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Dr. Stefan Böckler, Integration, Migration, Sprache, MiGAZIN
Dr. Stefan Böckler © privat, Zeichnung: MiG

Alter Wein in neuen Schläuchen?

„Alte“ und „neue“ Termini in der Integrationsdebatte

Die "Fachkommission Integrationsfähigkeit" will "Menschen mit Migrationshintergrund" durch "Eingewanderte und ihre direkten Nachkommen" ersetzen. Im Folgenden geht es um die Sinnhaftigkeit dieser Forderung.

Von Dienstag, 16.02.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 16.02.2021, 9:56 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Im Anfang war das Wort … Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. (Evangelium des Johannes)

Mephisto: Im Ganzen – haltet euch an Worte!
Dann geht ihr durch die sichre Pforte
zum Tempel der Gewissheit ein.

Schüler: Doch ein Begriff muss bei dem Worte sein.
Mephisto: Schon gut! Nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen, denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. (Goethe, Faust I)

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Die zum Teil politisch-moralisch hoch aufgeladenen Debatten um die Verwendung bzw. Nicht-Verwendung einzelner Termini nicht nur, aber auch im Integrationskontext könnten den Eindruck erwecken, in ihnen würde ‚Worten‘ eine ähnlich gegenstandskonstitutive Bedeutung zugeschrieben, wie dies im Zitat aus dem Johannes-Evangelium zum Ausdruck kommt. Eine solche Kritik an einer zu starken Gewichtung terminologischer gegenüber Sach-Fragen kann aber keineswegs die vom ‚Geist, der stets verneint‘ im zweiten Zitat vorgenommene Ironisierung und Geringschätzung von ‚Worten‘ rechtfertigen. Tatsächlich enthalten Begriffe, mit denen Personen kategorial zusammengefasst werden, und die diesen Begriffen zugeordneten ‚Worte‘ im Regelfall sowohl wissenschaftliche Annahmen in Bezug auf die Beschreibung und Erklärung des Verhaltens dieser Personen als auch politisch-moralische Bewertungen dieses Verhaltens und strukturieren so auch die weitere wissenschaftliche und politisch-normative Debatte nicht unerheblich vor.

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Konsequenterweise hat der im Januar erschienene ‚Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit‘1 innerhalb seiner weitgefächerten wissenschaftlich-analytischen und politisch-normativen Auseinandersetzung mit diesen Rahmenbedingungen terminologischen Fragen breiten Raum eingeräumt.

Neben der Aufwertung bisher schon verwendeter Begriffe wie ‚Rassismus‘ (mit der Konsequenz der Verabschiedung traditionell verwendeter Termini wie ‚Ausländer-/Fremdenfeindlichkeit‘) und der Uminterpretation bewährter Konzepte wie ‚Integration‘  (mit der Konsequenz der Verabschiedung des Begriffs der ‚Mehrheitsgesellschaft‘) werden bisher verwendete Termini wie ‚Zuwanderer:in‘ und ‚Einwanderer:in‘ zugunsten von Termini wie ‚Migrant:in‘ und ‚Eingewanderte‘ und verabschiedet. Besonders ins Gewicht fällt dabei die Ersetzung der seit zumindest 15 Jahren etablierten demographischen Kategorie ‚Bevölkerung/Personen/Menschen mit Migrationshintergrund‘ durch die Kategorie ‚Eingewanderte und ihre (direkten) Nachkommen‘, um deren Sinnhaftigkeit es im Folgenden vor allem gehen wird.

Diese terminologische Innovation wird in zwei Schritten vollzogen: Zunächst findet eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Terminus ‚Migrationshintergrund‘ unter begrifflich-definitorischer Perspektive statt: Welche sachlichen Probleme weisen dieser Terminus und seine gängigen Definitionen auf und wie könnten diese vermieden werden? Dieser erste Schritt führt zu einer begrifflichen Neudefinition der für Integrationsprozesse relevanten Gruppen. Daran anschließend wird der Versuch unternommen, die aufgewiesenen Probleme durch die Einführung eines neuen Terminus wenn nicht zu beseitigen, so zumindest zu vermindern. Dabei ist der Fachkommission durchaus bewusst, dass es sich bei ihrem terminologischen Vorschlag keineswegs ‚um der Weisheit letzten Schluss‘ handelt, es also weiterer Bemühungen um eine angemessene terminologische Fassung dieser Gruppen bedarf. (Es wird sich allerdings zeigen, dass der vorgelegte Vorschlag zu diesem ohne Zweifel notwendigen Prozess keinen weiterführenden Beitrag leistet.)

Auf die hochkomplexe Diskussion um die verschiedenartigen Definitionen von Migrationshintergrund und die jeweils mit ihnen verbundenen Hintergrundannahmen und Probleme soll und kann hier nicht eingegangen werden2. Berücksichtigt werden sollen Aspekte aus dieser Diskussion nur insofern als sie Relevanz für die von der Fachkommission vorgenommenen begrifflichen und terminologischen Umorientierungen besitzen.

Die Fachkommission unterscheidet dabei zwischen wissenschaftlichen und politisch-normativen Aspekten der Debatte um einen angemessenen Terminus für die Bezeichnung von integrationsrelevanten Gruppen, um daraus dann eine Gesamtbewertung des ‚alten‘ Terminus und ihre Vorschläge für einen ‚neuen‘ Terminus abzuleiten.

In ersterer Hinsicht weist die Kommission zunächst darauf hin, dass ein solcher Begriff sehr unterschiedliche Gruppen zusammenfasst, die ganz unterschiedliche Integrationssituationen und -bedarfe aufweisen. Tatsächlich ist es so, dass in diesem Begriff sehr verschiedenartige Zuwanderergruppen zusammengebunden werden, die sich in einer Vielzahl von relevanten Merkmalen voneinander unterscheiden und so möglicherweise insgesamt keine hinreichenden Gemeinsamkeiten besitzen, um sie von Personen ohne Migrationshintergrund abzugrenzen. Das drückt sich darin aus, dass bei Berücksichtigung anderer Merkmale wie soziale Herkunft und Bildung die Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund häufig (wenn auch nicht immer) wegfallen. Wenn dies so ist, Migrationshintergrund als solcher also ‚keinen wesentlichen Unterschied macht‘, stellt sich die Frage, ob es überhaupt Sinn macht, einen solchen gruppenübergreifenden, allein durch den gemeinsamen Tatbestand der Migration definierten Begriff zu verwenden. Trotz dieser Zweifel hält die Kommission an einem solchen übergreifenden Begriff für die Bezugsgruppen von Integration fest; ohne eine irgendwie geartete Eingrenzung solcher Gruppen gegenüber nicht-integrationsrelevanten Gruppen würde ja zielgruppenübergreifenden Integrationsbemühungen und damit auch ihren eigenen Bemühungen der Boden entzogen. Den Weg einer weiteren Ausdifferenzierung dieser Personengruppe etwa nach ethnischer Zugehörigkeit oder nationaler Herkunft, der es erlauben würde, zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Integrationsbedarfen zu unterscheiden (wie dies z. B. die Integrationspolitik der Niederlande getan hat) will sie allerdings ausdrücklich nicht beschreiten.

Als Schwachstellen der bisherigen Definitionen von ‚Migrationshintergrund‘3 verweist die Fachkommission zunächst auf die dominante oder zumindest partielle Orientierung dieser Definitionen an der (nicht-deutschen) Staatsangehörigkeit der Zielgruppe. Es ist aus Sicht der Kommission zum einen so, dass die Zugrundelegung eines ausländerrechtlichen Status der eindeutigen Fokussierung auf ‚Wanderung‘ im Terminus ‚Migrationshintergrund‘ nicht gerecht wird. Darüber hinaus führt die Tatsache, dass Ausländern und in bestimmten Fällen auch ihren Nachkommen aufgrund dieser Definitionen ‚Migrationshintergrund‘ zugeschrieben wird, dazu, dass Teilen der dritten Zuwanderergeneration oder gar weiterer Generationen dieses Merkmal ebenfalls zugeordnet wird. Diese weitgehende Vererbbarkeit des ‚integrationsrelevanten Status‘ hält die Fachkommission schon aus wissenschaftlich-analytischen Gründen für unangemessen, weil dadurch quasi-definitorisch auch für die Angehörigen solcher weiteren Generationen kollektiv ein Integrationsbedarf festgeschrieben wird, der möglicherweise empirisch nicht besteht. Der Frage, wie mit Personengruppen aus der dritten und eventuell weiterer Zuwanderergenerationen umzugehen ist, für die tatsächlich weiterhin ein solcher gruppenbezogener Integrationsbedarf besteht, stellt sie sich allerdings allenfalls in einer Nebenbemerkung und auf jeden Fall, ohne solchen Gruppen einen eigenständigen Status zuschreiben zu wollen4.

In einer weiteren Hinsicht sieht die Fachkommission die vorherrschenden Definitionen von ‚Migrationshintergrund‘ nicht in der Lage, die Zielgruppe von Integrationsbemühungen angemessen einzugrenzen. In nahezu allen gängigen Definitionen wird das Konzept des ‚einseitigen familiären Migrationshintergrund‘ verwendet, d.h. in Deutschland geborenen Kindern von Ausländern:innen und selbst Zugewanderten wird auch dann ein ‚Migrationshintergrund‘ zugeschrieben, wenn nur eines ihrer Elternteile nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder selbst zugewandert ist. Die Fachkommission geht nun davon aus, dass solche von ihrer elterlichen Herkunft ‚hybriden‘ Personen in deutlich geringerem Umfang Integrationsbedarf aufweisen als Personen mit ‚zweiseitigem Migrationshintergrund‘, deren beide Elternteile der ersten Zuwanderergeneration angehören bzw. Ausländer:innen sind, und insofern im Allgemeinen nicht zur integrationsrelevanten Gruppe zu zählen sind.

Und schließlich ist die Fachkommission der Meinung, dass die Existenz unterschiedlicher Definitionen von Migrationshintergrund in unterschiedlichen fachlichen und Erhebungskontexten zu Missverständnissen führt, insofern als sie nicht selten zur Folge hat, dass in Integrationsdebatten und bei Integrationsmaßnahmen von unterschiedlichen Zielgruppen und Problemlagen ausgegangen wird.

Vor diesem begrifflich-analytischen Hintergrund schlägt die Fachkommission eine einheitliche, rein wanderungsbezogene Neu-Definition der integrationsrelevanten Zielgruppe vor, die ausschließlich Personen mit ‚zweiseitigem Migrationshintergrund‘ umfasst: ‚Menschen, die entweder selbst oder deren beide Elternteile seit 1950 in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik eingewandert sind‘.

Soweit scheint zunächst wenig gegen die Weiterverwendung des Terminus ‚Migrationshintergrund‘ als solchen zu sprechen; tatsächlich sind die vorgenommenen begrifflichen Umorientierungen eher darauf angelegt, diesem Terminus eine sachlich angemessene und einheitliche definitorische Grundlage zu geben. Bedenken gegenüber dem Terminus selbst sind aus Sicht der Fachkommission vor allem aus politisch-normativer Sicht anzumelden.

Im Vordergrund stehen hierbei die Folgen, die der Terminus ‚Migrationshintergrund‘ für die Zuschreibungen an die durch ihn zusammengefassten Personen besitzt. Diese sind Außen­zuschreibungen, die die Selbstwahrnehmung dieser Personen nicht berücksichtigen: Ob jemand ‚Migrationshintergrund‘ besitzt, wird aufgrund ‚objektiver‘, je nach Definition staatsangehörigkeits- oder wanderungsbezogener Kriterien festgelegt und kann von dieser Person selbst nicht beeinflusst werden. Darüber hinaus wird diese Person mit einer solchen Zuschreibung einer Klasse von Personen zugeordnet, der pauschalisierend bestimmte integrationsrelevante Merkmale unterstellt werden. Dadurch, dass es sich dabei immer wieder oder auch vorwiegend um die Zuschreibung von Integrationsdefiziten handelt, übernehmen solche Etikettierungen dann auch häufig eine abwertend-stigmatisierende Funktion gegenüber diesen Gruppen und ihren Mitgliedern. Und schließlich erschwere ein solcher ausgrenzender Terminus auch die Herausbildung einer gemeinsamen Definition der dauerhaft in Deutschland lebenden Bevölkerung im Sinne eines ‚nicht-ethnisch konnotierten Deutsch-Seins‘.

Hier soll es nicht um die Frage gehen, ob solche Konsequenzen grundsätzlich vermeidbar sind5, sondern darum, ob durch die von der Fachkommission angezielte Ersetzung des Terminus ‚Migrationshintergrund‘ die genannten Implikationen und Risiken dieses Terminus vermieden werden.

Für die Beurteilung dieses zweiten Innovationsschrittes ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Unbehagen am Terminus ‚Migrationshintergrund‘ nahezu genauso alt ist wie dieser selbst. Seit seiner Einführung und Etablierung sind immer wieder die angesprochenen sachlichen Kritikpunkte ins Feld geführt worden und ist auch seine ‚Sprachmonstrosität‘ immer wieder moniert worden6. Ähnlich lange wird auch nach Alternativen zu diesem Terminus gesucht7, die von Innovationsversuchen unterschiedlichster Art von ‚Zuwanderungs- oder Migrationsgeschichte‘ über ‚Menschen aus Einwandererfamilien‘ bis hin zu ‚ausländischen Wurzeln‘ reichen. Keiner dieser terminologischen Vorschläge hat bisher sachlich und sprachlich überzeugen können, und da dies auch von der Mehrzahl der Beteiligten so gesehen wurde, ist es bisher bei der weiteren Verwendung dieses ungeliebten Terminus geblieben.

Insofern hat sich die Fachkommission die höchst anspruchsvolle Aufgabe gestellt, einen sachlich angemessenen, sprachlich akzeptablen und auch für ein breiteres Publikum nachvollziehbaren Terminus für die Charakterisierung der Zielgruppe von Integration einzuführen, der darüber hinaus die oben genannten politisch-normativen Risiken wenn nicht vermeidet, so doch verringert, und schließlich statistisch-methodisch anknüpfungsfähig ist gegenüber den bisherigen Fachstatistiken.

Die sachlichen Festlegungen der Fachkommission sind oben bereits benannt worden (und halten sich durchaus im Rahmen der üblichen Varianten zur Definition dieser Zielgruppe). Die in diesem Zusammenhang vorgeschlagene Neudefinition wird nun in einem zweiten Schritt in eine Kurzform komprimiert, die den genannten Ansprüchen soweit wie möglich gerecht werden soll. In Zukunft, so schlägt die Fachkommission vor, soll statt von ‚Personen/Menschen/Bevölkerung mit Migrationshintergrund‘ von ‚Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen‘ gesprochen werden.

Gemessen an den differenzierten sachlichen Überlegungen der Kommission, die zweifelsohne eine Bereicherung der Debatte darstellen, sind hinsichtlich der Leistungen dieses ‚neuen Wortes‘ allerdings grundsätzliche Zweifel anzumelden. Zunächst ist nicht einzusehen, inwieweit diese terminologische Innovation die genannten politisch-normativen Defizite des ‚alten Wortes‘ aufheben soll: Auch der neue Terminus schreibt Personen ihren Wanderungsstatus von außen zu und grenzt sie von anderen Personen (eben denjenigen, die die Definition nicht erfüllen) ab. Auch er dient dazu, diesen Personen aufgrund dieses Status pauschalisierend bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben, und auch er kann es grundsätzlich nicht vermeiden, dass hierbei negative Zuschreibungen und damit Stigmatisierungen vorgenommen werden8.

Was nun die sprachliche Qualität des ‚neuen Wortes‘ anbelangt, kann man zunächst fragen, ob die Ersetzung des Terminus ‚Migrationshintergrund‘ durch eine Kurzdefinition der Bedeutung des Terminus eine zielführende sprachliche Strategie ist, insofern als Termini normalerweise die sprachliche Funktion einer möglichst synthetischen Zusammenfassung komplexer Zusammenhänge zukommt. Darüber hinaus kann man die sprachliche Schwerfälligkeit, die mit der Verwendung von ‚Migrationshintergrund‘ verbunden ist, durch die Verwendung des neuen Terminus kaum verringern. Wenn in Zukunft in gesprochenem Wort und in Texten statt von ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ von ‚Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen‘ die Rede sein soll, so ist das in dieser Hinsicht sicherlich kein Fortschritt.

Hinzukommt die zweifelhafte Leistungsfähigkeit des neuen Terminus auch in kommunikativer und sachlicher Hinsicht: Zunächst ist dieser Terminus für die breitere Öffentlichkeit nur schwer verständlich, weil weder der Status der Einklammerung des Attributs ‚direkte‘ noch die Bedeutung des definitorischen Elements des Nachkommens ohne weiteres nachvollziehbar ist. Tatsächlich müssen sogar Zweifel an der sachlichen Korrektheit des Terminus angemeldet werden: Sowohl in umgangssprachlichen als auch in (erb)rechtlichen Kontexten steht der Begriff ‚direkte Nachkommen‘ keineswegs ausschließlich für die erste Nachfolgegeneration, sondern für alle in direkter Linie verwandten Nachkommen, d.h. nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Enkel:innen und die Urenkel:innen der Bezugsperson9. Sachlich angemessen wäre also vielmehr der Terminus ‚Eingewanderte und ihre Kinder‘, der tatsächlich eine sinnvolle Kurzfassung der gelieferten ausführlicheren Definition darstellen würde.

Aus welchen Gründen die Fachkommission zu einer solchen Fehlleistung gekommen ist10, ist zumindest aus ihrem Bericht nicht zu erschließen (und bedarf sicherlich einer weiteren Klärung). Allein die vor allem politisch-normativ motivierte Aversion gegenüber dem ‚alten‘ Terminus des Migrationshintergrunds kann dies kaum erklären.

Zusammenfassend wird deutlich, dass das von der Kommission anvisierte zweistufige Verfahren einer begrifflichen Neudefinition von Migrationshintergrund und einer terminologischen Ersetzung dieses Konzeptes letztlich gescheitert ist. Der erste Schritt einer einheitlichen, rein wanderungsbasierten Neudefinition erlaubt sicherlich eine präzisere und allgemeinverbindlichere Eingrenzung wesentlicher Zielgruppen von Integration. Allerdings enthält die Argumentation der Fachkommission darüber hinaus keine Strategien für die Einbeziehung oder Ausdifferenzierung von integrationsrelevanten Gruppen, die aufgrund dieser Definition nicht erfassbar werden. Dies beginnt bei der Gruppe der Ausländer:innen, die – wie die Fachkommission selbst in anderem Zusammenhang anmerkt – aufgrund einer Fülle von Integrationsstudien und Ergebnissen von Integrationsmonitorings deutlich höheren Integrationsbedarf aufweist als Personen mit Migrationshintergrund mit deutscher Staatsangehörigkeit. Eventuell integrationsrelevante Gruppen in der dritten oder in weiteren Zuwanderergenerationen werden von der neuen Definition darüber hinaus gänzlich ausgeschlossen.

Empirisch wäre zu überprüfen, ob solche Gruppen heute schon an Bedeutung gewonnen haben und mit ihrem auf jeden Fall quantitativen Zuwachs in Zukunft noch umfangreichere Integrations- und Anerkennungsbemühungen notwendig machen werden; wenn dies so ist, würden sie einer eigenen sachlichen und terminologischen Berücksichtigung bedürfen11. Schließlich lassen die begrifflichen und terminologischen Überlegungen der Fachkommission eine ohne Zweifel hochrelevante Zielgruppe von Integration begrifflich und terminologisch völlig unberücksichtigt, die in anderen, nicht wanderungsbezogenen Definitionen von Migrationshintergrund im Vordergrund steht: diejenigen Personen, in deren Familie vorwiegend nicht-deutsch gesprochen wird12. Auch für diese Zielgruppe von Integration, bei der die Frage der bildungsmäßigen und ‚kulturellen‘ Integration (und ihrer möglichen Konsequenzen auch für die strukturelle Integration beispielsweise in den Arbeitsmarkt) im Vordergrund steht, müssten demnach eigenständige begriffliche, terminologische und erhebungstechnische Überlegungen angestellt werden, eine Aufgabe, der sich die Fachkommission leider nicht gestellt hat.

An solchen Überlegungen wird deutlich, wie eng begriffliche und terminologische Fragen auf der einen, Sachfragen und politisch-normative Überlegungen auf der anderen Seite auch auf dem Gebiet der Integration miteinander verflochten sind, allerdings auch, dass es der Fachkommission nur höchst begrenzt gelungen ist, diese Aspekte zu entflechten und systematisch aufeinander zu beziehen.

An dem Versuch, den trotz aller Beschränkungen relativ bewährten Terminus ‚Migrationshintergrund‘ mit einem ‚neuen Wort‘ zu ersetzten, hat sich schließlich gezeigt, dass neue Schläuche nicht nur häufig alten Wein enthalten, sondern manchmal sogar deutlich poröser sein können als alte (und dass man, bevor man bewährte Termini aus politisch-normativen Motiven verabschiedet und durch andere ersetzt, sein Augenmerk vor allem auf die sachliche und sprachliche Korrektheit einer solchen Innovation richten sollte).

  1. Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit (Hrsg.), Gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft gestalten. Bericht der Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit, Berlin 2020.
  2. Zur Geschichte des Terminus und seinen unterschiedlichen Definitionen siehe den Bericht der Fachkommission selbst und die Beiträge des Verbands deutscher Städtestatistiker (Hrsg.), Migrationshintergrund in der Statistik. Definiton, Erfassung und Vergleichbarkeit, Köln 2013 und von Anja Petschel und Anne-Kathrin Will, Migrationshintergrund – ein Begriff, viele Definitionen. Ein Überblick auf Basis des Mikrozensus, in: WISTA – Wirtschaft und Statistik, 5, 2020, S. 78-90.
  3. Hauptbezugspunkt ist hierbei die von Anbeginn an und auch aktuell einflussreiche Definition im Rahmen des vom Statistischen Bundesamt durchgeführten Mikrozensus. Zu dieser Definition und ihrer Beziehung zu andersartigen Definitionen von ‚Migrationshintergrund‘ siehe Petschel/Will, a.a.O. Dort wird anhand der Ergebnisse des Mikrozensus von 2018 auch der Einfluss unterschiedlicher Definitionen von Migrationshintergrund auf die Anzahl der unter sie gefassten Einwohner bestimmt.
  4. Zur Frage, wie mit solchen Gruppen jenseits der Zuschreibung von ‚Migrationshintergrund‘ definitorisch umgegangen werden könnte, siehe Böckler, Stefan, Zukunft der Statistik von Personen mit Migrationshintergrund. Was macht die Statistik mit den 2+i-ten Zuwanderergenerationen?, in: Stadtforschung und Statistik, 2, 2010, S. 61-65. – In ‚klassischen‘ Einwanderungsgesellschaften werden solche Gruppen häufig als ‚ethnische‘, ‚nationale‘ oder ‚Sprachminderheiten‘ bezeichnet, die ganz unabhängig von ihrer Zuwanderung (und derjenigen ihrer Vorfahren) besondere Aufmerksamkeit und gegebenenfalls sogar besondere (Minderheiten-)Rechte verdienen.
  5. Diese Frage war in der Kommission selbst durchaus umstritten. In ihrer abweichenden Stellungnahme hat Susanne Worbs darauf hingewiesen, dass solche Pauschalisierungen grundsätzlich nicht vermieden werden können, wenn man „voneinander abgrenzbare Kategorien von Menschen bilden“ will, und dass grundsätzlich auch das Risiko besteht, dass solche Kategorisierungen negativ aufgeladen werden.
  6. Die Redaktion von ‚Beruf und Chance‘ bei der Frankfurter Allgemeine hat beispielsweise 2012 ‚Migrationshintergrund‘ zum ‚Unwort des Jahres‘ gekürt.
  7. Siehe hierzu beispielsweise Neue deutsche Medienmacher, Neue Begriffe für die Einwanderungsgesellschaft, Workshop am 29. und 30. April 2013. Dort wird eine Vielzahl von terminologischen Alternativen diskutiert, aber aufgrund der Beschränkungen, die jede dieser Alternativen aufweist, letztlich keine Empfehlung für einen der betrachteten  Termini ausgesprochen. (Interessanterweise taucht dort die Bezeichnung ‚Einwanderer und ihre Nachkommen‘ als eine Alternative auf, wobei mit ihr allerdings keine Einschränkung auf die 2. Generation verbunden wird.)
  8. Siehe hierzu die oben genannte abweichende Stellungnahme von Susanne Worbs und ähnlich die von Daniel Thym. – Dass dies bei den von der Fachkommission selbst vorgeschlagenen Termini schon heute der Fall ist, wird an dem für vorübergehende Zuwanderung vorgeschlagenen Terminus ‚Migrant:in‘ deutlich, der sicherlich in seinen Konnotationen kaum weniger negativ besetzt ist als derjenige des ‚Migrationshintergrunds‘.
  9. Diese Sichtweise der Bedeutung von ‚direkten Nachkommen‘ wird sowohl durch eigene Internetrecherchen als durch eine ausführliche Fachauskunft der Duden-Sprachberatung gestützt. Tatsächlich ist der Terminus ‚direkte Nachkommen‘ in gewisser Weise sogar ‚doppelt gemoppelt‘, insofern als ‚Nachkomme‘ ohne weitere Spezifizierung bereits den Tatbestand der Abstammung in direkter Linie aussagt.
  10. Überraschend ist eine solche Fehlleistung vor allem, weil die abweichende Stellungnahme von Daniel Thym genau auf diese weiter reichende Bedeutung von ‚direkten Nachkommen‘ hingewiesen hat.
  11. Hierfür ist der von der Fachkommission vorgenommene Verweis dieser Fragegestellung an Haushaltsbefragungen und die IAB-SOEP-Migrationsstichprobe kaum hinreichend.
  12. Laut der Mikrozensusauswertung von Petschel und Will (a.a.O.) wird ein wenn auch geringer Teil dieser Personen von den üblichen staatsangehörigkeits- oder wanderungsbasierten Definitionen von Migrationshintergrund überhaupt nicht erfasst. Zu prüfen wäre, wie sich diese Teilgruppe, in der vermutlich erheblicher Integrationsbedarf besteht, zusammensetzt, ob es sich hierbei vor allem um Angehörige der dritten Zuwanderergeneration handelt bzw. welche anderen familiären Konstellationen zu dieser auf den ersten Blick überraschenden Kombination von Nicht-Migrationshintergrund und nicht-deutschem Sprachgebrauch in der Familie führen.
Meinung
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