanordnung bestehen und die Anordnung einer Überstellung überprüft werde. Die Unterbrechung ist also rechtmäßig, wenn sie dem Rechtsschutz der von Abschiebung bedrohten Person dient.
Fristunterbrechung und spätere Abschiebung rechtlich nicht tragbar
Genau hier liegt das Problem. Das Bamf prognostizierte im März 2020 scheinbar, dass die Überstellungen nicht mehr durchführbar sein könnten und brauchte deshalb mehr Zeit. Es ging also nicht um den Rechtsschutz der Asylsuchenden. Sondern schlicht darum, dass das Bamf die Abschiebungen nicht für durchführbar hielt.
Die Fristunterbrechung auf die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebungen wegen der Corona-Krise zu stützen, widerspricht jedoch dem europarechtlichen Beschleunigungsgebot. Denn nach der Dublin-III-Verordnung soll die Bestimmung des verantwortlichen Mitgliedsstaats und damit auch der Zugang zum inhaltlichen Asylverfahren schnell erfolgen: das System „sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden“.
Ausschließlich dann, wenn Asylsuchende in Haft genommen werden oder sich einer Abschiebung entzogen haben, kann die Frist laut der Verordnung auf zwölf bzw. 18 Monate gesetzt werden. Nur dann ist die Fristverlängerung also zulässig. Entsprechend verstößt die Vorgehensweise des Bamf gegen Unionsrecht.
Zusätzlich würde es Geflüchtete mit laufendem Klageverfahren schlechter stellen als solche, die keine Klage eingereicht haben. Denn für letztere Personen kommt die Idee der Fristunterbrechung rechtlich generell nicht in Betracht. Es verlängert also „nur“ die Frist von Geflüchteten, die ihre rechtsstaatlichen Mittel nutzten und gerichtlich gegen eine Abschiebung in ein Mitgliedsland der Dublin-III-Verordnung vorgingen. Wer also Klage einreicht, sollte deshalb mit Nachteilen rechnen müssen? Eine rechtsstaatlich bedenkliche Logik.
Reaktion des Bamf auf offenkundige Rechtswidrigkeit: uns doch egal!
Die EU-Kommission reagierte im Übrigen prompt und stellte am 16.04.2020 klar: „Wird die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht innerhalb der geltenden Frist durchgeführt, so geht die Zuständigkeit nach Artikel 29 Absatz 2 der Dublin-Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Keine Bestimmung der Verordnung erlaubt es, in einer Situation wie der, die sich aus der COVID-19-Pandemie ergibt, von dieser Regel abzuweichen“.
Damit war klar: das Bundesamt müsste eigentlich die Praxis der Fristverlängerung aufgeben, statt zu versuchen, die Menschen auch nach vielen weiteren Monaten Wartezeit ohne Asylverfahren noch zu überstellen.
Das Bamf zeigte sich allerdings unbeirrt. Es ignorierte die Vorgaben aus Brüssel, so als gäbe es kein europäisches Asylsystem. Obwohl die Vorgehensweise der Fristverlängerung offensichtlich gegen Europarecht verstößt, hielt das Bundesamt an der eigenen Auslegung fest und ließ es auf massenhafte Gerichtsverfahren ankommen. Das belastet die ohnehin stark geforderten Verwaltungsgerichte mit zusätzlichen Verfahren – deren Kammern nun reihenweise feststellen, dass Deutschland sich mit der Fristverlängerung europarechtswidrig verhält.
Rechtliche „Feinheiten“ mit großer Auswirkung auf Asylsuchende
Letztlich geht es bei diesen rechtlichen Fragen allerdings nicht um vermeintliche Feinheiten komplexer Regelungen. Die Regelungen haben enorme Auswirkungen auf die betroffenen Geflüchteten. Denn diese haben bspw. schon fünf Monate in Deutschland gelebt, Sprachkurse besucht, Kontakte aufgebaut. Die Kinder haben sich an die neue Umgebung gewöhnt und erholen sich etwas von der anstrengenden Flucht. Nun sollen sie aber zunächst warten bis das Bamf für sie wieder die Abschiebung anordnet und daraufhin nochmal sechs Monate warten, ob das Bamf sie in den anderen Mitgliedsstaat tatsächlich abschiebt. Absolut verständlich, dass die Betroffenen dieses komplizierte, unnötige und integrationshemmende System nicht nachvollziehen können und sich als Spielball sehen, der zwischen den Interessen der verschiedenen Aufnahmestaaten hin und her gespielt wird. Sie verlieren Zeit, um sich ein neues Leben aufzubauen.
Besonders die monatelange Angst, nachts ohne Ankündigung aus dem Zimmer geholt und abgeschoben werden zu können, ist schwer auszuhalten. Das ist nicht nur für Familien eine hohe Belastung. Sondern auch für die alleinstehenden Asylsuchenden, die oft in den Hauptzielstaaten für Überstellungen aus Deutschland – dazu gehören Italien und Frankreich – keine Schlafplätze bekommen und schlecht versorgt werden. Sie verzweifeln an der Vorstellung, nicht vor und nicht zurück zu können. Keine Zukunftsperspektive zu haben und nach einer Überstellung vielleicht erneut obdachlos zu werden.
Diese Ängste vermengen sich mit den ohnehin vorhandenen Belastungen aus den meist unvorstellbaren, brutalen Gewalterfahrungen der Vergangenheit, dem Alltagsrassismus in Deutschland und der institutionellen Diskriminierung im Flüchtlingslager. Außerdem erhalten die Asylsuchenden oft gar kein Bargeld, sondern nur Sachleistungen. Wie sollen sie ohne einen Euro eine anwaltliche Vertretung bezahlen, um von ihren rechtsstaatlichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und gegen eine Entscheidung der Behörden vorzugehen? Verfahren nach dem Asylgesetz sind zwar gerichtskostenfrei, aber die meist nur in behördlichem Deutsch verfassten Bescheide und Briefe zu verstehen und die Rechtsmittel ohne Anwaltskanzlei einzulegen, ist faktisch unmöglich.
Rechtsmittel gegen Fristverlängerung und Überstellung
Grundsätzlich besteht für die Betroffenen die Option, nach der ursprünglichen Sechs-Monats-Frist einen Antrag beim Bamf bzw. einen Eilantrag beim zuständigen Verwaltungsgericht zu stellen. Organisationen wie „Pro Asyl“ haben hierzu bereits nähere Hinweise verfasst.
Relevant für die Betroffenen dürfte sein, dass bereits viele Verwaltungsgerichte die Praxis des Bamf für unrechtmäßig erklärt haben.4 Die Gerichte halten unter anderem fest, „dass die Aussetzung ausschließlich erfolgte, da eine Überstellung während der Corona-Krise derzeit nicht zu vertreten und der Vollzug vorübergehend nicht möglich sei“ – was eben nicht den Kriterien für eine Fristunterbrechung mit anschließendem Neubeginn der Sechs-Monats-Frist entspreche.
Bamf sollte „Selbsteintritt“ wählen
Das Bamf sollte von seiner Vorgehensweise abrücken und rechtliche und damit auch psychosoziale Sicherheit für die Asylsuchenden schaffen. Es hätte diese Möglichkeit. Denn durch einen „Selbsteintritt“ hat jedes Mitgliedsland die Option, aus humanitären Gründen auf eine Überstellung zu verzichten. Dieser Selbsteintritt wäre ohnehin für all diejenigen Asylsuchenden mehr als vertretbar, die die stärker von der Corona-Pandemie gezeichneten Länder verließen. Das wäre sinnvoll, um die Geflüchteten keiner gesundheitlichen Gefahr in überfüllten Lagern oder der Obdachlosigkeit auszusetzen. Mindestens aber sollte das Bamf bei allen Fällen mit eigentlich abgelaufener Sechs-Monats-Frist endlich den unionsrechtlichen Vorgaben folgen, die Abschiebungsanordnungen zurücknehmen und die Zuständigkeit für das Asylverfahren übernehmen.
- Unter Bezug auf § 80 Abs. 4 VwGO in Verbindung mit Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung
- BVerwG 1 C 16.18
- Nach § 80 Abs. 4 VwGO
- Darunter das OVG Schleswig-Holstein, mit Beschluss vom 09. Juli 2020 (1 LA 120/20) oder das VG Oldenburg, mit Urteil vom 11. September 2020 (11 A 3546/19)
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