Rechtsextremismus
Diese Fälle stehen nicht in der offiziellen Statistik für rechte Gewalttaten
Zwischen amtlichen Statistiken zu rechtsextremen Straftaten und den Zahlen unabhängiger Stellen klafft eine Lücke. Der Verband der Beratungsstellen führt acht Fälle exemplarisch auf. MiGAZIN dokumentiert sie im Wortlaut.
Montag, 19.04.2021, 5:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 19.04.2021, 1:46 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt hat Polizei und Staatsanwaltschaften vorgeworfen, das Ausmaß rechter Gewalt weiterhin zu unterschätzen. „Wie schon in den Vorjahren müssen wir feststellen, dass in den Jahresbilanzen der Strafverfolgungsbehörden der Länder und des Bundeskriminalamtes zahlreiche Gewalttaten aus 2020 fehlen, in denen die Täter mit unglaublicher Brutalität vorgegangen sind und offensichtlich aus rassistischer und rechter Motivation gehandelt haben“, erklärte Robert Kusche vom Verband der Beratungsstellen am Freitag in Dresden. Die Betroffenen hätten Schussverletzungen, Tritte, Schläge und Messerstiche oft nur durch glückliche Umstände überlebt.
Kusche sprach von einer mangel- und lückenhaften Erfassung und Anerkennung von Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus als Tatmotive durch Polizei und Justiz. Dadurch würde das Ausmaß der tödlichen Dimension rechter Gewalt verschleiert.
Kusche nannte dabei mehrere Beispiele von vollendeten oder versuchten Tötungsdelikten im vergangenen Jahr, die bislang von den Landeskriminalämtern nicht als politisch motivierte Gewalttaten gewertet würden. Es handelte sich um Vorkommnisse etwa in Altenburg, Schweinfurt, Halle/Saale, Stralsund, Guben, Dresden und Coburg. MiGAZIN dokumentiert die vom Verband angegebenen Beispielfälle im Wortlaut:
Altenburg, 12.02.2020
Ein 52-Jähriger wird in seiner Wohnung von zwei jungen Männern mit Bezügen zur rechten Szene mit einem Messer angegriffen und mit Schlägen und Tritten gegen Oberkörper und Kopf so lange misshandelt, bis er stirbt. Zu ihren Motiven geben die Angreifer im Mordprozess am Landgericht Gera im März 2020 an, sie hätten den Mann für seine angebliche Homosexualität und vermutete Pädophilie bestrafen und ihm einen „Denkzettel“ verpassen wollen. Bislang ist offen, ob das LKA Thüringen den Mord als PMK-Rechts Tötungsdelikt wertet.
Schweinfurt, 25.02.2020
Ein 19-jähriger Algerier wird am Faschingsdienstag auf dem Roßmarkt durch einen Messerstich in den Herzmuskel lebensgefährlich verletzt. Bei dem 27-jährigen Täter werden zahlreiche rechtsextreme Propagandagegenstände und einschlägige Szenekleidung gefunden. Dennoch lässt das Urteil der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Schweinfurt die Frage nach Rassismus als Tatmotiv offen. Der Täter wird wegen gefährlicher Körperverletzung zu fünf Jahren Haft verurteilt. In den PMK-Rechts Statistiken des LKA Bayern wird der Fall nicht erwähnt.
Halle/Saale, 01.05.2020
An einer Straßenbahnhaltestelle werden kurz vor 1 Uhr nachts zwei syrische Geflüchtete von drei Unbekannten umringt, rassistisch und homophob beleidigt und dann unvermittelt zu Boden geschlagen. Einer der beiden Angegriffenen erleidet lebensbedrohliche Kopf- und Gesichtsverletzungen und muss mehrfach operiert werden. Die Ermittlungen wegen versuchten Totschlags sind über Monate blockiert, weil die Staatsanwaltschaft Halle die Ermittlungsakten „verliert“. Das LKA Sachsen-Anhalt führt den Angriff nicht in der PMK-Rechts Statistik. Auch in der Anklage, die die Staatsanwaltschaft Halle mittlerweile erhoben hat, fehlen Rassismus und Homophobie als Tatmotive.
Stralsund, 21.05.2020
Eine Gruppe von fünf Rechten greift nach rassistischen Beleidigungen einen Geflüchteten aus Somalia an und schlägt ihn bewusstlos. Dann zerren die Angreifer den leblosen Körper des Betroffenen auf eine viel befahrene Straße. Nur Dank des beherzten Eingreifens eines Zeugen überlebt der Betroffene den Angriff. Obwohl der Betroffene die rassistischen Beleidigungen verstanden und der Ersthelfer die Angreifer als Rechte beschrieben hat, wertet das LKA Mecklenburg-Vorpommern den Angriff nicht als PMK-Rechts Gewalttat. Eine Anklage gegen die polizeibekannten Angreifer gibt es bis heute nicht.
Guben, 22.05.2020
Zwei Geflüchtete sind mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Supermarkt, als ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit auf sie zufährt mit frt Absicht, sie anzufahren. Beim Versuch auszuweichen, verletzt sich einer der Geflüchteten. Dann legt der Autofahrer den Rückwärtsgang ein und versucht erneut, die Geflüchteten anzufahren. Kurze Zeit später versucht der Autofahrer einen dritten Geflüchteten anzufahren. Die Amokfahrt endet erst, als das Auto des Angreifers sich am Bürgersteig verkantet. Die Täter flüchten zu Fuß und werden kurze Zeit später gefasst. Einer von ihnen wird der rechten Szene zugeordnet. Eine Anklage ist bis heute nicht erhoben. Das LKA Brandenburg wertet den Fall nicht als PMK-Rechts Gewalttat.
Dresden, 30.08.2020
Bei einer Open-Air-Technoparty in der Dresdener Heide mit vielen Besucher:innen aus der alternativen Szene beleidigt ein 16-jähriger Rechter zunächst eine Besucherin rassistisch und zeigt den Hitlergruß. Dann sticht er mit einem Messer auf einen jungen Mann und eine jungen Frau ein und verletzt beide lebensgefährlich. Die Staatsanwaltschaft Dresden hat inzwischen Anklage wegen zweifachen versuchten Mordes erhoben, sieht jedoch kein rechtes Tatmotiv. Das LKA Sachsen führt den Angriff nicht als PMK-Rechts Gewalttat.
13.06.2020, Coburg
Am Goldbergsee greifen drei Männer eine syrische Familie mit Kleinkindern an. Mit der Drohung „Ich steche euch ab, ihr K***[rassistisches Schimpfwort]!“ schlägt der Haupttäter so brutal mit einer Metallstange auf den Kopf des Familienvaters, dass dieser dauerhaft den Großteil seines Hörvermögens verliert. Obwohl die Staatsanwaltschaft von einer rassistisch motivierten Tat ausgeht und Rassismus im Plädoyer hervorhebt, hält das Amtsgericht Coburg das Angriffsmotiv für ungeklärt und verurteilt den Angreifer wegen Körperverletzung zu einer 16-monatigen Haftstrafe. Das LKA Bayern führt den Angriff nicht als PMK-Rechts Gewalttat.
Esens, 20.07.2020
Am Abend des 20. Juli 2020 wird ein somalischer Familienvater unvermittelt vom Gastgeber einer privaten Party mit einem umgebauten Luftgewehr bedroht und dann durch Schüsse lebensgefährlich verletzt. Der Betroffene verliert einen Teil seiner Lunge und muss intensivmedizinisch behandelt werden. Das Landgericht Aurich verurteilt den 29-jährigen Täter, der Mitglied rechtsextremer Chatgruppen war und in seiner Wohnung Schwarzpulver gehortet hatte, im März 2020 zu 9,5 Jahren Haft wegen versuchten Mordes und benennt Rassismus und Ausländerfeindlichkeit als Tatmotive. Dennoch wird der Fall vom LKA Niedersachsen bislang nicht als PMK-Rechts Gewalttat genannt.
Der Verband mit Sitz in Berlin ist ein Zusammenschluss von 14 unabhängigen Beratungsstellen für Betroffene rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt aus 13 Bundesländern. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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