„Die anderen müssen wir wegschicken“
Corona vergrößert die Not in Somalia – auch in den Krankenhäusern
Mehr als 800.000 Kleinkinder könnten in Somalia in den kommenden Monaten verhungern. Die Corona-Krise, eine Heuschreckenplage, Gewalt und der Klimawandel stürzen immer mehr Menschen ins Elend. Das Gesundheitssystem kann nur wenige retten.
Von Bettina Rühl Freitag, 30.04.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.04.2021, 16:35 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Vor den Flachbauten auf dem Klinikgelände bilden sich schon am Morgen lange Schlangen. „Das ist jeden Tag so“, sagt Mohamed Dakane, der die Mutter-Kind-Klinik in der somalischen Hauptstadt Mogadischu leitet. Vor dem Gebäude, in dem das Ernährungsprogramm der SOS-Klinik untergebracht ist, stehen besonders viele Mütter, ihre kleinen Kinder auf dem Arm. Deren abgemagerte Körper sind in Tücher gehüllt, oft ist von dem kleinen Menschen in dem Bündel kaum etwas zu sehen.
Diejenigen, deren Zustand besonders kritisch ist, werden im Krankenhaus aufgenommen. Sie liegen dann unter Moskitonetzen in 24 winzig kleinen Betten. Wie eigentlich immer in den vergangenen Monaten sind auch an diesem Morgen alle Bettchen belegt. In der Klinik werden Jahr für Jahr rund 4.500 Kinder aufgepäppelt und 670 Mütter.
Das ist die Obergrenze. „Mehr können wir nicht helfen“, sagt Dakane. „Die anderen müssen wir wegschicken.“ Sie empfehlen den Müttern, sich an eine andere Hilfsorganisation zu wenden, „aber ich glaube nicht, dass sie alle Hilfe kriegen“, räumt der Arzt ein. Die Not ist größer als die Kapazitäten der Helfer. Das auszuhalten, empfindet Dakane trotz jahrelanger Berufserfahrung noch immer als eine der härtesten Seiten an seinem Beruf.
Not noch größer geworden
Im vergangenen Jahr ist die Not noch größer geworden, und sie wird noch zunehmen. Laut den Vereinten Nationen sind in Somalia rund 2,7 Millionen Menschen von einer schweren Hungerkrise bedroht. Darunter sind etwa 840.000 Kinder unter fünf Jahren. Denn seit dem vergangenen Jahr stehe das Land im Osten Afrikas unter einem „dreifachen Schock“: Überflutungen und Dürren infolge des Klimawandels, einer Heuschreckenplage und der Corona-Pandemie.
Die Pandemie werde die Armut in Somalia weiter vergrößern, heißt es im jüngsten Bericht der Weltbank. Die Wirtschaftsleistung werde um 2,5 bis drei Prozent sinken. Ursprünglich hatte die Bank für 2020 ein Wachstum von 3,2 Prozent erwartet.
Weil kaum getestet wird…
Die Infektionszahlen selbst sind mit knapp 10.000 bekannten Fällen relativ niedrig. Im Zusammenhang mit dem Coronavirus hat die Regierung etwas mehr als 400 Tote gemeldet. Weil kaum getestet wird, dürfte die Dunkelziffer allerdings hoch sein. Die staatlichen Einrichtungen testeten landesweit rund 300 Menschen am Tag, bei einer Bevölkerung von fast 16 Millionen Menschen, sagt Abdirizak Yusuf Ahmed. Der Arzt leitet das Demartini-Krankenhaus in Mogadischu, das zentrale staatliche Krankenhaus für die Behandlung von Corona-Infizierten. Die meisten Tests würden in der Hauptstadt gemacht: „Über die Lage im Rest des Landes wissen wir nichts.“
Angesichts der Entwicklung in Mogadischu ist Ahmed aber in größter Sorge, dass sich Somalia in einer zweiten oder dritten Welle befindet. Auch die Gesundheitsministerin des Landes ist besorgt: dem US-Sender Voice of America sagte Fawziya Abikar, die Fallzahlen seien binnen eines Monats um mehr als 52 Prozent gestiegen. Die Ministerin mahnte die Bevölkerung, Masken zu tragen und Menschenansammlungen zu meiden.
Durchfall, Malaria, Unterernährung
„Aber viele Menschen nehmen die Pandemie immer noch nicht ernst“, bedauert Klinikdirektor Dakane. Denn die anderen Krisen und Krankheiten fordern in Somalia viel mehr Tote als das Virus: Die Shabaab-Miliz, die zum Al-Kaida-Netzwerk gehört, verübt regelmäßig Terroranschläge mit Dutzenden oder manchmal gar Hunderten Opfern. Am tödlichsten sind aber laut Dakane die vielen vermeidbaren Krankheiten, die mit der Armut der Bevölkerung einhergehen: „Lungenentzündung, Durchfall, Malaria, schwere Unterernährung.“
Weil die somalische Regierung nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs wenig Einnahmen generiert, ist das ohnehin kaum ausgebaute Gesundheitssystem nahezu komplett in privater Hand oder wird von ausländischen Gebern finanziert. „Im Moment richtet sich die Aufmerksamkeit vieler Geber vor allem auf die Corona-Pandemie“, beschreibt Dakane. Er fürchtet, dass deshalb für die überlebenswichtige Grundversorgung immer weniger Geld übrig bleibt: für Impfprogramme, pränatale Untersuchungen, Entbindungsstationen und die allgemeine Gesundheitsversorgung. Viele Menschen werden sterben, obwohl ihnen leicht geholfen werden könnte. (epd/mig) Ausland Leitartikel
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