Flüchtlingspolitik
Deutschland muss Vorreiterrolle einnehmen
Während in Deutschland 250 Kommunen Hilfe zusagen, warten in Griechenland 15.500 Menschen auf genau diese Hilfe. Bei der Suche nach Lösungen können wir eins nicht: warten.
Von Lars Castellucci und Daniela Kolbe Freitag, 09.04.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 07.04.2021, 14:27 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Nach dem letzten Flug vom 31. März 2021 aus Lesbos nach Deutschland befinden sich immer noch etwa 15.500 Geflüchtete auf den ostägäischen Inseln. 4.000 davon sind Kinder, knapp 3.000 von ihnen sind jünger als 12 Jahre, 250 sind unbegleitet oder von ihren Familien getrennt. Die Zustände vor Ort sind weiterhin prekär, der Bau des neuen Aufnahmezentrums auf Lesbos verzögert sich. Stand März ist zwar die Aufnahme von weiteren 1.500 Personen in die fünfzehn anderen Länder der europäischen Koalition der Menschlichkeit zugesagt. Damit verbleiben allerdings weiterhin 14.000 Geflüchtete auf den Inseln. Derweil haben sich in Deutschland fast 250 Kommunen zum Netzwerk Sichere Häfen zusammengefunden, Tendenz steigend. Wie kann man die so signalisierte Hilfsbereitschaft zu tatsächlicher Hilfe werden lassen?
Das Lager Moria auf Lesbos war jahrelang Europas Schandfleck. Es war die Kehrseite der europäischen Flüchtlingspolitik und des Dublin-Systems, welches die Mittelmeeranrainerstaaten allein lässt und insgeheim auf die abschreckende Wirkung der dort entstehenden Bilder hofft. Gleichzeitig gelang es in den letzten Jahren nicht, durch echte Solidarität ein funktionierendes Aufnahme- und Verteilungssystem zu installieren. Ein System, welches das Elend der Menschen an den europäischen Außengrenzen beenden und zugleich die südlichen Mitgliedstaaten entlasten kann. Auch wenn Moria nun Geschichte ist, ist die Situation für viele Geflüchtete in Griechenland weiterhin dramatisch.
„Gleichzeitig wissen wir, dass aufgrund der Unstimmigkeiten unter den Mitgliedstaaten bis zum Inkrafttreten des Regelwerks noch Jahre vergehen können. Jahre, die wir angesichts der verstörenden Bilder aus dem neuen Lager Kara Tepe auf Lesbos und der tragischen Situation im bosnischen Lager Lipa nicht wieder verstreichen lassen dürfen.“
Die Europäische Kommission hat mittlerweile ein neues Migrations- und Asyl-Paket vorgestellt, welches das gemeinsame europäische Asylsystem grundlegend reformieren soll. Als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen wir die Vorschläge der Kommission ausdrücklich als wichtigen Schritt. Gleichzeitig wissen wir, dass aufgrund der Unstimmigkeiten unter den Mitgliedstaaten bis zum Inkrafttreten des Regelwerks noch Jahre vergehen können. Jahre, die wir angesichts der verstörenden Bilder aus dem neuen Lager Kara Tepe auf Lesbos und der tragischen Situation im bosnischen Lager Lipa nicht wieder verstreichen lassen dürfen. Der Verweis auf eine Europäische Lösung verkommt deshalb zur Floskel, wenn wir akutes Leid ignorieren. Ad-hoc-Maßnahmen stehen für uns nicht im Widerspruch zu einer Einigung auf EU-Ebene. Solange es aber kein funktionierendes Europäisches Asylsystem gibt, wollen wir weiterhin flankierende Maßnahmen durchführen, um vor Ort direkte Hilfe zu leisten, schutzsuchende Menschen aus den Lagern an den Grenzen Europas zu holen sowie ihnen die Einreise in andere Mitgliedstaaten und eine menschenwürdige Unterbringung zu ermöglichen. Zugleich darf die EU über eine menschenwürdige, progressive Reform des EU-Asylsystems und der Rolle von Frontex nicht die Fluchtursachenminderung aus dem Blick verlieren. Maßnahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und Handelspolitik müssen vorab darauf überprüft werden, ob sie Fluchtursachen verstärken. In einem solchen Falle sind die Maßnahmen fluchtursachenmindernd anzupassen.
Die Appelle zahlreicher Kommunen und Bundesländer für die Ausweitung legaler Zugangswege für Menschen auf der Flucht zeigen: Kapazitäten und Aufnahmebereitschaft sind vorhanden. Und der Blick auf unsere Nachbarländer offenbart ein ähnliches Bild: Selbst in Ländern mit einer ablehnenden Haltung finden sich aufnahme- und hilfsbereite Städte, Kommunen und Regionen. Umso unverständlicher ist es, dass verfügbare und von den Geflüchteten dringend benötigte Plätze nicht vergeben werden können. Hier sollte Deutschland mit einem guten Beispiel vorangehen und somit auch Vorbild für andere sein.
„Es darf nicht sein, dass politischer Aufnahmewille durch bürokratische Argumente und verwaltungstaktisches Handeln nicht zum Tragen kommt.“
Die Zuständigkeit für die Koordination der humanitären Aufnahme liegt aus guten Gründen beim Bundesinnenministerium. Denn für die Aufnahme müssen alle staatlichen Ebenen zusammenarbeiten, vom Bund etwa in Fragen der Sicherheitsüberprüfung bis zu den Kommunen bei der erfolgreichen Integration. Außerdem haben anerkannte Geflüchtete grundsätzlich nach drei Jahren das Recht auf Freizügigkeit, die Aufnahme lässt sich also faktisch nicht auf aufnahmebereite Kommunen beschränken. Nicht zuletzt ist die Aufnahmebereitschaft durch Kommunen in der Regel nicht mit ihrer Bereitschaft zur Kostenübernahme verbunden, der Bund und damit alle Steuerzahlenden bleiben also im Spiel. Für eine Aufnahme bedarf es entsprechend des Einvernehmens des Bundesinnenministers. Es darf aber nicht sein, dass politischer Aufnahmewille durch bürokratische Argumente und verwaltungstaktisches Handeln nicht zum Tragen kommt. Hier bieten die bestehenden gesetzlichen Regelungen bisher nicht die notwendige Rechtssicherheit.
Wir stehen deshalb hinter dem Beschluss des Landes Berlin, gegen die versagte Zustimmung zum landeseigenen Aufnahmeprogramm Rechtsmittel einzulegen. Denn die rechtliche Prüfung kann für die notwendige Klarheit sorgen, welchen Umfang das Einvernehmenserfordernis hat. Zugleich setzen wir uns für eine praktische Lösung ein, um die Interessen aller drei Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – besser zu vereinbaren. Daher fordern wir eine gesetzliche Neuregelung des § 23 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz. Nach Satz 3 soll neu eingefügt werden: „Das Einvernehmen gilt als erteilt, wenn das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat nicht innerhalb von vier Wochen begründete, die innere Sicherheit oder die Aufnahmebereitschaft anderer Staaten betreffende Bedenken geltend macht.“
Ganz grundsätzlich sind Städte und Kommunen in der Flüchtlingspolitik entscheidend und müssen in ihre Weiterentwicklung entsprechend einbezogen werden. Kommunen, die sich freiwillig zur Aufnahme und Integration von Asylsuchenden bereit erklären, sollte Geld aus EU-Finanzierungsinstrumenten zur Verfügung gestellt und in gleicher Höhe die Finanzierung für Entwicklungsprojekte ermöglicht werden, die von Bürger:innen mitentwickelt werden und allen zugutekommen. Dafür sollte Geld in einem Europäischen Fonds für gemeinsame kommunale Entwicklung zur Verfügung gestellt werden, der diese Aufnahme klar auch symbolisch als europäisches Projekt kennzeichnen würde
„Zugleich wissen wir, dass dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Wir fordern daher weiterhin die Ausweitung der Aufnahme von Geflüchteten im Rahmen einer europäischen Initiative.“
Deutschland hat sich seit März 2020 bereiterklärt, insgesamt 2.750 Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen. Diese Zahl hat die SPD-Bundestagsfraktion hart erkämpft. Auch vor Ort hat Deutschland umfangreiche humanitäre und technische Hilfe geleistet. Das Vorhaben der Europäischen Kommission und der griechischen Regierung, ein gemeinsames Aufnahmezentrum auf Lesbos zu errichten, unterstützen wir. Zugleich wissen wir, dass dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Wir fordern daher weiterhin die Ausweitung der Aufnahme von Geflüchteten im Rahmen einer europäischen Initiative. Zudem verweisen wir darauf, dass bereits jetzt die Bundesländer in einzelnen Fällen von ihren Möglichkeiten zur Erleichterung und Beschleunigung der Aufnahme von Schutzsuchenden – insbesondere im Rahmen der Familienzusammenführung – Gebrauch machen können.
Als Demokrat:innen und Europäer:innen stehen wir hinter der Idee eines menschenwürdigen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass eine Minderheit der europäischen Staaten dieser Idee den Rücken gekehrt hat. Deutschland muss vor diesem Hintergrund eine Vorreiterrolle einnehmen und zeigen: Wir stehen als offene Gesellschaft für die Aufnahme von Geflüchteten und helfen unseren europäischen Partnern an den Außengrenzen. Diese Signalwirkung brauchen wir momentan mehr denn je. Denn gerade in Zeiten der Krise ist gelebte Solidarität das Gebot der Stunde. Meinung
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