Rezension
Eine Streitschrift, die Einsprüche und Gegenargumente weckt
Integration - Migrationsforscher Stefan Böckler will in seinem neuen Buch „Eine Streitschrift gegen den Mainstream der deutschen Integrationsdebatte“ Annahmen des Mainstreams einer kritischen Überprüfung unterziehen.
Von Prof. Dr. Klaus F. Geiger Freitag, 30.04.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 28.04.2021, 12:50 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Dies ist eine Streitschrift. Gespeist wird ihr Furor durch Erfahrungen, die der Autor in Verwaltungs- und Wissenschaftskontexten gemacht hat und – wie der Rezensent meint – zu Recht als frustrierend empfindet. Seine Erfahrung: Wann immer er auf den Faktor Kultur hingewiesen hat, der als Variable berücksichtigt werden muss, will man die Integration von Migrantinnen und Migranten in die deutsche Gesellschaft erklären, ist er auf Desinteresse oder gar Ablehnung gestoßen.
Das Herzstück des Essays findet sich folgerichtig in dem Kapitel „Does Culture Matter“. Hier wird mit großer Stringenz dargelegt, dass alle Bemühungen, den Kultur-Begriff zu dekonstruieren, in sich nicht schlüssig sind oder doch keineswegs ausreichen, um die Wirkkraft von Kultur als beeinflussendem Faktor von Selbst- und Fremdbildern, Handlungsweisen und Wechselbeziehungen gänzlich auszuschließen. Dabei betont der Autor überzeugend, dass dies gilt, auch wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass die Vorstellung von kulturellen Großeinheiten das Ergebnis vergangener Identitätspolitiken ist.
Was sind diese politisch-sozialen Großeinheiten, deren Kultur auch bei Integrationsprozessen zu berücksichtigen sein soll? Der Autor bezieht sich (hauptsächlich, nicht durchgängig) auf die Nationalität der verschiedenen Einwanderungsgruppen wie auch der Mehrheitsgesellschaft. Sein Argument: Es muss erlaubt sein, bei der Untersuchung des Integrations-Zustandes der Gruppen und der Gesamtgesellschaft auch empirisch zu überprüfen, ob die jeweilige nationale Zugehörigkeit eine Erklärung anbietet. Die Betonung liegt hier auf dem Wort „eine“. Denn durchgängig geht es dem Autor nicht darum, andere Erklärungsvariablen bei der Durchführung der Forschung auszuschließen. Worauf er Wert legt: Diese Forschung und die Interpretation ihrer Ergebnisse müssen „multikausal“ angelegt sein.
In einem weiteren Hauptkapitel, überschrieben „Schuld ist immer die Mehrheitsgesellschaft“, moniert der Autor, dass Integrationsprobleme Eingewanderter immer einseitig auf Vorurteile der deutschen Mehrheitsbevölkerung zurückgeführt würden. Tatsächlich berichtet er von empirischen Untersuchungen, die in ihrer Anlage Faktoren auf Seiten der Einwanderungsgruppen unbeachtet lassen oder gar in ihrer Ergebnisdarstellung vorurteilsfreie Einstellungen der befragten Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft uminterpretieren in negative Vorurteile. Hier vermisst der Autor zurecht, was für empirische Forschung selbstverständlich sein sollte: Werturteilsfreiheit in Design und Interpretation.
Was in dieser Schrift fehlt: Es gibt keine explizite Definition der Begriffe Kultur und Integration. Ausgeblendet bleibt auch die Rolle staatlicher Regulierung und medialer Darstellung von Integrationsprozessen, zum Beispiel die allzu lange gültige Definition der Bundesrepublik als Nicht-Einwanderungsland oder die Tatsache, dass der Kultur-Begriff im politisch-medialen Diskurs seit Anfang der 80er-Jahre hauptsächlich eingesetzt worden ist, um Zuwanderer und Zuwanderinnen aus der Türkei als die gänzlich Fremden und daher weder Integrationsbereiten noch Integrationswilligen zu etikettieren (zeitgeschichtliche Tatsachen, die jetzt selbst Konservative dazu bewegen, bei der heutigen Integrationspolitik nicht die Fehler des vergangenen Jahrhunderts zu wiederholen.)
Nochmals sei es gesagt: Es handelt sich hier um eine Streitschrift. Sie weckt Einsprüche und Gegenargumente. Ist der inkriminierte Standpunkt tatsächlich „Mainstream“? Dem Rezensenten fallen durchaus Namen von Wissenschaftlern ein, die empirische Forschung so anlegten und ihre Ergebnisse so interpretierten, dass vorgefasste Meinungen über die Gefährlichkeit einer bestimmten nationalen Einwanderungsgruppe ihre Bestätigung fanden.
Es fällt ihm auf, dass im Kapitel über die sogenannte Ausländerkriminalität der Name des wohl einflussreichsten Wissenschaftlers fehlt, wenngleich einer seiner Beiträge im Literaturverzeichnis enthalten ist. Schließlich besteht der Rezensent darauf, dass der Übergang vom einen zum anderen und die Funktionsäquivalenz beider Begriffe es durchaus erlauben, nicht nur von einem biologistischen, sondern auch von einem kulturalistischen Rassismus zu sprechen.
Wenn Sie die letzten Sätze gelesen haben, werden sie feststellen, wozu eine Streitschrift gut sein kann. Sie dient nicht nur dazu, einen Standpunkt gut begründet darzulegen. Sie dient – und zwar gerade durch ihre gewollte Einseitigkeit – dazu, sie zwingt gerade dazu, eigene und differierende Standpunkte zu überdenken und zu präzisieren. Aktuell Rezension
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