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Buchauszug

Todesopfer rechter Gewalt und der Kampf um Anerkennung

Zwischen der Zahl amtlich erfasster Todesopfer rechtsextremer Gewalt und Zahlen unabhängiger Stellen klafft eine große Lücke. Der Streit um die Deutungshoheit ist auch ein Kampf um Anerkennung.

Von und Freitag, 09.04.2021, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 08.04.2021, 11:08 Uhr Lesedauer: 14 Minuten  |  

Gerade einmal vier Tage nachdem Deutschland sich als wiedervereinigt feierte, ist das erste Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg zu beklagen. In Lübbenau, einer Kleinstadt im Spreewald, werden in einer Diskothek mehrere Polen angegriffen. Am nächsten Morgen wird Andrzej Frątczak erstochen aufgefunden. Rechte Bezüge der Täter sind offensichtlich. Einer von ihnen trägt ein T-Shirt mit dem Konterfei von Adolf Hitler und verkündet gegenüber dem Wirt, er sei der „Chef von Auschwitz“ (Kopke & Schulz 2015: 26). Zwei der Angreifer führen ein Jahr später einen Angriff auf eine Geflüchtetenunterkunft an. Andrzej Frątczak ist das erste Todesopfer rechter Gewalt im vereinigten Deutschland (Opferperspektive 2018). Der Mord ist der Auftakt für eine nicht enden wollende tödliche Gewaltserie im wiedervereinigten Deutschland, durch die in den folgenden 30 Jahren bundesweit ca. 200 Menschen ihr Leben verlieren.1 In der Polizeistatistik rechter Tötungsverbrechen ist der Fall bis 2015 nicht zu finden.

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Der Mord an Andrzej Frątczak und seine fehlerhafte Einordnung durch staatliche Behörden steht exemplarisch für viele weitere. Ausgehend von ihm versucht dieser Beitrag, die Dimensionen des Kampfes um Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt nachzuzeichnen. Dabei sollen die staatlichen Definitionssysteme für rechte Gewalt und ihre Weiterentwicklung einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Hierzu werden auch die Interventionen in die Debatte von zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Seite in den Blick genommen sowie die staatliche Reaktion darauf. Von herausragender Bedeutung sind die unabhängigen Überprüfungen von sogenannten „Altfällen“ in Brandenburg und Berlin.

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Dieser Text ist zuerst erschienen in: Cholia, Harpreet Kaur & Jänicke, Christin (Hg.): Unentbehrlich. Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, 2021, Münster: edition assemblage. S. 194 – 200

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Strafverfolgungsbehörden und Justiz haben nach dem Mord an Frątczak wenig Interesse, sich mit einem politischen Tatmotiv und der Gesinnung der Täter zu befassen. Ein Grundproblem, das bei auffallend vielen rechtsmotivierten Tötungsdelikten mit zur fehlerhaften polizeilichen Bewertung beitrug und heute noch beiträgt. Hinzu kommt, dass bis 2001 die „Überwindung der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ zwingend beabsichtigt sein musste, damit Taten einen Eingang in die polizeiliche Statistik rechtsmotivierter Straftaten finden. Dies führt dazu, dass Angriffe auf wohnungslose Menschen, Punks, geflüchtete Menschen, behinderte Menschen oder LGBTIQ*- Personen fast nie als Staatsschutzdelikte bewertet wurden.

Bereits seit den frühen 1990er Jahren führen Angehörige, Unterstützer:innen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und engagierte Journalist:innen eine vehemente Auseinandersetzung mit den Behörden um die Bewertung rechter Gewalttaten. Dabei geht es nicht nur um bloße Statistik, sondern um die Frage der staatlichen und öffentlichen Anerkennung des Ausmaßes der tödlichen Gewalt.

Warum Anerkennung wichtig ist

Der Aufklärungswille des Staates ist für viele Überlebende und Hinterbliebene zentral. Das schließt auch die Frage nach den Motiven mit ein. Die Getöteten gehören oft zu gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, deren Alltag von Abwertungserfahrungen geprägt ist. Diese Dynamik setzt sich mit der staatlich verweigerten Anerkennung über ihren Tod hinaus fort. In vielen Fällen wird das politische Motiv kaum wahrgenommen, stattdessen bestimmen entpolitisierende Erklärungsansätze die öffentliche Debatte. Als ob die Opfer es nicht wert seien, dass die Wahrheit zu den Todesumständen aufgeklärt wird. Dies erzeugt Ohnmacht, Enttäuschung und Wut. Zudem deutet die Unfähigkeit, solche Tötungsdelikte als rechtsmotiviert zu erkennen, auf die Unfähigkeit oder den Unwillen der Behörden hin, die tatsächliche Gefährlichkeit der Täter:innen und der tödlichen Gefahr extrem rechter Ideologie für Betroffenengruppen wahrzunehmen. Wie soll der Staat mögliche Betroffene schützen, wenn er die Gefahr von rechts nicht erkennen kann oder will? Dies macht die Dimensionen der Debatte deutlich: Für Marginalisierte und politische Gegner:innen ist der Kampf um Anerkennung potentiell ein Kampf um Leben und Tod. Staatlichen Behörden geht es zunächst um die Legitimität und Vertrauensbasis ihrer Bewertungen.

Es wäre aber falsch, das Ringen um Anerkennung als lediglich auf den Staat gerichtet zu fassen. Für Initiativen, Hinterbliebene und Überlebende geht es auch darum, einen Raum der Erinnerung zu schaffen, gesellschaftliche Debatten anzustoßen und ein lokales Gedenken anzuregen, um vor Ort ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass von Rechten, egal ob organisiert oder nicht, eine Gefahr ausgeht. Eine Gefahr, die nicht abstrakt ist, sondern Nachbar:innen, Arbeitskolleg:innen und Freund:innen treffen kann und trifft.2

Die Schwächen staatlicher Erfassung

„Den staatlichen Stellen beginnt die Deutungshoheit darüber zu entgleiten, was als rechte Gewalt zu gelten hat. Ab diesem Zeitpunkt ist dieser Prozess nicht mehr aufzuhalten. Wenig später wird das polizeiliche Erfassungssystem reformiert.“

Die Diskrepanz zwischen der Anzahl staatlich anerkannter Todesopfer rechter Gewalt und unabhängigen Zählungen wird im Jahr 2000 offenkundig. Im September 2000 veröffentlichen Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau das erste Mal die Langzeitdokumentation Todesopfer rechter Gewalt seit 1990, in der das Schicksal von 93 Menschen dokumentiert wird. Zu diesem Zeitpunkt erkennt die Bundesregierung lediglich 24 davon an. Die Chronik der Medien sorgt für steigenden Druck auf die Bundesregierung (Holzberger 2001). Den staatlichen Stellen beginnt die Deutungshoheit darüber zu entgleiten, was als rechte Gewalt zu gelten hat. Ab diesem Zeitpunkt ist dieser Prozess nicht mehr aufzuhalten. Wenig später wird das polizeiliche Erfassungssystem reformiert. An Stelle einer Extremismusdefinition, die Straftaten, die sich unmittelbar gegen die staatliche Ordnung richten, in den Blick nimmt, rückt eine Definition Politisch motivierter Kriminalität (PMK). Nun werden Taten erfasst, wenn sie sich gegen Menschen aufgrund ihrer „politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, ihres Erscheinungsbildes, Behinderung, sexueller Orientierung oder gesellschaftlichen Status“ richtet (WD 2018: 7). An den Entwicklungen von 2001 lässt sich nachzeichnen, welchen Einfluss journalistische und zivilgesellschaftliche Interventionen auf die Weiterentwicklung staatlicher Bewertungsinstrumente haben können.

Das neue polizeiliche Bewertungssystem führt jedoch nicht dazu, dass die Differenz zwischen staatlichen und unabhängigen Zählungen substanziell geringer wird. Die Zahlen klaffen auseinander. Weiterhin werden mehr als die Hälfte der Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik nicht staatlich anerkannt. Das PMK-System hat seine Schwächen. Es handelt sich um eine Eingangsstatistik, bei der die Ermittlungsbehörden bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Tatmotive bewerten müssen. Diese Konzeption sorgt dafür, dass später gewonnene Erkenntnisse, wie etwa Aussagen zur Motivation von Täter:innen während des Gerichtsverfahrens, fast nie an die Ermittlungsbehörden zurückgemeldet werden. Eine nachträgliche Umbewertung findet selbst bei Tötungsdelikten nur in Ausnahmefällen statt, obwohl der NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss „einen verbindlichen gegenseitigen Informationsaustausch zwischen Polizei und Justiz – zumindest bei PMK-Gewaltdelikten“ empfiehlt (BT-Drs. 17/14600 2013: 861). Darüber hinaus verlangt das Definitionssystem, dass mögliche politische Motive tatauslösend bzw. tatbestimmend wirken. In der Realität jedoch verschränken sich oft Motivlagen. So fallen Taten, bei denen beispielsweise die rassistische Gesinnung der Täter:innen eskalierend im Tatgeschehen wirkt, aber nicht allein Auslöser für den Angriff ist, durch das Raster behördlicher Erfassung. Denn in der Praxis legen die Behörden bei der Tatmotivation quasi-gerichtliche Maßstäbe der Eindeutigkeit an, die zu einem frühen Ermittlungszeitpunkt kaum gegeben sein können.

Auswirkungen des NSU-Skandals

„Durch die skandalösen Ermittlungen in den NSU-Morden verlieren die Behörden weiteres Vertrauen bei der Bevölkerung, ihnen wird die Kompetenz abgesprochen, rechte Gewalttaten zu erkennen und richtig zu bewerten.“

Durch die Selbstenttarnung des NSU kommt bundesweit auch Bewegung in die Überprüfung von Tötungsdelikten mit möglichem rechtem Hintergrund, die bereits länger zurückliegen. Durch die skandalösen Ermittlungen in den NSU-Morden verlieren die Behörden weiteres Vertrauen bei der Bevölkerung, ihnen wird die Kompetenz abgesprochen, rechte Gewalttaten zu erkennen und richtig zu bewerten. Damit geraten sie weiter unter Erklärungs- und Handlungsdruck. Auch der Bundestagsuntersuchungsausschuss kommt zu einem harschen Ergebnis: „Nach den Feststellungen des Ausschusses wurde die Gefahr des gewaltbereiten Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus auch vom polizeilichen Staatsschutz völlig falsch eingeschätzt. Die polizeiliche Analyse rechtsextremistischer Gewalt war fehlerhaft, das Lagebild dadurch unzutreffend“ (BT-Drs 17/14600 2013: 861). Mit einer erneuten behördeninternen Prüfung von 745 Tötungsdelikten, bei denen  nfangsverdachtsmomente für ein rechtsextremes Tatmotiv vorliegen, soll dieses fehlerhafte Bild korrigiert werden. Doch bringen tut es wenig. Die Behörden stellen vielmehr erneut ihre fehlerhafte Analysefähigkeit unter Beweis. Gerade einmal vier Bundesländer melden insgesamt acht Fälle nach (BT-Drs 18/5639 2015: 8).

Die „Brandenburg-Studie“

Lediglich das Land Brandenburg geht einen anderen Weg. Hier fordert die Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt Opferperspektive jahrelang eine unabhängige Überprüfung aller von Medien und Opferberatungsstellen dokumentierten Tötungsdelikte. 2013 greift das Land diese Forderung auf und beauftragt das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam mit einer unabhängigen Überprüfung aller umstrittenen Fälle. Ein Expert:innenkreis aus staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, in dem auch die Opferperspektive vertreten ist, begleitet das Forschungsprojekt beratend. „Nur in wenigen Fällen kann ein rechtsextremes oder rassistisches Motiv mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden“, so die Bewertung der Wissenschaftler:innen. Sie schlagen dem Brandenburger Innenministerium neun der 24 überprüften Fälle zur nachträglichen Anerkennung vor (Kopke & Schulz 2015: 4). Das Land folgt dieser Empfehlung und nimmt die Fälle 2015 in die polizeiliche Statistik zur politisch motivierten Kriminalität auf. Dazu gehört endlich auch Andrzej Frątczak.

„…blinde Flecken bei den polizeilichen Ermittlungen werden sichtbar. Wo sich Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht für mögliche vorurteilsgeleitete Tatmotive interessierten und ersten Hinweisen nicht nachgingen, wo keine Initiative intervenierte und Medien nicht kritisch berichteten, ist es kaum möglich, retrospektiv eine Neubewertung vorzunehmen.“

Das Bewertungsschema der Studie ist allerdings recht eng an den bestehenden Kriterien des PMK-Systems angelehnt. In ihrem Bericht konstatieren die Wissenschaftler:innen, „dass das polizeiliche Erfassungssystem PMK allein nur bedingt geeignet ist, das Rechtsextremismusproblem und sein gesellschaftliches Ausmaß adäquat abzubilden“ (Kopke & Schulz 2015: 5). Der wissenschaftlichen Überprüfung sind weitere Grenzen gesetzt. Es sind vor allem die Ermittlungs- und Gerichtsakten, die überprüft werden. Eingangs beschriebene blinde Flecken bei den polizeilichen Ermittlungen werden sichtbar. Wo sich Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht für mögliche vorurteilsgeleitete Tatmotive interessierten und ersten Hinweisen nicht nachgingen, wo keine Initiative intervenierte und Medien nicht kritisch berichteten, ist es kaum möglich, retrospektiv eine Neubewertung vorzunehmen. Teils ist man in der Überprüfung von den dokumentierten Einlassungen der Täter abhängig. Deutlich zeigt sich dies an zwei kurz hintereinander durch denselben Neonazi verübten Morden in Cottbus im Jahr 1997. Im Fall des Mordes am 39-jährigen Mathias Scheydt gibt der Täter an, Scheydt getötet zu haben, weil dieser ihn als „Nazischwein“ und „rechte Sau“ beschimpft habe (Kopke & Schulz 2015: 117). Beim wenige Tage später von ihm getöteten 46-jährigen Georg Jürgen Uhl behauptet der Täter, der Grund seien (äußerst geringe) Geldschulden gewesen (Kopke & Schulz 2015: 120). Es gibt zwar Indizien, die letzteres unplausibel machen, jedoch wurde zum Zeitpunkt der Ermittlungen ein politisches Motiv kaum geprüft. So wird Mathias Scheydt mittlerweile als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt, Georg Jürgen Uhl hingegen nicht. Unabhängig davon ist es ein Verdienst der Studie, dass die Namen der zwei in Cottbus Getöteten überhaupt erst der Öffentlichkeit bekannt werden. Jenseits der Frage staatlicher Bewertung ein wichtiger Baustein für Gedenken und zivilgesellschaftliche Anerkennung der Opfer.

Dimensionen der Überprüfung

Die Brandenburger Studie stellt einen Meilenstein in der Anerkennungsdebatte dar und zeigt, wie wichtig eine unabhängige Überprüfung für die Beurteilung rechter Gewalt ist. Sie wird bundesweit von Wissenschaftler:innen und Initiativen hoch gelobt und in Polizeikreisen heftig diskutiert. Einige Bundesländer folgen dem Brandenburger Beispiel. Die Untersuchung des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin führt 2018 zur nachträglichen Anerkennung von sieben Todesopfern rechter Gewalt (Feldmann et al. 2018). Thüringen beschließt 2018 eine unabhängige Neuüberprüfung. Im niedersächsischen Landtag wird auf Antrag der Grünen darüber beraten. In den meisten Bundesländern fehlt jedoch der politische Wille, die umstrittenen Altfälle erneut zu überprüfen. Zu groß scheint die Angst, Fehler erklären zu müssen.

Die Analyse der Berliner Forschungsgruppe zur Nützlichkeit des bestehenden polizeilichen Erfassungssystems geht noch einen entscheidenden Schritt weiter als ihre Brandenburger Kolleg:innen. Sie halten die ausschließliche Bewertung der zu überprüfenden Fälle entlang des bestehenden PMK-Systems für nicht ausreichend, um die politischen Elemente der Taten greifen zu können und schlagen Erweiterungen der Systematik vor.

„Der Kampf um Anerkennung braucht einen langen Atem, denn Zugeständnisse staatlicher Behörden und die Überprüfung ihrer Arbeit erfolgen fast ausschließlich auf öffentlichen Druck.“

Die Ergänzungen zum PMK-System betreffen zwei konkrete Bereiche. Zum einen benennen die Forscher:innen den Bereich Selbstjustiz/Vigilantismus als neues Themenfeld (Feldmann et al. 2018: 30). Taten also, bei denen Tatverdächtige aus ihrer rechten Ideologie heraus „eigenmächtig Strafverfolgung und Selbstjustiz ausüben“ (ebenda). Der zweite Vorschlag ist wesentlich umfassender. Er betrifft „Gruppentaten gewalthabitualisierter Täter aus rechtsextremen Gewaltmilieus“ (ebenda). Diese Beschreibung bezeichnet Übergriffe, die Rechte aus einer Gruppensituation heraus begehen, oder Angriffe, bei denen die Gewaltausübung zuvor als Gruppe geplant oder beschlossen wurde. Mit „Habitualisierung“ ist gemeint, dass die Täter:innen aufgrund ihrer tiefen Verwurzelung in einem extrem rechten Milieu Gewalt als normales Verhalten betrachten und die ihrer Ideologie entsprechenden Feindbilder verinnerlicht haben. Die vordergründigen Motive einer Tat sind vor diesem Hintergrund nicht mehr ausschlaggebend, weil die durch das extrem rechts geprägte Umfeld entstandene Gewöhnung an Gewalt- und Machtausübung entscheidenden Einfluss nimmt (Feldmann et al. 2018: 31).

Die Implikationen sind durchaus umfassend. Würde die vorgeschlagene PMK-Erweiterung der Berliner Wissenschaftler:innen bundesweit Anwendung finden, müssten etliche bisher nicht anerkannte Todesfälle auch vor diesem Hintergrund neu bewertet werden. Selbst in Brandenburg stünden weitere Fälle auf dem Prüfstand.

Ausblick

Der Kampf um Anerkennung braucht einen langen Atem, denn Zugeständnisse staatlicher Behörden und die Überprüfung ihrer Arbeit erfolgen fast ausschließlich auf öffentlichen Druck. Diese Prozesse zu begleiten und den Druck langfristig aufrechtzuerhalten, ist eine wichtige Aufgabe in der Anerkennungsdebatte.

Die politischen Forderungen der Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen aufzugreifen und mit ihnen Seite an Seite durchzusetzen, ist aus unserer Sicht eine zentrale Triebfeder, um den Kampf um Anerkennung auszufechten. Ihre Stimmen in den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen und hörbar zu machen, kann dabei nur ein erster Schritt sein. Es geht auch darum, Zugänge zu erkämpfen, um institutionelle Veränderungen zu bewirken. Da die Bewertungspraxis des PMK-Systems unmittelbar mit der polizeilichen Aufklärungspraxis zusammenhängt, reichen die Konsequenzen deutlich über Fragen der statistischen Einordnung hinaus. Für potentiell Betroffene kann es überlebensnotwendig sein, dass Politik und Gesellschaft von den Behörden ein reales Lagebild zur Gefahr erhalten, die von rechter und rassistischer Ideologie und Organisierung ausgeht. Das ist häufig die Basis des Handelns. Dementsprechend kann der ohne Frage große Erfolg, dass in der gesellschaftlichen Debatte die Opferzahlen von Journalist:innen; Opferberatungsstellen und anderen NGOs mehr Legitimität genießen als die staatlicher Behörden, noch nicht das Ende sein. Die Auseinandersetzung mit der staatlichen Bewertungspraxis bleibt notwendig, der Kampf um Anerkennung ist noch lange nicht vorbei.

Literaturverzeichnis

  • BT-Drs 17/14600 (2013): Beschlussempfehlungen und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes.
  • BT-Drs 18/5639 (2015): Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Monika Lazar, Irene Mihalic, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN– Drucksache 18/5488.
  • Feldmann, Dorina; Kohlstruck, Michael; Laube Max; Schultz, Gebhard. & Tausendteufel, Helmut (2018): Klassifikation politisch rechter Tötungsdelikte – Berlin 1990 bis 2008. Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin.
  • Holzberger, Mark (2001): Offenbarungseid der Polizeistatistiker – Registrierung rechtsextremistischer Straftaten, Beitrag vom 09.02.2001, online unter: https://www.cilip.de/2001/02/09/offenbarungseid-der-polizeistatistiker-registrierung-rechtsextremistischer-straftaten/ [05.02.2020].
  • Jaschke, Gabi (2013): Es wird geschwiegen bis es wieder passiert. Diskussion zum Gedenken an Todesopfer rechter Gewalt. In: Opferperspektive (Hg.): Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt. An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  • Kopke, Christoph & Schultz, Gebhard (2015): Forschungsprojekt „Überprüfung umstrittener Altfälle Todesopfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“. Potsdam: Moses Mendelssohn Zentrum.
  • LT-Drs 17/23552 (2018): Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Claudia Stamm fraktionslos vom 09.06.2018, Ermittlungen der bayerischen Behörden im Fall des OEZ-Attentate.
  • Opferperspektive (2018): Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg, Andrzej Frątczak, online unter: https://www.todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/victims-andrzej-fratczak.php [18.7.2020].
  • Opferperspektive (Hg.) (2013): Rassistische Diskriminierung und rechte Gewalt. An der Seite der Betroffenen beraten, informieren, intervenieren. Münster: Westfälisches Dampfboot.
  • Tagesschau (2019): Ermittler sehen doch rechtsradikale Tat. Beitrag vom 25.10.2019, online unter https://www.tagesschau.de/inland/muenchen-attentat-oez-101.html [25.07.2020].
  • WD | Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2018): Sachstand. „Politisch motivierte Kriminalität“–Begriffserklärungen. WD 7 -3000 -194/18, online unter https://www.bundestag.de/resource/blob/579832/%C3%89/WD-7-194-18-pdf-data.pdf [01.10.2020].
  1. Verschiedene Organisationen und Medien dokumentieren in Chroniken diese Todesfälle. Die Opferperspektive dokumentiert aktuell 196 Todesfälle. Hinzu kommen eine Vielzahl von Verdachtsfällen siehe https://opfer-rechter-gewalt.de/ [28.09.2020].
  2. Zur Arbeit und Hintergründen von lokalen Gedenkinitiativen für Todesopfer rechter Gewalt siehe auch Jaschke 2013.
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