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30 Jahre Wiedervereinigung

„Die Mauer ist uns Migranten auf den Kopf gefallen“

Als Deutschland 30 Jahre Wiedervereinigung feierte, war für viele in der türkeistämmigen Community nicht zum Feiern zumute. Sie verbinden mit dem Mauerfall traumatische Erinnerungen. Ein Zeitzeuge erinnert sich.

Von Mittwoch, 07.10.2020, 20:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 07.10.2020, 20:38 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Vor wenigen Tagen feierte Deutschland den 3. Oktober, den Tag der Wiedervereinigung. Ein historischer Tag für Deutschland und auch für uns alle. Als türkische Gemeinschaft haben wir uns über den Mauerfall am 9. November 1989 zunächst gefreut. Das Wetter war kalt, die Straßen, Kneipen, Cafés und Restaurants waren überfüllt mit Menschen aus der alten DDR. Wir vom Türkischen Elternverein öffneten unsere Räume und boten den Ostdeutschen Tee und Kaffee gegen die Kälte an.

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Vor dem Mauerfall standen in der türkeistämmigen Community folgende Themen an der Tagesordnung: Vereinfachung des Einbürgerungsverfahrens, doppelte Staatsbürgerschaft, Niederlassungsrecht. Wir forderten gleiche Bildungschancen für alle Kinder, mutter- und herkunftssprachlichen Unterricht an Schulen, die Anerkennung der Bundesrepublik als Einwanderungsland und kommunales Wahlrecht für „Ausländer“– teilweise mit Erfolg: Noch vor dem Mauerfall beschloss die Hamburger Bürgerschaft ein entsprechendes Gesetz. Zeitgleich bereitete der ehemalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) eine Neufassung des Ausländergesetzes vor, das Verschärfungen im Visumverfahren und Aufenthaltsrechts vorsah. Dagegen formierte sich in der Community breiter Widerstand.

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Wirtschaftliche, soziale und politische Veränderungen

Nach der Vereinigung wurde zum einen die wirtschaftliche Situation für viele schwieriger. Der Wegfall der Berlin- und Kindergeldzulage traf vor allem sozial Schwächere. Wurde vor dem Mauerfall noch über die 35-Stunden- Woche bei vollem Lohnausgleich diskutiert, fror man nach der Wiedervereinigung die Gehälter ein und fing stattdessen an, über die Verlängerung der Wochenarbeitszeit zu reden. Da Einwanderer im Verhältnis zu Deutschen oft geringere Gehälter erhielten, traf diese Entwicklung sie besonders stark.

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Erschwert wurde die Situation zusätzlich durch gesetzliche Einschränkungen. Laut Arbeitsförderungsgesetz wurden zuerst deutsche Staatsbürger, dann EG-Bürger und erst am Schluss Einwanderer bei Bewerbungen für eine Arbeitsstelle berücksichtigt. So wurde es nach der Wiedervereinigung sehr schwierig, als „Ausländer“ einen Job, Ausbildungsplatz oder eine Wohnung zu bekommen.

„Von Ostberlinern hörten wir in dieser Zeit oft, dass die Türken jetzt nach der Einheit wieder in ihre Heimat zurückgehen müssten – auch aus SPD-Kreisen, wo viele türkeistämmige Mitglied waren. Dabei hatten wir seit Jahrzehnten für den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland viel geleistet und unseren Lebensmittelpunkt hier aufgebaut.“

Auch große Teile der Mittel für Integrationsmaßnahmen der Immigranten wurden zusammengestrichen. Das Geld wurde nach der Vereinigung für die neuen Bundesländer und die deutschen Staatsbürger im Osten gebraucht. Es folgten weitere Rückschläge: Das Bundesverfassungsgericht kassierte das von Hamburg initiierte kommunale Wahlrecht für „Ausländer“.

Der größte Teil der Ostdeutschen hatte zuvor keine Erfahrungen mit Immigranten aus Westdeutschland gemacht. Vorurteile waren weit verbreitet, etwa dass Ausländer ihnen die Arbeit wegnähmen. Es war viel mehr als nur eine „allgemeine Ausländerfeindlichkeit“. Die Vorbehalte trafen insbesondere Türken als größte Minderheitsgruppe. Von Ostberlinern hörten wir in dieser Zeit oft, dass die Türken jetzt nach der Einheit wieder in ihre Heimat zurückgehen müssten – auch aus SPD-Kreisen, wo viele türkeistämmige Mitglied waren. Dabei hatten wir seit Jahrzehnten für den Aufbau der Bundesrepublik Deutschland viel geleistet und unseren Lebensmittelpunkt hier aufgebaut.

Rassismus, rechte Gewalttaten und Übergriffe

Unser Eindruck war: Nach der Vereinigung mussten wir in den Diskussionen um Integration, Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wieder ganz von vorn anfangen. Der Türkische Bund in Berlin e.V. führte in Ostberlin Veranstaltungsreihen durch, um Vorurteile abzubauen. Stattdessen nahmen rassistische und rechtsextreme Gewalttaten zu. Rückblickend sagt man heute, die Mauer ist uns Migranten auf den Kopf gefallen.

Der DDR-Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa aus Angola wurde in Eberswalde eines der ersten Todesopfer der Wiedervereinigung. Am 30. Oktober 1991 wurde der 19- jährige türkeistämmige Mete Ekşi in Berlin in einer heftigen Auseinandersetzung mit Jugendlichen, die aus dem Ostteil Berlins gekommen waren, durch Baseballschläge schwer verletzt. Er lag 15 Tage im Koma. Am 13. November 1991 starb er. Laut Amadeo Antonio Stiftung gab es 1990 sieben, 1991 acht und 1992 bereits 27 Todesopfer rassistischer und rechtsextremer Gewalt im vereinten Deutschland.

„Die Sorgen nahmen zu, weil Bundeskanzler Helmut Kohl auf die ausländerfeindlichen, rassistischen, rechtsradikalen Ereignisse, Angriffe und Übergriffe in Rostock, Hoyerswerda, Mölln, Solingen überhaupt nicht reagierte. Mehr noch: Er ließ wissen, dass er keinen ‚Beileidstourismus‘ betreiben wolle.“

Im September 1991 erlebten wir im sächsischen Hoyerswerda das erste pogromähnliche und furchtbare Ereignis: Asylsuchende und Vertragsarbeiter wurden nach mehrtägigen Ausschreitungen unter dem Beifall der umstehenden Menge aus ihren Unterkünften vertrieben und mit Brandflaschen und Steinen beworfen. An den Übergriffen waren bis zu 500 Menschen beteiligt. Die Polizisten schauten zu und Neonazis feierten daraufhin „Deutschlands erste ausländerfreie Stadt“ seit 1945.

Die Sorgen nahmen zu, weil Bundeskanzler Helmut Kohl auf die ausländerfeindlichen, rassistischen, rechtsradikalen Ereignisse, Angriffe und Übergriffe in Rostock, Hoyerswerda, Mölln, Solingen überhaupt nicht reagierte. Mehr noch: Er ließ wissen, dass er keinen „Beileidstourismus“ betreiben wolle. Er lehnte sogar Terminvorschläge von der ehemaligen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Liselotte Funcke, ab. Daraufhin trat sie aus Protest gegen die Bundesregierung von ihrem Amt im Juni 1991 zurück.

Zwischen dem 22. und 26. August 1992 erlebten wir in Rostock-Lichtenhagen das zweite pogromähnliche Ereignis, diesmal gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter: Etwa Hunderte Rechtsextreme und bis zu 3.000 Schaulustige belagerten Unterkünfte von Asylbewerbern. Dieser Zustand dauerte vier Tage an, später setzten sie die Unterkünfte in Brand. Auch diesmal gab es keine Erklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl.

Und es kam schlimmer

„Um gegen die Zunahme fremdenfeindlicher und rassistischer Gewalt zu protestieren, riefen Politiker, Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Einwanderervebände und andere Institutionen zu einer Großdemonstration auf, bei der am 8. November 1992 etwa 350.000 Menschen durch Berlin zogen. Gut zwei Wochen später verübten Rechtsextreme in Mölln einen Brandanschlag auf die Wohnhäuser türkischer Familien.“

Um gegen die explosionsartige Zunahme fremdenfeindlicher und rassistischer Gewalt – Anfangs häufig im Ost, später dann auch im Westen – zu protestieren, riefen Politiker, Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, Einwanderervebände und andere Institutionen unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu einer Großdemonstration auf, bei der am 8. November 1992 etwa 350.000 Demonstranten durch Berlin zogen. Motto: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

Gut zwei Wochen später verübten Rechtsextreme am 23. November 1992 in Mölln einen Brandanschlag auf die Wohnhäuser türkischer Familien. Sie ermordeten zwei Frauen und ein Kind. In der Nacht auf den 29. Mai 1993 ermordeten Neonazis in Solingen fünf Angehörige der Familie Genç: Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). 14 weitere Familienmitglieder erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen. Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen sind bis heute Synonyme für rassistische Gewalt in Deutschland.

Und als wir dachten, es könne nicht schlimmer kommen, erfuhren wir viele Jahre später, wie unsere Sicherheitsbehörden mit den rechtsterroristischen Anschlag- und Mordserien der sogenannten NSU, die ihren Ursprung im Thüringischen Jena hat, umgegangen waren. Nach den Mordattentaten in Halle und Hanau erhöhte sich die Zahl der Todesopfer seit der Vereinigung auf 209. Heute ist mir nicht mehr Feiern zumute. Ich bitte um Verständnis. Aktuell Leitartikel

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