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Mehrsprachigkeit: Komplexe Zusammenhänge, einfache Forderungen
Bei jedem fünften Kita-Kind wird zu Hause vorrangig eine andere Sprache als Deutsch gesprochen. Ist das gut oder schlecht? Kommt es auf die "Fremd"-Sprache an? Und wie gehen wir damit um?
Von Maria Ringler Montag, 28.09.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 28.09.2020, 10:21 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
„Bei jedem fünften Kita-Kind wird zu Hause vorrangig eine andere Sprache als Deutsch gesprochen.“1 So ein Ergebnis der kleinen Anfrage ans Bundesfamilienministerium. Die politische Forderung der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FDP Katja Suding war daraufhin: „Mehr Geld in die Sprachförderung“. Eine Forderung, die nicht zum ersten Mal formuliert wird.
Prinzipiell ist es sehr zu befürworten, wenn mehr Geld in Bildung fließt. Deutschland steht im Ranking der OECD-Länder noch immer nicht besonders gut in puncto Bildungsausgaben da. Was aber genau meint Sprachförderung? Deutsch lernen oder wirklich Sprache – fördern? Der Zusammenhang von mehrsprachigem Aufwachsen und einer erfolgreichen sprachlichen Bildung ist komplexer als „Deutsch lernen“.
Zunächst wird in der zitierten Aussage festgestellt, dass im Familienleben bei jedem fünften Kita-Kind neben Deutsch eine andere Sprache oder mehrere andere Sprachen eine wichtige Rolle spielen. Es wird nicht differenziert dargestellt, wer mit wem in einer solchen Familie wie oft welche Sprache(n) nutzt, ob die Kommunikationssprache der Geschwister untereinander eine andere ist, als die mit den Eltern.
In welchem Umfang wird der sprachlichen Bildung überhaupt in dieser oder jener Familie Bedeutung beigemessen? Welche Rolle spielt Schriftlichkeit, welche Bedeutung haben Geschichten erzählen und Vorlesen, werden Medien in anderen Sprachen genutzt usw.? Alles Aspekte, die für eine erfolgreiche sprachliche Bildung, für den Spracherwerb grundsätzlich von großer Bedeutung sind. Über Umfang und Qualität des Spracherwerbs in der Familie wird in der Antwort auf die Anfrage keine Aussage gemacht.
Die Kinder haben keine Sprachdefizite, wie das vielfach von pädagogischer und politischer Seite formuliert wird. Sie sprechen mindestens eine Sprache altersgerecht und lernen jetzt Deutsch als zweite oder sogar dritte Sprache hinzu. Es sind nicht die Kinder, sondern eher die Einrichtungen, die vor Herausforderungen gestellt sind, weil sie es nicht gelernt haben, fachgerecht mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Hier muss gefragt werden, welche Auswirkungen diese oder jene familiäre Sprachpraxis auf die weitere sprachliche Bildung des Kindes haben kann.
Sprachliche Bildung = Deutschförderung?
„Die Einrichtungen legen fest, welchen Wert und welche Bedeutung mitgebrachte Familiensprachen in der Einrichtung haben können oder haben dürfen. Dabei wird Mehrsprachigkeit durchaus gesehen und als ein Wert dargestellt, aber selten aktiv eingebunden und aufgegriffen, wenn es konkret um die sprachliche Bildung des Kindes geht.“
Während die Sprachnutzung in der Familie Privatsache ist und bleiben sollte, ist die sprachliche Bildung in Kita und Schule eine politische Entscheidung. Die Einrichtungen legen fest, welchen Wert und welche Bedeutung mitgebrachte Familiensprachen in der Einrichtung haben können oder haben dürfen. Dabei wird Mehrsprachigkeit durchaus gesehen und als ein Wert dargestellt, aber selten aktiv eingebunden und aufgegriffen, wenn es konkret um die sprachliche Bildung des Kindes geht. Hier steht nach wie vor über allem die Deutsche Sprache – mit der Begründung, Deutsch ist Bildungssprache in diesem Land. Noch immer gilt der „monolinguale Habitus“2 in deutschen Bildungseinrichtungen. Dies widerspricht globalen Realitäten.
Mit der expliziten Deutschförderung in der Kita geht in der Regel eine Vernachlässigung der sprachlichen Förderung der Familiensprache(n) des Kindes einher. Obwohl schon lange wissenschaftlich erwiesen ist, dass eine koordinierte und durchgängige Förderung aller Sprachen eines Kindes die besten Erfolge sprachlicher Bildung in allen Sprachen – auch in der Zweitsprache Deutsch – garantieren.3
Es zeigt sich, dass die Sprachkompetenzen von Schüler:innen, die über gut ausgebaute Fähigkeiten in ihren Familiensprachen verfügen, auch im Deutschen gut entwickelt sind. Dabei geht es vor allem auch um die Qualität der Begegnung mit Sprache. Es gibt jedenfalls keinen Anlass, dass die familiäre Nutzung der Familiensprachen hinderlich sind für die Aneignung schulisch relevanter Kompetenzen.4
Zudem weisen wissenschaftliche Studien darauf hin, dass alle Kinder, egal ob sie von Haus aus eine, zwei, nur Deutsch und egal welche Sprache auch immer sprechen, von Konzepten frühkindlicher und schulischer Bildung profitieren. Von Konzepten, die Mehrsprachigkeit differenziert behandeln, die Fähigkeiten, die mit Mehrsprachigkeit einhergehen, nutzen, um allgemein förderliche Lernbedingungen herauszubilden.
Sprachförderung oder Botschaft hinter der Nachricht
„Oder geht es doch eher um Botschaften zwischen den Zeilen? Sind vielleicht nur bestimmte Familien gemeint, die zuhause vorrangig eine andere Sprache als Deutsch sprechen?“
Oder geht es doch eher um Botschaften zwischen den Zeilen? Sind vielleicht nur bestimmte Familien gemeint, die zuhause vorrangig eine andere Sprache als Deutsch sprechen? Die Verbindung von sozialem Status, besonderer Vulnerabilität von Familien und dem gesellschaftlichen Ranking der Sprachen könnte sich als nebulöser Hintergrund zwischen den Zeilen der politischen Forderung wiederfinden.
Wird Familien generell unterstellt, dass sie nicht bildungsbewusst sind, weil zu Hause Sprachen gesprochen werden, mit denen eher weniger „Bildungserfolg“ zu erreichen ist? Im Gegensatz zu „bildungsbewussten“ Familien, die zuhause Frühenglisch üben und die Kinder in die bilinguale deutsch-französische Kita schicken?
Aktuelle Förderpraxis
Bei der Förderung von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache lernen, darf es nicht um einen Nachteilsausgleich gehen. Es sollte vielmehr darum gehen, die Chancen zu nutzen, die Mehrsprachigkeit für das sprachliche Lernen und das Lernen überhaupt bietet.
„Aktuelle Praxis in Kitas und Schulen ist jedoch vielerorts, dass mehrsprachige Kinder durch eine mehr oder weniger gute Förderung in der Zweitsprache Deutsch gewissermaßen zwangsweise zu einsprachigen Kindern gemacht werden, denen man dann später im Laufe ihrer Schulkarriere wieder nahelegt, im Fremdsprachenunterricht andere Sprachen zu lernen.“
Aktuelle Praxis in Kitas und Schulen ist jedoch vielerorts, dass mehrsprachige Kinder durch eine mehr oder weniger gute Förderung in der Zweitsprache Deutsch gewissermaßen zwangsweise zu einsprachigen Kindern gemacht werden, denen man dann später im Laufe ihrer Schulkarriere wieder nahelegt, im Fremdsprachenunterricht andere Sprachen zu lernen.
Auch wenn das Bundesprogramm Sprach-Kitas hervortritt mit einem Ansatz der alltagintegrierten sprachlichen Bildung und Sprache als einen grundlegenden Baustein in der kognitiven, sozial-emotionalen und motorischen Entwicklung versteht, so richtet sich der Fokus auch hier auf die Entwicklung der deutschen Sprache und lässt die Familiensprachen der Kinder weitestgehend außeracht.
Im Bereich Sprachförderung fehlen nach wie vor pädagogische Handlungsstrategien für den Alltag, um auch mehrsprachige Kinder in Interaktionssituationen und bei der sprachlichen Bildung gut zu unterstützen. Ansätze von Quersprachigkeit oder Translanguaging haben gezeigt, dass sich Teilhabeprozesse von Kindern und Erwachsenen erhöhen, wenn diese mehrere Sprachen und somit das volle Potenzial ihrer Ausdrucksmöglichkeiten nutzen können und damit nicht Teile ihrer Identität ausblenden.5
Fazit
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Mehrsprachigkeit ein großes Bildungspotenzial für die Gesamtgesellschaft darstellt, sollte es im Interesse von allen Beteiligten sein, diesen Umstand stärker als bisher wahrzunehmen, wertzuschätzen und in institutionelle Bildungsprozesse einzubinden.
Wenn es um eine Aufstockung der Gelder im Bereich Sprachförderung gehen sollte, dann muss eine differenzierte Debatte stattfinden, was genau mit Sprachförderung gemeint und intendiert ist. Und wie die sprachliche Bildung über alle Sprachen hinweg am besten organisiert werden kann. (epd/mig)
- Unter den rund 3,2 Millionen Kindern in Kindertagesstätten waren im März 2019 rund 675.000 Kinder, in deren Familien nur wenig Deutsch gesprochen wurde, heißt es in einer Antwort des Bundesfamilienministeriums auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion. Das ist ein Anteil von rund 21 Prozent. Der Wert im vergangenen Jahr sei im Vergleich zu 2017 (18,7 Prozent) und 2018 (19,4 Prozent) gestiegen.
- Das Konzept des monolingualen Habitus prägte Prof. Ingrid Gogolin bereits in den 90-er Jahren.
- Vgl. FÖRMIG (Gogolin et al, 2013); vgl. BISS (Tietz, Geyer, Ropeter, Wagner, Weber & Hasselhorn, 2017)
- Vgl. Rauch 2019: Mehrsprachigkeit – ein Problem? In Migration und Bildungserfolg (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 34. Beiheft)
- Vgl. Panagiotopoulou 2016
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