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Gabriele Boos-Niazy, Kopftuch, Muslime, Islam, Kopftuchverbot, Religionsfreiheit
Gabriele Boos-Niazy © Claim, Laurent Hoffmann, Zeichnung: MiG

Kopftuchverbot

Wenn das Kopfkino Verfassungsrang beansprucht

Berlins Justizsenator Behrendt will Lehrkräften im Schuldienst das Tragen religiös konnotierter Bekleidung erlauben. Seine Kritiker offenbaren problematische Denkmuster.

Von Donnerstag, 28.01.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 31.01.2021, 12:49 Uhr Lesedauer: 29 Minuten  |  

Der Berliner Justizsenator, Dirk Behrendt (Grüne), will Lehrkräften zukünftig erlauben, im Schuldienst eine religiös konnotierte Bekleidung zu tragen. Dies wird von verschiedenen Politiker:innen, Lehrer:innenvertretern und der Juristin Seyran Ates scharf kritisiert. Sie befürchten eine Störung des Schulfriedens. Auch wenn Befürchtungen keine rechtlich zulässige Grundlage für Grundrechtseinschränkungen sind, ist ein Blick darauf notwendig, denn es offenbaren sich problematische Denkmuster.

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Am 6.1.2021 schrieb der Tagesspiegel1, der Berliner Justizsenator wolle Lehrkräften erlauben, im Schuldienst religiöse Symbole zu tragen. Damit folgte er einer im August 2020 ergangenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Auch wenn diese bisher nicht schriftlich vorliegt, lässt schon die Pressemitteilung des BAG keinen Zweifel daran, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts von 2015 nach § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz auch für Berlin gelten und das Berliner Neutralitätsgesetz entsprechend auszulegen ist. Das bedeutet: Das bisher geltende pauschale Kopftuchverbot ist nicht zulässig.

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Die Entscheidung des Justizministers sollte also business as usual in einer Demokratie sein: Jemand sieht sich vom Staat in seinen Rechten eingeschränkt, klagt, ein Gericht fällt ein Urteil zugunsten des Klagenden, die staatliche Verwaltung richtet ihr Handeln nach dem Urteil aus. Die Erlaubnis zum Tragen religiöser Zeichen (nicht nur des Kopftuchs) im Schuldienst sollte also den gleichen Neuigkeitswert haben, als habe der Justizsenator verlautbart, Bewerber:innen dürften ab sofort nur anhand ihrer Qualifikation und nicht aufgrund ihres Geschlechts eingestellt oder abgelehnt werden. Doch die zum wiederholten Mal teils heftigen Reaktionen offenbaren, dass etliche Politiker:innen und Schulverantwortliche in Berlin sehr eigene Vorstellungen davon pflegen, für wie verbindlich sie Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts halten – von Gerichtsentscheidungen unterhalb dieser Ebene ganz zu schweigen. Wenn höchstrichterliche Urteile nur noch als „Richtschnur“ verstanden werden, an die man sich halten kann, aber nicht muss, dann ist das eine Ermunterung zum „Widerstand“ für all diejenigen, die unzufrieden sind, wenn Gerichte nicht so entscheiden, wie sie sich das vorstellen. Wohin das führt und was das für den gesellschaftlichen Frieden bedeutet, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

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Abstrakte und konkrete Gefahren

Das Bundesverfassungsgericht entschied 2015, dass ein pauschales Kopftuchverbot aufgrund einer lediglich abstrakten (d.h. erwarteten, angenommenen) Gefahr ein unverhältnismäßiger und damit nicht zulässiger Eingriff in die Religionsfreiheit ist. Nur eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität können unter bestimmten Bedingungen ein Verbot im Einzelfall begründen.2

„Der Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Gefahr ist der Dreh- und Angelpunkt in der Debatte und wird entweder mangels Rechtskenntnissen falsch verstanden oder in voller Absicht ignoriert.“

Der Unterschied zwischen abstrakter und konkreter Gefahr ist der Dreh- und Angelpunkt in der Debatte und wird entweder mangels Rechtskenntnissen falsch verstanden oder in voller Absicht ignoriert. Für diejenigen, die sich mit rechtlichen Begriffen schwertun, hilft ein Beispiel aus dem Alltag: Ein abstrakter Gewinn im Lotto und ein konkreter Gewinn unterscheiden sich darin, dass man im ersten Fall außer der Vorstellung, wie es wäre, wenn man Geld gewonnen hätte, nichts vorzuweisen hat, im zweiten Fall hat man das Geld tatsächlich in Händen.

Nicht anders verhält es sich mit den zahlreichen Gefahren, die in der Folge der Entscheidung des Justizsenators von unterschiedlichen Seiten beschrieben wurden: Sie sind abstrakt. Sie existieren zunächst einmal lediglich in den Köpfen derjenigen, die sich ausmalen, was passieren könnte, wenn eine Lehrerin mit Kopftuch an einer Schule unterrichten würde. Mit solchen Gedankenspielen – seien sie nun eine Hochrechnung von an Schulen tatsächlich existierenden Konflikten oder völlig aus der Luft gegriffen – lassen sich nun einmal keine gesetzlichen Verbote begründen. Erst recht lassen sich damit keine Eingriffe in die Religionsfreiheit begründen, die in der Regel Minderheiten schützt und der daher rechtlich mehr Gewicht beigemessen wird als der allgemeinen Handlungsfreiheit.

Furcht vor Elternwünschen und Zwang zur Einstellung Unqualifizierter

Werfen wir einen Blick auf die in verschiedenen Artikeln genannten pädagogischen und rechtlichen Argumente gegen die verfassungsgemäße Auslegung des Neutralitätsgesetzes, d.h. konkret, gegen die Zulassung von Lehrerinnen mit Kopftuch.

Die stellvertretende Vorsitzende der Interessensgemeinschaft Berliner Schulleitungen (IBS), Karina Jehniche, nennt zahlreiche, aus ihrer Sicht schlagende Gründe dafür, das Verbot entgegen der Gerichtsentscheidung beizubehalten.3 So befürchtet sie, Schüler könnten verlangen, „nur noch von einer Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet zu werden“ und Eltern diese Forderung durchsetzen wollen. Dieser Debatte würde Tür und Tor geöffnet, wenn das Neutralitätsgesetz anders ausgelegt würde: „Dann ginge es nicht mehr um pädagogische Fähigkeiten, sondern um die Akzeptanz aufgrund äußerer Symbole.“4 Wie realistisch das Auftreten einer solchen Forderung tatsächlich auch immer sein mag, ist doch anzunehmen, dass Schulen fachlich ausreichend qualifiziert sind, damit in gleicher Weise umgehen, wie mit anderen Forderungen oder Wünschen, die Eltern oder Schüler:innen so äußern. Welche Schule hat noch nie erlebt, dass Eltern gern ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Klassen- oder Fachlehrer:in hätten oder der Auswahl der Klasse oder der Schulbücher? Wird darauf auch so panisch und ratlos reagiert? Es gibt Dinge, bei denen Eltern ein Mitspracherecht haben und solche, bei denen sie es nicht haben. Dies ebenso freundlich wie nachdrücklich zu kommunizieren und gegebenenfalls auch auf die Beschwerdewege für Eltern hinzuweisen, gehört zu den (wenn auch vielleicht nicht beliebten) Aufgaben von Pädagog:innen.

„Das Offensichtliche dagegen sieht sie nicht: Bisher wurden Lehrerinnen mit Kopftuch auch dann nicht eingestellt, wenn ihre Qualifikation besser war, als die der Mitbewerber:innen.“

Zudem sieht Karina Jehniche ihr Recht auf die Einstellung der qualifiziertesten Lehrkraft eingeschränkt: „Bisher stelle ich als Schulleiterin in Eigenregie die Pädagogen und Pädagoginnen ein, die ich haben möchte. Ich entscheide nach pädagogischen Gesichtspunkten und schaue, ob jemand ins Team passt. Aber wenn jetzt das Kopftuch getragen werden darf: Muss ich dann jemanden mit Kopftuch quotenmäßig einstellen, obwohl ich von seinen pädagogischen Fähigkeiten nicht überzeugt bin? Und wenn ich es nicht tue, muss ich dann meine Entscheidung sogar rechtfertigen.4 Woher die absurde Idee stammt, die verfassungsgemäße Auslegung des Neutralitätsgesetzes könne zu einer Verpflichtung führen, eine Lehrkraft nicht aufgrund ihrer Qualifikation, sondern aufgrund ihrer Bekleidung einstellen zu müssen, bleibt das Geheimnis der stellvertretenden Vorsitzenden der IBS und Leiterin der Christian-Morgenstern-Schule in Spandau. Das Offensichtliche dagegen sieht sie nicht: Bisher wurden Lehrerinnen mit Kopftuch auch dann nicht eingestellt, wenn ihre Qualifikation besser war, als die der Mitbewerber:innen. Dagegen hätte Karina Jehniche ja eigentlich Sturm laufen müssen; schließlich sollen nur die qualifiziertesten Lehrkräfte ihre Schüler:innen unterrichten. Sinn ergibt diese Aussage bestenfalls, weil qualifizierte Lehrerinnen mit Kopftuch bisher in ihrem Erfahrungshorizont nicht vorkommen, schlimmstenfalls, weil sie der Überzeugung ist, dass eine Lehrerin mit Kopftuch pädagogisch per se nicht qualifiziert sein kann, eben weil sie ein Kopftuch trägt.

Vorbildlich kann nur sein, kein Kopftuch zu tragen

Ein positives Vorbild für muslimische Schüler:innen (von nicht-muslimischen ganz zu schweigen) sein zu können, wird kopftuchtragenden Lehrerinnen pauschal abgesprochen. So konstatiert Karina Jehniche: Die Anwesenheit kopftuchtragender Lehrerinnen in der Schule wäre eine Bestärkung muslimischer Schüler im Jugendalter, die „[…] ohnehin [sagen], sie heirateten nur eine Frau, die Kopftuch trage, weil die über bestimmte moralische Werte verfüge“.4 Und: „Für das kleine Kind ist die Lehrerin eine wichtige Bezugsperson, sie zieht quasi mit in die Familie […]. Was die Lehrerin sagt, finden sie gut.“4 Der Vorsitzende des Landesverbands Berlin des Verbands der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer Deutschlands, Peter Stolz befindet: „Für Mädchen werde es noch schwieriger als jetzt schon, sich frei für eine Religion zu entscheiden, wenn ihre Lehrerin ihren Kopf aus religiösen Gründen bedeckt halte.“4

Diese Aussagen senden unmissverständlich zwei Botschaften: Eine kopftuchtragende Lehrerin hat eine Eigenschaft, die negativ bewertet wird und alles andere ihrer Persönlichkeit überdeckt – sie hat sich dafür entschieden, eine religiöse Regel, die sie für verbindlich hält, auch umzusetzen – und die Übernahme dieser Eigenschaft durch muslimische (und nicht-muslimische) Kinder muss unbedingt verhindert werden. Die zweite Botschaft: Muslimischen Eltern, die ihre Kinder religiös erziehen, muss in der Schule etwas entgegengesetzt werden, es muss eine Umerziehung zur Freiheit im Sinne der Freiheit von Religion, insbesondere vom Islam erfolgen. In die muslimischen Familien muss quasi eine nicht-muslimische Lehrerin mit einziehen, damit Kinder die Möglichkeit haben, etwas anderes gut zu finden, als das, was ihre Eltern gut finden. Jeder, der jetzt: „Genau!“ denkt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass – gleiches Recht für alle – damit auch seine (rechtlich absolut zulässige) Lebensgestaltung zur Disposition steht und der Tag kommen könnte, an dem der Staat beschließt, auch seine Kinder müssten vor ihm „in Schutz genommen“ werden.

Zu guter Letzt: Muslimische Jungen, die nur eine Frau mit Kopftuch heiraten wollen, kommen spätestens dann ins Grübeln, wenn die Lehrerin mit Kopftuch sie an den gleichen Maßstäben misst, wie ihre gleichermaßen motivierten oder unmotivierten Mitschüler:innen. Von einer vermeintlichen „Abla“ gemaßregelt zu werden, dürfte den Sinn für die Realität und Vielfalt „der muslimischen Frau mit Kopftuch“ schärfen (und das Kollegium lernt dabei vermutlich ebenfalls etwas).

Mangelhaftes Verständnis staatlicher Neutralität

„Ein „neutrales“ Umfeld ist aus verfassungsrechtlicher Sicht eben nicht – wie Hikel und Korte fälschlicherweise meinen – ein religionsfreies Umfeld.“

Damit sind wir beim Thema Neutralität oder dem, was Karina Jehniche, Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) oder Neuköllns Bildungsstadträtin Karin Korte darunter verstehen.4 Für Martin Hikel ist die staatliche Neutralität die Basis einer diskriminierungsfreien Gesellschaft ohne religiöse Beeinflussung, für Karin Korte müssen Schulen ein „neutrales Umfeld bieten, in dem Kinder frei von religiöser Beeinflussung lernen können“, dazu brauche es das Neutralitätsgesetz.4 Was Hikel und Korte – wissentlich oder unwissentlich – nicht berücksichtigen: Die Vorgabe der Nicht-Beeinflussung bezieht sich verfassungsrechtlich gesehen auf Aktionen und Äußerungen des Staates. Die bloße staatliche Erlaubnis zum Tragen religiös motivierter Bekleidung im Staatsdienst bedeutet – so das Bundesverfassungsgericht – jedoch keine Identifikation des Staates mit dieser Religion und verstößt daher nicht gegen seine Neutralitätspflicht.5 Ein „neutrales“ Umfeld ist aus verfassungsrechtlicher Sicht eben nicht – wie Hikel und Korte fälschlicherweise meinen – ein religionsfreies Umfeld.

Die Forderungen von Jehniche: „Die Schule muss ein neutraler Ort bleiben, an dem normale demokratische Werte vermittelt werden“, Schule habe die Aufgabe, über Religion zu informieren, aber nicht zu bewerten, welche Religion besser ist als andere, man wolle Anregungen geben und breit humanistisch bilden, aber nicht Kinder in eine Richtung drängen, jeder dürfe natürlich seine Religion frei wählen, aber eine Pädagogin solle nicht in eine bestimmte Richtung drängen,3 sind absolut richtig. Dass sie allerdings meint, das sei derzeit der Fall und die Zulassung von Lehrkräften mit religiös motivierter Kleidung zerstöre diesen paradiesischen Zustand, zeigt auch bei ihr eine frappierende Unkenntnis davon, was staatliche Neutralität im Allgemeinen und sie einzuhalten im Besonderen überhaut bedeutet.

Im Hinblick auf die Debatte hat diese Neutralität, zu der der Staat verpflichtet ist, zwei Komponenten: Zum einen können religiöse wie nicht- oder areligiöse Gruppen die gleichen Rechte beanspruchen, aber auch nur lediglich die gleichen Rechte. Zum anderen darf der Staat die Inhalte religiöser und weltanschaulicher Auffassungen nicht bewerten (sofern sie sich im rechtlich zulässigen Rahmen bewegen) und die einen vor den anderen bevorzugen, auch wenn ihm (hinter vorgehaltener Hand) manche Auffassungen sympathischer sind als andere. Wenn aus der Sicht von Karina Jehniche eine neutrale, an „normalen“ demokratischen Werten, humanistische, nicht in eine Richtung drängende (nicht-indoktrinierende) schulische Erziehung nur möglich ist, wenn Lehrkräfte mit religiös motivierter Bekleidung ausgeschlossen sind, dann ist dies exakt die Bewertung (dieser Lehrkräfte und ihrer Religionen), der sie sich aufgrund ihrer Verpflichtung zur staatlichen Neutralität eigentlich enthalten muss. Maßgeblich sollte für sie (und die Kolleg:innen, die sie vertritt) vielmehr die Aussage des Bundesverfassungsgerichts sein: Einer Lehrerin mit Kopftuch kann nicht unterstellt werden, sie demonstriere eine Auffassung, die sich gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung, Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte.6

Staatliche Neutralität als Basis

„Staatliche Neutralität garantiert also die gleiche Behandlung aller Religionen und Weltanschauungen und nicht eine auf einer staatlichen Interpretation von Religionen oder Weltanschauungen fußende Unterscheidung zwischen solchen Religionen und Weltanschauungen, die sichtbar sein dürfen und solchen, die nicht sichtbar sein dürfen.“

Staatliche Neutralität garantiert also die gleiche Behandlung aller Religionen und Weltanschauungen und nicht eine auf einer staatlichen Interpretation von Religionen oder Weltanschauungen fußende Unterscheidung zwischen solchen Religionen und Weltanschauungen, die sichtbar sein dürfen und solchen, die nicht sichtbar sein dürfen. Wäre die von Jehniche und Anderen konstatierte Neutralität an Berliner Schulen tatsächlich schon gelebter Alltag, hieße das: Ausnahmslos keine Lehrkraft kommentiert das Vorhandensein oder das Nicht-Vorhandensein eines religiösen oder weltanschaulichen Zeichens von Schüler:innen positiv oder negativ. Kann Berlin von sich behaupten, dass dies tatsächlich so ist, z.B. keine muslimische Schülerin je einer Lehrkraft gegenüber dafür Rede und Antwort stehen musste, warum sie ein Kopftuch trägt? Die empirischen Untersuchungen zur Diskriminierung in der Schule lassen diesen Schluss leider nicht zu.

Dass Karina Jehniche befürchtet, eine Lehrerin mit Kopftuch könne „diese Neutralität“ nicht glaubhaft vermitteln, oder der Vorsitzende des Landesverbands Berlin des Verbands der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer Deutschlands, Peter Stolz, voller Überzeugung urteilt, eine Lehrerin, die ihren islamischen Glauben „so demonstrativ“ lebe, könne Schüler:innen nicht neutral fördern, gründet auf ihren falschen Vorstellungen davon, was die Verpflichtung der Lehrkräfte zur Neutralität tatsächlich bedeutet. Die von Karina Jehniche zu Recht erhobene Forderung, eine Pädagogin dürfe zur Aufrechterhaltung der staatlichen Neutralität die Schüler:innen nicht beeinflussen, impliziert aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht, dass ihre Religionszugehörigkeit äußerlich nicht erkennbar sein darf. Das Bundesverfassungsgericht hat daran keinen Zweifel gelassen: Das bloße So-Sein einer kopftuch- oder kippatragenden Lehrkraft stellt keine konkrete Gefahr dar, denn dieser Anblick wird „[…] durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen […] Insofern spiegelt sich in der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die religiös-pluralistische Gesellschaft wider.“7

Gerade, dass der Staat dieses Spiegeln des Pluralismus in seinen Strukturen ermöglicht und nicht von vornherein bestimmte Gruppen ausschließt, ist Resultat der staatlichen Neutralität. Die Grenze des erlaubten Verhaltens (nicht Aussehens!) verläuft für Lehrkräfte mit und ohne religiös motivierte Bekleidung an der gleichen Stelle, nämlich dort, wo eine Indoktrination anfängt. Das ist dann der Fall, wenn Lehrkräfte die Lebensweisen, Religionen, Weltanschauungen, Kulturen, Kleidungsgewohnheiten usw. ihrer Schüler:innen gemäß ihrer eigenen Vorstellungen als richtig oder falsch, erwünscht oder unerwünscht, fortschrittlich oder zurückgeblieben bewerten und darüber gegenüber den Schüler:innen keinen Zweifel lassen. (Wir reden hier ausdrücklich nicht davon, dass Rechtsbrüche jeglicher Art nicht kommentiert und bewertet werden dürften.)

Können kopftuchtragende Lehrerinnen aus ihrer vermeintlichen Haut?

Wie groß der Einfluss der eigenen, gewiss nicht mehr als neutral zu bezeichnenden Bewertung „des Islam“ die eigene Vorstellungswelt prägt, zeigt die Äußerung des Vorsitzenden des Landesverbands Berlin des Verbands der Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer Deutschlands, Peter Stolz. Er stellt die Frage, wie sich eine Lehrerin mit Kopftuch in einer Klasse mit mehrheitlich muslimischen Schüler:innen verhalte, wenn es um die Frage gehe „[…] wie [bewertet] man den Mord an einem Lehrer wie Samuel Paty […], der wegen Mohammed-Karikaturen ermordet wurde? Argumentiert sie auf dem Boden des Grundgesetzes?“3

„Wie würde Herr Stolz die Frage empfinden, ob man sich wohl darauf verlassen könne, dass eine deutschstämmige (nichtmuslimische) Lehrkraft gegenüber deutschstämmigen (nichtmuslimischen) Schüler:innen auf dem Boden der Verfassung argumentieren werde, wenn es um die Ermordung der Shisha-Bar-Besucher in Hanau geht?“

Das ist bei Licht betrachtet eine ungeheuerliche Frage, aber Muslim:innen sind es hinlänglich gewohnt, dass ihre Loyalität zu dieser Rechtsordnung permanent in Frage gestellt wird und selbst der (im Falle einer Verbeamtung) öffentliche Schwur darauf, als taktisch motiviert verdächtigt wird. Eine Taktik, die – darauf lässt das Szenario einer Klasse mit mehrheitlich muslimischen Schüler:innen schließen – fallen gelassen wird, wenn man sich „unter eigenen Leuten“ wähnt. Gerade als Vorsitzender eines Verbandes von Geschichtslehrer:innen sollte Peter Stolz um die Macht von Stereotypen und die Gefahr ihrer Verbreitung eigentlich wissen. Doch selbst wenn man davon nicht ausgeht, wäre Empathie, über die Pädagogen ja verfügen, hilfreich: Wie würde Herr Stolz die Frage empfinden, ob man sich wohl darauf verlassen könne, dass eine deutschstämmige (nichtmuslimische) Lehrkraft gegenüber deutschstämmigen (nichtmuslimischen) Schüler:innen auf dem Boden der Verfassung argumentieren werde, wenn es um die Ermordung der Shisha-Bar-Besucher in Hanau geht? Er wäre empört? Das wäre verständlich. Wenn er – oder jemand anderer – aber der Auffassung ist, das seien zwei verschiedene Paar Schuhe, weil deutschstämmige (nichtmuslimische) Lehrkräfte natürlich immer in verfassungskonformer Art und Weise denken und agieren, deutsche muslimische Lehrkräfte aber aufgrund ihrer Religion, Sozialisation, ihres So-Seins einer grundsätzlich anderen Denkweise folgen, dann sind wir beim Kern des Problems: Dieses „Weil sie eben so sind, wie sie sind“ ist die Essenz des Rassismus.

Erfahrungen in Bundesländern mit kopftuchtragenden Lehrerinnen

Alle genannten Befürchtungen, sprich die abstrakten Gefahren, wurden auch von Kopftuchverbotsbefürwortern in anderen Bundesländern nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2015 beschworen. In NRW prophezeite Michael Bertrams, der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs NRW damals eine umgehende Störung des Schulfriedens und die Unterwanderung durch Lehrerinnen, die dem politischen Islam nahestehen. Einzelne Lehrer- und Schulleiterverbände in NRW, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern beschworen die gleichen Szenarien, wie die Berliner Verbandsvertreter:innen sie an die Wand malen. Eingetreten ist bis heute davon: Nichts. Gibt es tatsächlich keinen Austausch der Verbände über Landesgrenzen hinweg? Oder werden Fragen nach tatsächlich zu erwartenden Problemen nicht gestellt, weil man die Antworten darauf nicht wissen möchte, um ein vermeintlich gutes Argument zur Aufrechterhaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes in seiner derzeitigen unzulässigen Auslegung behalten zu können?

Wie umgehen mit Fragen von Schüler:innen nach dem Kopftuch?

„Aus den Bundesländern, in denen Lehrerinnen mit Kopftuch arbeiten, wissen wir, dass sie nichts mehr fürchteten, als dass die Zahl der Schülerinnen mit Kopftuch zunehmen würde. Nicht, weil sie das Kopftuchtragen für falsch hielten, sondern weil sie Angst hatten, der Indoktrination bezichtigt zu werden.“

In Berlin wird die Sichtbarkeit von Religion im öffentlichen Raum seit jeher heftiger debattiert, als in den meisten anderen Bundesländern. Das zeigen auch die Fragen danach, wie vorzugehen sei, wenn Schüler:innen die Lehrerin nach dem Grund ihres Kopftuchtragens fragten oder ob es zulässig sein solle, persönliche religiöse Diskussionen in der Schule zu führen. Die Antwort ist einfach: Eine Lehrerin mit Kopftuch darf ihren Schüler:innen auf Nachfrage sagen, dass sie das Kopftuch aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit trägt. Sie kann auch sagen, dass der Entschluss dazu ein persönlicher ist, den jede Frau für sich allein fällen muss und dass das Tragen oder Nicht-Tragen eines Kopftuches kein Qualitätskriterium des Glaubens ist. Sie kann darauf hinweisen, dass man über das Thema mit seinen Freund:innen, Eltern, Geschwistern, im islamischen Religionsunterricht oder der Moschee reden kann. Sie kann jedoch keine persönliche religiöse Diskussion führen, Bewertungen oder Ratschläge abgeben, die Mädchen dazu ermuntern oder gar drängen, ebenfalls ein Kopftuch zu tragen. (Theoretisch darf sie es ihnen aber auch nicht ausreden, wenn sie sich dazu entschließen) Aus den Bundesländern, in denen Lehrerinnen mit Kopftuch arbeiten, wissen wir, dass sie nichts mehr fürchteten, als dass die Zahl der Schülerinnen mit Kopftuch zunehmen würde. Nicht, weil sie das Kopftuchtragen für falsch hielten, sondern weil sie Angst hatten, der Indoktrination bezichtigt zu werden. Tatsächlich war die Furcht unbegründet, ein Anstieg der Zahl der Schülerinnen mit Kopftuch in Klassen von Lehrerinnen mit Kopftuch war nicht festzustellen.

Abstimmung über Grundrechte?

Die Säkularen Grünen suchen nach einem anderen Weg, um die verfassungskonforme Auslegung des Neutralitätsgesetzes zu verhindern. So ließ ihr Sprecher Walter Otte verlauten, es gehe nicht nur um das Kopftuch, sondern generell um eine bestimmte Religionspraxis: „Evangelikale Christen warten nur auf neue Handlungsfelder.“4 Die Angst davor, dass auch andere missliebige Gruppen Rechte in Anspruch nehmen könnten, war jedoch noch nie ein rechtlich stichhaltiger Grund, sie denjenigen, denen sie zustehen, vorzuenthalten. Das sollte Otte, der auch Sprecher der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz ist, als Jurist eigentlich wissen.

Welchen Blick die Säkularen Muslime und die Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz auf die Verbindlichkeit von Gerichtsurteilen haben, illustriert die Aussage von Otte, Indizien zufolge seien „einfache Parteimitglieder“ gegen religiöse Symbole in Schulen und man erwäge einen Mitgliederentscheid, sowie ein Volksbegehren der Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz.4 Natürlich kann jeder solche Entscheide und Begehren starten, aber zu suggerieren, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts durch Abstimmungen bestimmter Gruppen oder Initiativen ausgehebelt und so über die Gewährung oder Verweigerung von Grundrechten abgestimmt werden könne, ist schlicht unverantwortlich.

Einlassungen von Seyran Ates

„Nur jemand, der über wenig Empathie verfügt, selbst nicht betroffen ist oder gar eine Ausgrenzung befürwortet, kann seit sechzehn (!) Jahren existierende Berufsverbote mit all ihren Auswirkungen über die Adressatinnen hinaus als eine Sache sehen, die keine Not verursacht und über die man getrost auch in den nächsten 10 Jahren nicht nachdenken muss.“

Seyran Ates, die als Anwältin die staatliche Seite beim BAG-Verfahren vertrat, hat sich in einem langen Interview zu den Plänen des Justizsenators geäußert.8 Sie zeigte sich überrascht, dass der das Thema „ohne Not“ aufgeworfen habe und vermutet dahinter „eine Obsession“. Einem Justizsenator, der die Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts umgesetzt sehen will, eine Obsession zu unterstellen, ist – gelinde gesagt – ein recht eigenwilliger Blick. Nur jemand, der über wenig Empathie verfügt, selbst nicht betroffen ist oder gar eine Ausgrenzung befürwortet, kann seit sechzehn (!) Jahren existierende Berufsverbote mit all ihren Auswirkungen über die Adressatinnen hinaus als eine Sache sehen, die keine Not verursacht und über die man getrost auch in den nächsten 10 Jahren nicht nachdenken muss.

Letzter Ausweg: Die Bewertung von Motiven

Auf die Frage nach rechtlichen Argumenten, die erwarten ließen, dass das BAG die unveränderte Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes als zulässig erklären würde, bliebt Ates mehr als vage: Das Urteil liege noch nicht schriftlich vor, das BAG habe das Neutralitätsgesetz nicht für verfassungswidrig erklärt, aber es habe einen Weg gefunden, eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen. Ob das bedeutet, dass alles so bleiben wird, wie es ist und eine religiös motivierte Bekleidung verboten bleibt, sagt sie – aus gutem Grund – nicht, denn alles spricht dagegen.

Von dieser wiederholt drohenden Niederlage vor Gericht unter ihrer anwaltlichen Vertretung versucht sie abzulenken, indem sie konstatiert: „Das Problem in der öffentlichen Diskussion sind meiner Ansicht nach die parallelen Diskussionsebenen: Auf der einen Seite die juristische Formulierung von Verfassungskonformität, auf der anderen Seite die politische Diskussion ums Kopftuch. Da kommt es schnell zu Vermengungen.“4 Da sie den rechtlich klaren Vorgaben nichts mehr entgegenzusetzen hat, versucht sie diese in der Tat problematische Vermengung bestmöglich zu fördern und fordert „[…] endlich eine ehrliche Diskussion über die Motive für das Tragen [des Kopftuches].“4 Damit diese Motive als nicht schützenswert im Sinne der Verfassung deklariert werden können, bastelt sie ein passendes Mindset der Kopftuchträgerinnen zusammen: theologischen Grundlagen folgten diese Frauen nicht, sie seien bemüht, ihre sexuellen Reize zu verbergen, um die Männer nicht abzulenken, ließen sich also willig auf ein Sexualobjekt reduzieren. „Eine Frau, die das Kopftuch trägt, weiß das, übernimmt diese Wertung bewusst und ordnet sich dieser Herabwürdigung unter. Eine Lehrerin mit Kopftuch transportiert damit immer die[se] Botschaft […].“4

„Keine der empirischen Studien, die es zu den Motiven von Kopftuchträgerinnen gibt, belegt die Behauptungen von Ates, im Gegenteil, dennoch werden sie – nicht nur von ihr – seit Jahren wiederholt.“

Keine der empirischen Studien, die es zu den Motiven von Kopftuchträgerinnen gibt, belegt die Behauptungen von Ates, im Gegenteil,9 dennoch werden sie – nicht nur von ihr – seit Jahren wiederholt.

Fakt ist und bleibt jedoch: Auch die ständige Wiederholung kritikwürdiger vermeintlicher Motive führt nicht dazu, dass sie zur Legitimation von Verboten geeignet sind. Daran hat – das müsste eine Juristin, die sich seit Jahren mit der Thematik befasst, wissen – das BVerfG schon 2003 keinerlei Zweifel gelassen: „Auf der Grundlage der von den Sachverständigen geführten und ausgewerteten qualitativen Interviews lassen sich zwar keine repräsentativen Aussagen für alle in Deutschland lebenden Musliminnen treffen; die Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass angesichts der Vielfalt der Motive die Deutung des Kopftuchs nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden darf. Vielmehr kann das Kopftuch für junge muslimische Frauen auch ein frei gewähltes Mittel sein, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Auf diesem Hintergrund ist nicht belegt, dass die Beschwerdeführerin allein dadurch, dass sie ein Kopftuch trägt, etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde.“10

Alle Lehrerinnen mit Kopftuch, die als Referendarinnen oder später als Lehrkräfte an Schulen tätig waren, berichten von sehr intensiven bis übergriffigen Gesprächen – um nicht zu sagen, Verhören – durch Schulleitungen, Elternvertreter, Gleichstellungsbeauftragte, Personalräte und sonstigen Gremien, in denen ihnen Fragen zu ihren Motiven des Kopftuchtragens und möglicherweise auftretenden Problemkonstellationen gestellt wurden. Sie haben all das über sich ergehen lassen und jede noch so private Frage beantwortet, einfach, um ihren Wunschberuf ausüben zu können. Bei keiner dieser Frauen ist danach je eines der prognostizierten Szenarien eingetreten und heute sind sie selbstverständlicher und geschätzter Teil der Kollegien.

Grundrechtsgewährung in Abhängigkeit von der „richtigen“ Motivation?

„Als Juristin müsste Frau Ates zudem wissen, dass der Vorschlag, die Gewährung von Grundrechten davon abhängig zu machen, ob jemand „richtige“ oder „falsche“ Motive für ein rechtlich zulässiges Verhalten hat, verfassungsrechtlich völlig indiskutabel ist.“

Als Juristin müsste Frau Ates zudem wissen, dass der Vorschlag, die Gewährung von Grundrechten davon abhängig zu machen, ob jemand „richtige“ oder „falsche“ Motive für ein rechtlich zulässiges Verhalten hat, verfassungsrechtlich völlig indiskutabel ist. Auch nur die Idee in den Raum zu stellen, zeigt ihren Mangel an Geschichtsbewusstsein. Dabei braucht man kein allzu gutes Gedächtnis, um sich an die gesetzlich legitimierte Gesinnungsschnüffelei riesigen Ausmaßes zu erinnern, zu denen der Radikalenerlass von 1972 geführt hat. In rund 20 Jahren, bis zum letzten Verfahren in Bayern 1991, wurden ca. 3,5 Millionen (!) Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst standardmäßig durch eine Anfrage bei den Verfassungsschutzämtern auf ihre potentielle Verfassungstreue überprüft. Eine politisch linke Orientierung reichte aus, um diese Verfassungstreue in Zweifel zu ziehen und nicht eingestellt oder gar entlassen zu werden. Betroffen von diesen Ablehnungen waren vor allem Lehrkräfte an Schulen (80 %) und Hochschulen (10%).11

Ungeachtet der rechtlichen Unzulässigkeit müssen daher alle, die Ates folgen und bei der Entscheidung zur Zulassung zum Staatsdienst nicht auf die Qualifikation der Bewerber:innen, sondern auf deren Motivation abstellen wollen, sich fragen lassen: Welche Art von Zukunftskonzept für eine postmigrantische Gesellschaft ist eines, das die Option enthält, je nach (gesellschafts)politischer und wirtschaftlicher Entwicklung Gruppen mit „falschen Motiven“ zu benennen? Das ist nur dann schlüssig, wenn Minderheiten weiterhin vor allem die Funktion haben, sich an ihnen abarbeiten zu können, um das eigene positive Selbstbild zu stabilisieren.

Neutralität à la Ates

Es gehe, so Ates, „[…] immer auch darum, nach außen darzustellen, dass der Staat sich von religiösen Symbolen und Weltanschauungen so weit es geht fernhält.“12 Das solle nicht im Sinne einer Distanzierung oder einer positiven oder negativen Bewertung geschehen (diese Vorgabe des BVerfG scheint erfreulicherweise endlich bei ihr angekommen zu sein). Deshalb – so Ates weiter – betreffe das Neutralitätsgesetz alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen, denn: Ein T-Shirt mit der Aufschrift „Gottlos glücklich“ sei ebenfalls davon betroffen. Offensichtlich erinnert Ates sich nicht daran, dass ein Schreiben der Senatsverwaltung vom 04.09.201713 zur Anwendung des Neutralitätsgesetzes dezidiert festschreibt, dass es lediglich auf das Kopftuch anzuwenden ist: „Die Sichtbarkeit eines religiösen Symbols ist allein nicht ausreichend, um das Neutralitätsgesetz zu verletzen. Vielmehr muss das „Demonstrieren“ hinzukommen, was eine hinreichend starke Bekundungswirkung voraussetzt, die über das bloße Tragen des Symbols hinausgeht. Das Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Gründen stellt stets ein derartiges Demonstrieren dar.“ Und: „Symbole, die als Schmuckstücke getragen werden und auch als solche von einem objektiven Betrachter erkennbar sind, dürfen getragen werden, solange sie den Schulfrieden nicht gefährden.“ Von einer Absicht zur Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen kann also nicht die Rede sein, im Gegenteil.

Zur Frage nach dem T-Shirt mit der Aufschrift „Gottlos glücklich“: Grundrechtsschutz genießen solche Symbole oder religiös motivierten Kleidungsstücke, die sich nachvollziehbar (das ist das Kriterium, das das BVerfG anlegt) aus weltanschaulichen oder religiösen Regeln ableiten lassen. Bisher ist keine agnostische oder atheistische Weltanschauungsgemeinschaft bekannt, die eine verpflichtende Regel kennt, nach der ihre Mitglieder ein T-Shirt mit der Aufschrift „Gottlos glücklich“ tragen sollen. Auch diese Grundregeln der rechtlichen Beurteilungen von „Bekundungen“, die den Schutz des Artikel 4 Grundgesetz genießen und solchen, die das nicht tun, sollten Ates geläufig sein.

Rückkehr zum Kopftuchtragen als prinzipiellem Eignungsmangel?

Die von den Schulen geäußerten Ängste (also die abstrakten Gefahren) rechtfertigen aus der Sicht von Ates die unveränderte Beibehaltung eines pauschalen Kopftuchverbots. Damit will sie zurück ins Jahr 1998, als unter Annette Schavan das Tragen eines Kopftuches zum Eignungsmangel erklärt wurde. Zudem zeigt Ates sich überzeugt, dass eine kopftuchtragende Lehrerin Schüler:innen keine Bandbreite an Wissen vermitteln kann, damit sie Vorurteile abbauen können: „[…] das kann eine Lehrerin mit Kopftuch nicht, denn sie kann niemals sagen: ‚Es ist auch in Ordnung, wenn du kein Kopftuch trägst.‘ Nonverbal signalisiert sie immer, dass das Kopftuch die korrekte Kleidung ist.“12

„Der Blick in die Praxis der Bundesländer, in denen Lehrerinnen mit Kopftuch arbeiten, zeigt, dass – wenn das Kopftuch seitens der Schüler:innen überhaupt thematisiert wird – die Lehrerinnen überhaupt keinen Zweifel daran lassen, dass es in Ordnung ist, kein Kopftuch zu tragen…“

Der Blick in die Praxis der Bundesländer, in denen Lehrerinnen mit Kopftuch arbeiten, zeigt, dass – wenn das Kopftuch seitens der Schüler:innen überhaupt thematisiert wird – die Lehrerinnen überhaupt keinen Zweifel daran lassen, dass es in Ordnung ist, kein Kopftuch zu tragen, alles andere wäre pädagogisch und rechtlich auch inakzeptabel. Dass die Juristin Ates sich das nicht vorstellen kann, mag daran liegen, dass sie, wäre sie selbst Lehrerin, die Worte „Es ist auch in Ordnung, wenn du ein Kopftuch trägst.“ nicht über die Lippen bringen würde; als Lehrkraft wäre sie daher nicht geeignet. Eine solche nicht-wertende Aussage verweigert allerdings – und das ist schlimmer – bis jetzt auch der Berliner Senat, vielmehr definiert er das Kopftuch durch das Verbot eindeutig als unerwünschte Bekleidung.

Zur nonverbalen Ebene hat das Bundesverfassungsgericht 2015 wie schon erwähnt, festgestellt, dass der Einfluss, der vom Tragen eines Kopftuches ausgehen könnte (im Sinne, dass dies die „richtige“ Bekleidung sei), durch die religiöse und weltanschauliche Vielfalt des Kollegiums relativiert und ausgeglichen wird.7 Denn all die Kolleginnen ohne Kopftuch signalisieren: Ohne Kopftuch zu sein, ist die „richtige“ Wahl.

Es bleibt zu hoffen, dass die real existierende religiöse und weltanschauliche Vielfalt der Bevölkerung sich auch in Berlin zukünftig nicht nur in der Schülerschaft, sondern auch in den Kollegien angemessen widerspiegeln wird. Die rechtliche Lage ist klar. Es wäre ein fatales Signal, wenn einzelne Politiker:innen und Schulleitungen sich nicht endlich darauf besinnen würden, dass der Respekt vor Gerichtsurteilen und deren Umsetzung zum Kern der Demokratie gehört und der Staat nur in einer stabilen Demokratie seiner Aufgabe, die Heimstatt aller Bürger:innen zu sein, gerecht werden kann.

  1. Bachner, Frank und Fröhlich, Alexander: Berliner Lehrpersonal und religiöse Symbole „Jemand mit Kopftuch kann Neutralität nicht glaubhaft vermitteln“, Tagesspiegel vom 06.01.2021.
  2. Das BVerfG definierte diese Bedingungen so: Die Lehrkraft muss ein unzulässiges (z.B. indoktrinierendes) Verhalten an den Tag legen und Konflikte nicht mit den herkömmlichen Mitteln lösbar sein. Ein allgemeineres Verbot für bestimmte Schulen oder Schulbezirke für eine begrenzte Zeit ist möglich, wenn dort nachweislich besondere substantielle Konfliktlagen in einer beachtlichen Zahl von Fällen vorliegen. Das Gericht nennt als Beispiel eine Situation, „[…] in der – insbesondere von älteren Schülern oder Eltern – über die Frage des richtigen religiösen Verhaltens sehr kontroverse Positionen mit Nachdruck vertreten und […] in die Schule hineingetragen […]“ werden. Siehe auch hier
  3. Bachner, Frank und Fröhlich, Alexander, a.a.O.
  4. Ebenda.
  5. „Der Staat, der eine mit dem Tragen eines Kopftuchs verbundene religiöse Aussage einer einzelnen Lehrerin oder einer pädagogischen Mitarbeiterin hinnimmt, macht diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.“ BVerfG, 2015, a.a.O., Rn. 104.
  6. BVerfG, 2015, a.a.O., Rn. 118.
  7. BVerfG, 2015, a.a.O., Rn. 105.
  8. Wollschläger, Karin: Seyran Ates verteidigt Berliner Neutralitätsgesetz „Brauchen ehrliche Diskussion über Kopftuch-Motive“ Domradio, 13.01.2020
  9. Als Motiv wird von der überwältigenden Mehrheit der befragten Frauen die Befolgung einer als religiös verbindlich erachteten Regel genannt. Gründe der Unterordnung und Akzeptanz einer Herabwürdigung nennt keine Befragte. Vgl. u.a. „Muslimisches Leben in NRW“ und die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols?“
  10. BVerfG 2003, a.a.O., Rn. 52.
  11. Mühldorfer, Friedbert: Radikalenerlass
  12. Wollschläger, Karin, a.a.O.
  13. Schreiben der Senatsverwaltung vom 4.9.2017 zur Anwendung des Neutralitätsgesetzes
Meinung
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