Nach Wien
Wie wir dem Terrorismus seinen Nährboden entziehen
Terror besiegt man nicht mit Koranversen, sondern indem man etwas in Augenschein nimmt, was bisher nur ein Randthema ist: die Täterbiografien am Rande der Gesellschaft.
Von Dr. Muhammad Sameer Murtaza Mittwoch, 04.11.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 03.11.2020, 15:39 Uhr Lesedauer: 14 Minuten |
„Der politische Islam richtet sich gegen uns alle und ist viel gefährlicher als der Jihadismus und Salafismus, weil er viel subtiler, nämlich in Krawatte und Anzug, auftritt. Das durchschauen viele Politiker noch nicht, mit denen ich rede“, so der Religionspädagoge Mouhanad Khorchide vor wenigen Wochen in der Zeitung Der Standart. Nicht nur verharmloste Khorchide damit den islamisch verbrämten Terrorismus und trivialisierte seine Opfer und deren Angehörigen, obendrein offenbart er seine offenkundige Ahnungslosigkeit. Gut also, wenn Politiker skeptisch sind, denn der IS ist noch lange nicht geschlagen.
Diese Terrororganisation besiegt man nicht mit einer esoterischen Barmherzigkeitstheologie oder dem Jonglieren mit Koranversen, sondern indem man etwas in Augenschein nimmt, was bisher nur ein Randthema ist: die Täterbiografien.
Das Lesen religiöser Schriften lässt niemanden von heute auf morgen zum Extremisten werden, das beweisen uns täglich 1,8 Milliarden Muslime. Diese stupide Kausalverbindung hat zur Folge, dass bis heute Extremismus im Namen des Islam nicht wirklich tiefgründig, nämlich auf der psychologischen und ökonomischen Ebene, verstanden wird. Nach Karl Marx prägt das gesellschaftliche Sein des Menschen sein Bewusstsein. Die Lebenswelt vieler junger Menschen, ob sie nun in Kairo oder in den Vororten von Paris leben, ähnelt sich auf erschreckende Weise. Früher konnten junge Menschen in Europa ohne Schulabschluss oder Ausbildung in den Fabriken und an den Fließbändern noch eine Anstellung finden. Sie konnten sich ihren Lebensunterhalt verdienen, heiraten und eine Familie gründen. Sie wurden ein aktiver Teil ihrer Gesellschaft. Doch die Arbeitswelt hat sich gewandelt. Wer heute keinen Schulabschluss, keine Ausbildung oder nur einen Haupt- oder Realschulabschluss vorweisen kann, der steht abgehängt am Rande unserer Bildungsgesellschaft und ist damit zugleich von der Teilhabe ausgeschlossen. Qualvoll hangeln sich diese jungen Menschen von Leiharbeitsjob zu Leiharbeitsjob, von Zeitverträgen zu Zeitverträgen und verdienen gerade so viel, dass es zum Überleben reicht. Sie gehören zu der Zunft der berufstätigen Armen ohne Zukunft. Hausen tun sie in tristen, funktionalen, engen Wohnungen an den Rändern unserer Städte gleich Hühnern in Legebatterien. Gerade die männlichen Verlierertypen gelten in der Partnerwahl als die schlechte Wahl. Da sind sie nun also und sitzen ihre Lebenszeit ab. Sie können nicht die verantwortungsvollen Ehemänner und auch nicht die stolzen Väter sein, die sie gerne sein möchten. Und sie fangen an, die Lügen der westlichen Spaß- und Konsumgesellschaft zu durchschauen. Sie wurden betrogen. Nicht jeder kann ein Superstar, ein erfolgreicher Rapper oder ein Profi-Boxer werden. Berühmtheit, Reichtum und Luxus stehen nicht allen offen. Teilhabe, Wohn- und Lebensqualität sind gekoppelt an Einkommen. Diese abgehängten jungen Menschen stehen am Rande, ohne Sinn, ohne Wert, ohne Bedeutung für die westlichen Gesellschaften. Somit sind sie zugleich frei alles zu tun, was sie wollen, denn sie haben nichts zu verlieren.
Ähnlich empfinden junge Menschen, die in Tunis oder in Rabat leben. Ihre Regierungen haben es versäumt, bildungspolitische, gesellschaftliche und politische Reformen einzuleiten, die die Region wieder wettbewerbsfähig macht. Dies trifft auch die jungen Akademiker, die trotz guter Ausbildung entweder keine Anstellung finden oder als Folge des Kapitalismus in prekäre Arbeitsbedingungen geraten, in denen sie ausgenutzt werden und am Existenzminimum verharren. Dieser Zustand und die gleichzeitige Perspektivlosigkeit sorgen für ein Grundgefühl der Verunsicherung, Schwäche und Demütigung. Auch sie prägt der tägliche Lebenskampf, der es ihnen oftmals unmöglich macht, ein Leben in Würde zu führen, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Auch sie stehen am Rand, ohne Sinn, ohne Wert, und ohne Bedeutung für ihre Gesellschaften.
„Im Okzident wie im Orient wird diese Orientierungslosigkeit in einer als unbarmherzig und ungerecht empfundenen Welt zu einer Existenzkrise junger Männer. Es eint sie die Wut auf die Gegenwart, in der sie sich nicht sinnvoll verorten können.“
Im Okzident wie im Orient wird diese Orientierungslosigkeit in einer als unbarmherzig und ökonomisch ungerecht empfundenen Welt zu einer Existenzkrise junger Männer. Es eint sie die Wut auf die Gegenwart, in der sie sich nicht sinnvoll verorten können. Innerhalb den bestehenden Grenzen der Zivilisation können sie hieran nichts ändern. Sie sind ein Teil einer ganzen Generation, der nicht gebraucht wird, der sich auch nicht beweisen kann, der sich aber nach einer sinnhaften Lebensaufgabe sehnt. Und plötzlich geht es um die Frage, ob man diese Sinnloseste aller Zeiten hinter sich lassen kann und Wörter wie Würde, Ehre, Ideale, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit wieder Gewicht haben werden, weil man in einem großen Kampf gebraucht wird.
Nach Jan Philipp Reemtsma, Begründer des Hamburger Institutes für Sozialforschung, scheinen Menschen, insbesondere Männer, global, völlig unabhängig von den jeweiligen sozialen Umständen, Gewalt als eine attraktive und selbstbestimmte Lebensform zu betrachten. Gewalt auszuüben empfinden Gewalttäter als eine Befreiung von der Selbstkontrolle, der Rücksichtnahme und dem sich Zurücknehmen. Gewalt auszuüben bedeutet für sie Selbstermächtigung, Grenzenlosigkeit und Entgrenzung, die ihren extremen Ausdruck in der Zerstörung des anderen Körpers findet. In der Gruppe steigert sich dieses Gefühl der Willkürmacht. Die Gruppe verleiht dem Gewalttäter das cäsarische Privileg, Herr über Leben und Tod zu sein. Das Gewaltmilieu ist identitätsstiftend und Krieg sinnstiftend. Es gibt ein „Wir“ und es gibt ein „Die“. Keine Selbstkritik, keine Differenzierung, keine Kompromissbereitschaft, sondern das kollektive „Wir“ ist eins gegen den Feind, so ergänzend die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong. Nach dem Philosophen Roger Garaudy spiegeln junge Menschen, die Verbrechen begehen nur die bestehende Weltordnung der Dominanz wider: „Sie sehen, dass der Starke siegt. Ihre auf Gewalt basierende Verhaltensweise zeigt, dass sie das in der Welt herrschende Prinzip aufgenommen und verinnerlicht haben. (…) In einer Welt ohne Gesetze gibt es keine Zukunft für die Jugend. In solch einer Welt musst du den Eindruck vermitteln, dass du stark bist, um andere dazu zu bringen, dich zu akzeptieren.“ Der Kampf ist zwingende Folge der Gegenwartsdiagnose.
Es geht jetzt um alles: um Metaphysik, um den Sinn des Lebens, um Zivilisationskritik, um das Grau der Gegenwart und das Elend der Verwestlichung. Terrorist wird zu einem Lifestyle der Dominanz, der die bestehende Weltordnung herausfordert. Etliche Täterbiographien haben gemeinsam, dass die Gewalttäter sich zuvor im kleinkriminellen Milieu bewegten. Das Dasein als Krimineller war ein erster Versuch aus den vorgegeben Strukturen auszubrechen und eine eigene Form von Dominanz zu etablieren: „Ich tue alles, um diese Strukturen zu überwinden, um erfolgreich zu sein, um reich zu sein.“ Geld, Macht, Berühmtheit sind die fundamentalen Säulen, um die sich diese Gescheiterten versammeln. Das Dasein als Terrorist versieht diese jedoch noch mit dem Überbau Teil einer historischen Mission zu sein. Nach dem Islamwissenschaftler Michael Kiefer sind derzeit extremistische Gruppierungen „Auffangbecken für die Verunsicherten, für die Chancenlosen, für die, die sich an den Rand gedrängt fühlen, mit Schule oder Familie nicht klarkommen, die in einer Identitätskrise stecken. Die Salafisten locken sie nicht nur mit religiösen Inhalten, sondern auch mit dem Gefühl, wichtig zu sein, Teil einer großen Sache (…).“Aber auch gebildete junge Muslime, so Kiefer, fühlen sich durch ein Gerechtigkeitsmotiv angetrieben, „überzeugt davon, Muslime seien die Opfer der Weltpolitik, für die man kämpfen müsse.“ In einer jihadistischen Schrift, unbekannten Autors, die im Internet kursiert heißt es:
„Wie ist es möglich, die nominellen Regeln des Islam zu lesen und nicht zu überlegen, wie es kam, dass die Muslime in Palästina und Anderswo ihre Freiheit verloren – durch jene, die ihnen ihre Machtmittel nahmen, „moderne islamische“ Regierungen und ihre Heuchler, die dem Feind zu gefallen suchten (…). Jene Regierungen die mit ihren Heuchlern sich beeilen, an Konferenzen in Rom teilzunehmen, sich mit Bischöfen auszutauschen, ihre Ringe zu küssen, während sie uns ihre Eid-Karten statt der Weihnachtskarten schicken die sie so gerne schicken würden. Als wenn das noch nicht genug wäre, sitzen sie auch noch mit den Rabbis im Schatten der jüdischen Kandelaber zusammen und lesen laut aus der Torah, während die Rabbis fordern, unsere „Brüderschaft“ mit ihnen durch die Erlaubnis, Mekka und Medina besuchen zu dürfen, bestätigt zu bekommen. Dies geschah in London. Entweder stehen sie unter unseren Befehl oder wir sind ihre gekauften Sklaven. Die Sachverhalte sind deutlich.“
Sicherlich, mit der Zivilisation zu brechen und diese durch etwas zu ersetzen, in dem man sich wiederfinden, stellt augenscheinlich die krasseste Option dar, denn sie erfordert die Verrohtheit, anderen Menschen zu schaden, zu verletzen und zu töten. Aber in meinen Arbeiten mit Jugendlichen bin ich genau dieser Verrohtheit begegnet, die deutlich macht, wie dünn der Ölfilm der Zivilisation ist: Jugendliche, die erklären, dass sie auf der Straße aufgewachsen sind und gelernt haben, sich mit ihren Fäusten durchzusetzen. Jugendliche, die sich abends Enthauptungsvideos auf dem Handy anschauen als wären diese Teil eines Unterhaltungsprogramms. Was diese Jugendlichen gemeinsam hatten: ein nicht existentes oder liebloses, unreligiöses höchst autoritäres Elternhaus, keine tiefere Wertevermittlung, keine Bildung, keine Vorbilder, keine Zukunftsperspektive und somit auch keine Kultiviertheit.
Erleichtert wird dieser Tabubruch, wenn man sich dabei als Teil einer größeren Sache sehen kann, die jedes Mittel rechtfertigt, um das erhoffte Ziel zu erreichen. Das religiöse Moment im verbrämten islamisch begründeten Terrorismus liegt in der Selbsterhöhung und des berechtigten Tötens anderer, indem man sich gottgleiche Macht anmaßt.
Die wirtschaftliche und soziale Perspektivlosigkeit kann also für junge Menschen enorme psychologische Folgen in der Form einer Entgrenzung haben, die an eine extreme Ideologie andockt. Die Vorarbeit für letzteres leisteten zum einen der Wahhabismus mit seinem Erwählungsgedanken und zum anderen der ideologische Salafismus mit seiner Umwandlung des Islam in ein geschlossenes politisches System. Beides ein Bruch mit der historisch gewachsenen muslimischen Gemeinschaft, die nun durch ein extremistisches und zutiefst selektives Islamverständnis im Namen verratener Ideale bekämpft wird. Dieses Islamverständnis baut auf Versatzstücken aus dem Qurʾān, den Lehren des Wahhabismus und des ideologischen Salafismus, einer Kritik am Westen, wie auch an der muslimischen Gemeinschaft und einem modernen Märtyrerkult auf. Ein deutschsprachiger Muslim, der in den Reihen der Taliban kämpft, hat diese neue Geisteshaltung in einem Satz präzise auf den Punkt gebracht: „Wir sind nicht gekommen, um zu siegen, sondern um getötet zu werden.“ Der Politikwissenschaftler Olivier Roy sagt über dieses Islamverständnis:
„Es ist nihilistisch, was überhaupt nicht der islamischen Tradition entspricht. Sie entwickeln eine Faszination für die Ästhetik der Gewalt, die sie aus Filmen und Videos kennen. Darin ähneln sie mehr den Amokläufern an der Columbine Highschool oder dem Massenmörder Anders Behring Breivik. (…) Ich streite die religiöse Dimension nicht ab. Sie ist wichtig, denn auf diese Weise können die Dschihadisten ihren Nihilismus in die Verheißung des Paradieses uminterpretieren. Ihr Selbstmord wird zur Garantie für das totale Leben. Ich betone nur: Diese jungen Leute kommen nicht aus der muslimischen Gemeinschaft. Die meisten haben keine religiöse Vorbildung, waren nur selten in der Moschee. Fast alle waren zuvor Kleinkriminelle. Sie haben Alkohol getrunken und Rauschgift konsumiert.“
Dieser Extremismus sieht sich in einem permanenten Krieg gegen alle Nichtmuslime und alle Muslime, die sich ihnen in den Weg stellen. Letztere stellen das bestehende „System“ der Dominanz dar, das überwundern werden soll. Dieser Krieg wird in keinem Sinne militärisch durchdacht oder strategisch ausgefochten, sondern die gesamte Welt wird als Front betrachtet mit dem Ziel, möglichst viele Menschen des „Systems“ zu töten.
Dieses pervertierte Islamverständnis konnte sich auch im Westen bei Nichtmuslimen, die nicht in den historisch gewachsenen Islam, sondern in den Extremismus konvertierten, und unter geborenen Muslimen verbreiten, da es der Westen selber war, der den Islam zunehmend zu einem Ersatzfeindbild für die Sowjetunion umdeutete. Pierre Vogel oder Sven Lau sind autochthone Deutsche, aber nie schien sich jemand dafür zu interessieren, weshalb diese zu einer extremistischen und pervertierten Form des Islam konvertierten. In Orient und Okzident ist der Islam zu einer Gegenideologie degradiert worden, zu einer Religion der Rebellion, die gegen die bestehenden Verhältnisse aufbegehrt und die einen globalen utopischen theokratischen Staat errichten will. Zu dieser Utopie fühlen sich sozial benachteiligte junge Menschen angezogen. Sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft der Gescheiterten und Wütenden und der Islam wird für sie zu einem Lifestyle der Rebellion. Durch diesen pervertierten Islam erhalten junge Menschen erstmals wieder das Gefühl, wichtig zu sein und gebraucht zu werden. In ihrer Gemeinschaft finden sie Anerkennung und eine Lebensaufgabe. Doch zugleich ist es eine Gemeinschaft, die sich lediglich durch eine Abgrenzung zum anderen definiert und deren Religiosität sich auf eine starke Betonung des Äußeren zum Zwecke des Andersseins konzentriert. Die große Unkenntnis über den Islam bei muslimischen Gewalttätern haben gerade auch „geleakte“ Dokumente des IS belegt, wonach über 70 Prozent der IS-Rekruten angegeben haben, dass sie nur die Grundlagen des Islam kennen.
Eine destruktive Grenzüberschreitung, so erklärt der Psychoanalytiker Rainer Funk, ist Folge der Verhinderung von Kreativität. Wer sich als sinnlos und machtlos in der Welt empfindet, wer die Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hat, dem bleibt nur noch, sich an der als wertlos und sinnlos empfunden Welt in zerstörerischer Weise zu rächen. Terroranschläge und Selbstmordattentate sind dann die höchsten Ausdrucksformen dieses Rachegeistes. Hierdurch konstruieren Extremisten sich die Wirklichkeit neu und anders.
„Je mehr die Muslimfeindlichkeit anwächst, je weniger zwischen Muslimen und muslimischen Gewalttätern, zwischen Islam und islamisch verbrämten Terror unterschieden wird, desto besser für den IS.“
Der entfesselte Extremismus hat für das Leben nichts übrig. Vielmehr fühlt er sich angezogen vom Töten und von Toten, von der Lust anderen Leid zu zufügen oder leiden zu sehen, sie zu verletzen, ihnen gegenüber grausam zu sein, sie zu beschämen und zu demütigen, was an den Inszenierungen von Selbstmordanschlägen und dem Köpfen von Unschuldigen deutlich wird. Erst durch diese nekrophile Charakterorientierung erleben sich Extremisten als wirklich frei. Sie, die sich als machtlos empfunden haben, wollen nun über alle Lebensdinge verfügen, doch nicht auf eine konstruktive und schöpferische Weise, hierzu sind sie nicht mehr fähig, sondern auf eine todbringende Weise.
In der Selbstzerstörung und der Zerstörung des anderen erfolgt im Denken des Extremisten eine Reinigung der Welt. Durch die Auslöschung des Selbst und der anderen erfolgt das Nichtsein und somit die eigene Erlösung.
Der Islam muslimischer Extremisten ist ein imaginärer, ein selbst gebastelter Islam, der ein deutlich nihilistisches Wesen aufweist. Das Ziel dieses nihilistischen Extremismus ist das Nichtssein, um auf diese Weise Erlösung in Gott zu erfahren. Zerstörung gibt für sie einen Sinn, Zerstörung ist für sie sinnstiftend.
Anschläge gegen Nichtmuslime im Herzen Europas sind nicht nur ein Mittel um bestehende Dominanzstrukturen anzugreifen, sondern auch um die muslimische Gemeinschaft in Europa unter Druck zu setzen. Indem Europäer muslimischen Glaubens in ihren Gesellschaften durch Politik und Mehrheitsgesellschaft infolge von Terroranschläge marginalisiert werden, will der Extremismus nicht nur den Widerstand der historisch gewachsenen muslimischen Gemeinschaft gegen ihn brechen, sondern auch neue Anhänger gewinnen, die ihrerseits Anschläge ausführen. Das ist das perverse Kalkül des Extremismus. Je mehr die Muslimfeindlichkeit anwächst, je weniger zwischen Muslimen und muslimischen Gewalttätern, zwischen Islam und islamisch verbrämten Terror unterschieden wird, desto besser für den IS. Er wartet mit offenen Armen auf jene, die am sozialen Rand stehen, jene die aufgegeben und ausgegrenzt wurden und die sich mit einfachen Weltbilder und -erklärungen einfangen lassen. Machen wir es in Europa also dem IS nicht noch leichter, indem wir ihm zuarbeiten.
Den Kampf gegen den IS können wir gewinnen, wenn wir ihm in sein Rekrutierungsprogramm rein grätschen. Dazu braucht es ein umfangreiches soziales Programm, das sich jenen in unseren Gesellschaften annimmt, die vergessen wurden. Dazu gehört eine Besinnung darauf, dass in unserer Demokratie alle Bürger zum gesellschaftlichen Wir gehören – auch Juden und Muslime. Gerade die Wir-Ihr-Diskurse der vergangenen zwei Jahrzehnte haben deutlich gemacht, dass das europäische Demokratieverständnis noch zu tribalistisch ist. Das muss sich ändern, denn wer sich dazugehörig fühlt, hasst die Gesellschaft nicht, in der er lebt. Wer verwurzelt mitten in der Gesellschaft lebt, setzt diese und sich nicht in Brand. Des Weiteren braucht es die Moscheen als zivile Partner, denn sie sind Orte der Wertevermittlung, Liebe und Freude.
Die Strategie des IS und zuvor der Al-Qaida ist es, in den europäischen Gesellschaften zu intervenieren und diese umzuwandeln, indem das Schlechteste in ihnen vorherrschend wird. Und bisher ist diese Strategie aufgegangen. Hier gilt es gegenzusteuern, indem wir das Beste in unseren Gesellschaften hervorheben: Mitgefühl für die Schwachen und Armen, Nächstenliebe, Gleichheit, Religionsfreiheit, Streben nach sozialer Gerechtigkeit, Eintreten für die Verwundeten. Diese Funken sind Ideale, die uns danach Streben besser zu sein als wir sind. Hieran gilt es sich gerade in düsteren Zeiten zu orientieren. Nicht Theologie, sondern vielmehr Marx kann uns hier den Weg weisen, schließlich prägt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein. Meinung
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