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Interview mit Prof. Sabine Schiffer

„Wir brauchen systematische Medienbildung an Schulen“

In Zeiten von Fake-News und neuen digitalen Nachrichtenformaten fordert Medienpädagogin Prof. Dr. Sabine Schiffer systematische Medienbildung an Schulen. Im Gespräch mit MiGAZIN erklärt sie, was sich im Journalismus ändern muss, was bereits auf einem guten Weg ist und worauf Zuschauer beim nächsten Polit-Talk im Fernsehen achten sollten.

Freitag, 05.03.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.03.2021, 15:26 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

MiGAZIN: In Ihrem neuen Buch „Medienanalyse – ein kritisches Lehrbuch“ beklagen Sie das Fehlen eines vergleichbaren Begriffs im Deutschen für „Media Literacy“. Was ist das?

Prof. Dr. Sabine Schiffer: Es geht um das „Lesenkönnen“ von Medien, also das was leider nicht mehr unter dem Begriff „Medienkompetenz“ verstanden wird. Denn dieser Begriff wurde im Grunde von der IT-Branche gekapert und auf technische Kompetenzen reduziert. Es geht aber darum, alle Medienbeiträge als Konstrukt, als eine bestimmte Art von Darstellung zu verstehen und die dahinter liegenden Fakten zu erkennen.

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Stichpunkt: Fakten. Sie werben für mehr Medienkompetenz. Warum ist das wichtig und wie kann sie vermittelt werden?

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Einerseits geht es mir darum, Medienkritik zu versachlichen und Mittel an die Hand zu geben für die Analyse und die Formulierung berechtigter Nachbesserungsansprüche. Auf der anderen Seite brauchen wir eine systematische Medienbildung an Schulen, weil wir als Demokratie ja auf die Reflexion von Meinungsbildungsprozessen angewiesen sind. Dem in den Lehrplänen verankerten und von engagierten Lehrkräften geforderten Anspruch steht kein evaluiertes didaktisches Material gegenüber und auch keine neutralen Plattformen, die nicht eigene ökonomische Interessen verfolgen. Mehr Media Literacy in der Breite müsste nicht nur zu einem besseren Journalismus führen, sondern auch zu konstruktiveren Debatten bei Kritik und Meinungsunterschieden.

In einem Kapitel beschreiben Sie die menschliche Wahrnehmung und wie Medien sie beeinflussen. Haben Sie ein Beispiel für dieses Zusammenspiel?

„Tatsächlich überzeugen nicht so sehr Wahrheit und Aufklärung, sondern Wiederholung. Verkürzt lässt sich das auf die Formel bringen: Wiederholen ist Überzeugen.“

Tatsächlich überzeugen nicht so sehr Wahrheit und Aufklärung, sondern Wiederholung. Verkürzt lässt sich das auf die Formel bringen: Wiederholen ist Überzeugen. Dafür gibt es genug wissenschaftliche Belege, dass das, was oft wiederholt wird, für plausibler gehalten wird als zum Beispiel neue Informationen, vor allem von Dingen, von denen man noch nie gehört hat. Darin liegt ein Fallstrick, denn es macht unkritischer dem Bekannten gegenüber, und lässt gleichzeitig wichtige Fakten übersehen, die wir nicht erwartet haben. Dafür liefern muslimische Frauen täglich Beispiele, deren Lebensrealität aus den enggeführten Medienbildern ausbricht. Und so interpretiere ich die lange Reaktionszeit der Medien beim Mord an Marwa El-Sherbiny 2009, weil man Muslime als Opfer nicht denken konnte.

Vor wenigen Tagen wurde den Opfern des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau gedacht. Mehr als sonst haben Journalisten die Namen der Opfer genannt. Erkennen Sie einen Sinneswandel, eine gewisse Sensibilisierung in der Medienlandschaft?

Ja, ich finde es ermutigend, wie viele Medien mit der Berichterstattung und den Anschlagsopfern umgegangen sind. Sowohl die ARD, als auch ARTE, als auch Radio und Zeitungen haben den Opfern Raum gegeben und deren berechtigten Fragen und Zweifel. Gerade da, wo staatliche Institutionen versagen, ist es wichtig, dass Medien ihre Aufgabe als Vierte Gewalt erfüllen. Hier gibt es konkreten Aufklärungsbedarf von Ungereimtheiten und offenen Fragen und es geht darum, den Opfern ein Gesicht, eine Stimme und ihrer Würde Raum zu geben. Die Skandale rund um die Morde in Hanau aufzudecken, das steht Medien in ihrer Wächterfunktion gut zu Gesicht. Auch wurden Politiker kritisiert, die sich im Ton vergriffen haben und verbal die Opfer des Anschlags weiterhin auszubürgern suchten – aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft.

Medien stehen immer wieder in der Kritik, weil Journalisten mit Einwanderungsgeschichte in den Redaktionen unterrepräsentiert sind. Jetzt ein Blick in die Glaskugel: Mal angenommen, die gesellschaftliche Vielfalt unter Medienmachern wäre abgebildet. Was würde sich ändern?

„Inwiefern sind Medien überhaupt noch in der Lage, gesellschaftliche Realität abzubilden oder schon dem Establishment der Hauptstadtredaktion und Regierungsnähe verfallen? Hier, wie im Bundestag und überall, haben wir ja ein Repräsentanzproblem.“

Das ist kein Zahlenspiel, dabei geht es auch um Macht. Also, wer kommt in verantwortliche Positionen? Inwiefern sind Medien überhaupt noch in der Lage, gesellschaftliche Realität abzubilden oder schon dem Establishment der Hauptstadtredaktion und Regierungsnähe verfallen? Hier, wie im Bundestag und überall, haben wir ja ein Repräsentanzproblem in vielen Kategorien, von Armut bis Gender, Religion und Behinderung und ethnisierter Zugehörigkeit. Also, wir brauchen auf jeden Fall vielfältigeren Journalismus, weil sonst einfach zu viele Fakten übersehen werden durch enge Tunnelblicke. Aber ich warne im Buch auch davor zu suggerieren, dass andere Journalisten anders berichten würden. Daraus kann schnell eine Verschwörungstheorie entstehen, und die hatten wir in der Geschichte ja schon einmal. Das sollten wir nicht wiederholen.

Eine Frage, die sich viele Menschen in sozialen Medien fragen: Wie umgehen mit Fake-News, Verschwörungstheorien oder Hasspostings? Stehenlassen fällt schwer, eine Reaktion wiederum beflügelt die weitere Verbreitung. Ein Teufelskreis. Was raten Sie?

Das ist ein echtes Dilemma. Also, zunächst einmal gilt festzustellen: Fake-News sind kein Netzphänomen. Skandale um die gefälschten Hitler-Tagebücher, der BAMF- oder Wulff-Skandal oder auch der Fall Relotius belehren uns da eines Besseren. Im Internet kommen jedoch die Algorithmen dazu und das hat erhebliche Auswirkungen auf die Bevorzugung von Krach und Krawall und eben nicht Aufklärung. Dies erklären Aussteiger von Google und Facebook und dies belegen Untersuchungen. Diese digitale Logik verstärkt die menschliche Logik, dass man das, worüber geredet wird, für relevant hält. Sprich: Wenn man auf dumme Provokationen einsteigt, verstärkt man diese – man erklärt sie für relevant und wiederholt auch bei Widerspruch im Grunde die Hauptaussage; etwa wie in diesem Beispiel „Donald Trump hatte Unrecht, die Medien als Fake-News zu bezeichnen…“ Da wir Verneinung nicht registrieren, bleibt übrig: Trump, Medien, Fake-News – und nicht etwa „Trump, Steuerhinterziehung…“. Hier gilt es jedes Mal zu analysieren, wie man diesen Verstärkereffekt vermeiden kann. Und vor allem, wie man auf die relevanten Themen und Aspekte überleitet, die so mancher Aufreger zu überdecken sucht.

„Und Medien müssen hierbei endlich mit der Reflexion beginnen, inwiefern sie selbst Phänomene – wie Pegida beispielsweise – groß machen und schließlich darüber berichten, als wäre das von alleine so gekommen.“

Und Medien müssen hierbei endlich mit der Reflexion beginnen, inwiefern sie selbst Phänomene – wie Pegida beispielsweise – groß machen und schließlich darüber berichten, als wäre das von alleine so gekommen. Die INA – Initiative Nachrichtenaufklärung – wird ja in dieser Zeit wieder klar machen, dass es tatsächlich ein effektives Mittel des Umgangs mit Unerwünschtem (oder auch mal Übersehenem) gibt: Totschweigen; und das geschieht ja in den meisten Fällen.

Medien stehen durch die Digitalisierung vor einem Problem: Sachlich-nüchterne Artikel werden seltener angeklickt als reißerische Titel. Und ohne Klicks verdienen die Medienhäuser nicht. Wie würden Sie titeln?

Ja, da befinden wir uns wirklich in einem Teufelskreis. Medienhäuser, der Journalistenverband DJV, aber auch Hochschulen propagieren SEO-optimiertes Publizieren und kooperieren bei Schulungen etc. sogar mit Google, Facebook & Co. Dabei unterwerfen sie sich deren Logik. Während die großen Plattformen ihre Algorithmen intransparent halten, eifern alle deren Strukturierung unserer Diskurse hinterher. Da entsteht ein großes Problem, das manche noch gar nicht begriffen zu haben scheinen. Und die Bezahlmodelle für Medien hechten ebenfalls den Monetarisierungsstrategien großer IT-Giganten hinterher – Werbung, Zielgruppentargeting, algorithmisch gesteuerte Kommunikation. Stellen wir uns doch einmal vor, Facebook wäre als Genossenschaft gegründet worden. Wie anders könnte die Kommunikation dann aussehen? Wie wenig wäre man auf Aufreger-Traffic angewiesen – und vielleicht hätte es dann den Genozid in Myanmar nicht gegeben.  Hier nimmt Medienverantwortung eine besondere Dimension an, der sich die Medienhäuser endlich mit kreativen Lösungen stellen müssen. Und  hier sind wir als Nutzer auch alle gefordert, die Arbeitsleistung anzuerkennen.

In sozialen Medien spielen Bilder teilweise sogar eine wichtigere Rolle als die Berichte selbst. Sie besprechen in ihrem Buch die manipulative Wirkung von Bildern ausführlich. Hat der durchschnittliche Bürger, der auf Twitter oder Facebook unterwegs ist, überhaupt eine Chance, dieser Manipulation zu entkommen?

„Also, ehrlich gesagt, halte ich diese Formate [Polit-Talks] für entbehrlich. Man kommt ganz gut ohne aus oder sogar besser. Es ist, wie der Name ja sagt, eine ‚Show‘.“

Ja, auf jeden Fall. Jeder kann sich (selbst)kritisch mit diesen Dingen auseinandersetzen. Die Bildwirkung ist ein ganz zentrales Element in der Kommunikationssteuerung – so heißt dieser Analyseteil in der klassischen Inhaltsanalyse auch oft verkürzend einfach „Leseanreiz“. Tatsächlich findet Wirkung hier in der Schnelligkeit statt und braucht Zeit, um das in einzelne Schritte und Botschaften zu zerlegen und Übung – damit uns das auch im täglichen Medienkonsum gelingt. Und Übung hätten wir, wenn wir diese Kompetenzen in einem Schulfach Medienbildung systematisch vermittelt bekämen.

Ein Exkurs widmen Sie in Ihrem Buch den Talkshows. Die stehen seit vielen Jahren in der Kritik wegen der Themen- und Gästewahl, zuletzt die WDR-Sendung „Die letzte Instanz“. Das sind teilweise sehr offensichtliche No-Gos. Sie hingegen schauen genauer hin. Worauf sollte der Zuschauer bei der nächsten Sendung achten?

Also, ehrlich gesagt, halte ich diese Formate für entbehrlich. Man kommt ganz gut ohne aus oder sogar besser. Es ist, wie der Name ja sagt, eine „Show“. Wenn man es als solche begreift, kann man sehen, wie welches politisches Thema inszeniert wird – denn in den Shows ist wenig Zufall. Es gibt ein aufwändiges Casting, wo die Rollenerwartung abgeklopft wird, und wer sich nicht an die spürbaren roten Linien hält, wird halt nicht oder nicht mehr eingeladen.

Man kann sich objektiv mit dem Gegenstand befassen, weshalb ich einige Kriterien zur Vermessung solcher Angebote aufgelistet habe. Denn, subjektives Empfinden und sich Empören ist das eine – und die übrigens einkalkulierte Aufregung für den Traffic in Social Media und die Zuschauerzahlen beim nächsten Mal – aber klare Gesprächsstrategien aufzudecken, ist das andere und seriösere. Man kann die zugestandene Sprechlänge, die Unterbrechungen, das Aufgreifen oder Ignorieren von Argumenten etc. pp. genau bemessen und verzeichnen und damit unabhängig von einer eigenen Position eine solche Show bewerten.

Was ist Guerilla-Marketing?

„In der Politkommunikation fallen Politiker der AfD regelmäßig mit verbalen Provokationen auf, die dann von empörten Medienvertretern aufgegriffen werden. Das ist das Dilemma…“

Im letzten Kapitel gehe ich auf PR-Strategien ein, die in den Medien ihren beobachtbaren Niederschlag finden, und stelle eine Liste von Merkmalen zusammen, woran man diese erkennen kann. Eine solche Technik ist die Anwendung von Guerilla-Strategien in der Politkommunikation. Das sind sonst eigentlich Werbeaktionen für zum Beispiel Aktivisten mit kleinem Budget, die sehr kreativ für Aufmerksamkeit sorgen, indem man zum Beispiel provoziert – etwa, wenn man die Welt als tatsächlich schmilzende riesige Eiskugel bei einem Klimaschutz-Protest darstellt. Das ergibt dann neugierig machende Bilder, Stichwort: „Leseanreiz“.

In der Politkommunikation fallen Politiker der AfD regelmäßig mit verbalen Provokationen auf, die dann von empörten Medienvertretern aufgegriffen werden. Das ist das Dilemma, von dem wir oben schon sprachen. Man kann solche Formulierungen kaum stehen lassen, aber andererseits ist die Reaktion in Politik und Medien einkalkuliert und verschafft die erwünschte Aufmerksamkeit. Das ist übrigens keine Spezifik der AfD. Der bayerische Ministerpräsident Söder steht solchen Techniken mit der Wortprägung „Asyltourismus“ in nichts nach. Das Suggestionspotential dieser Wortschöpfung erwächst aus der Kombination des Begriffs „Asyl“, der einen völkerrechtlich legitimen Rechtsanspruch verkörpert, und dem aus dem Freizeitbereich stammenden „Tourismus“. Sinn-induktiv ergibt sich hier die Unterstellung einer unberechtigten Inanspruchnahme. Sowohl Zustimmung, als auch Empörung waren kalkulier- und erwartbar. Und genau das, nämlich die eigene Rolle als Vehikel für manipulative Botschaften, müssten Medienvertreter besser erkennen lernen. Und das Medienpublikum natürlich auch. Aktuell Interview Panorama

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