Anzeige

Zu arm zum Wählen

Sozial benachteiligte Personen nehmen ihr Wahlrecht seltener wahr

„Meine Stimme zählt doch eh nicht“: Diese Einstellung scheint unter sozial benachteiligten Menschen stärker verbreitet zu sein als in der übrigen Bevölkerung. Starke Unterschiede bei der Wahlbeteiligung haben Folgen auf politische Entscheidungen.

Von Dienstag, 01.06.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.06.2021, 12:48 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Es ist der 24. September 2017. Die Bürgerinnen und Bürger Berlins sind aufgerufen, ihre Stimme für die Bundestagswahl abzugeben. Im Bezirk Steglitz-Zehlendorf tun das 81,7 Prozent der Wahlberechtigten. In Marzahn-Hellersdorf sind es 69,3 Prozent. Eine Differenz von rund zwölf Prozentpunkten – bei der gleichen Wahl, in der gleichen Stadt. Bloß leben in einem Bezirk eher sozial privilegierte, im anderen Bezirk eher sozial benachteiligte Menschen. Studien belegen zudem: Die Wahlbeteiligung unter Wählern mit Migrationshintergrund ist ebenfalls unterdurchschnittlich.

Was die Zahlen der Landeswahlleiterin Berlin zeigen, ist tatsächlich deutschlandweit ein Problem. Sozial benachteiligte Menschen beteiligen sich grundsätzlich weniger politisch und somit an Wahlen, sagt die Professorin für Politikwissenschaften, Ina Schildbach, von der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg.

___STEADY_PAYWALL___

Parameter für Wahlbeteiligung

„Es gibt verschiedene Parameter für die Wahlbeteiligung in einem Stadtteil“, sagt sie. Dazu gehörten unter anderem die Einkommenshöhe, Arbeitslosigkeit und das Alter. Daraus ergeben sich starke Kontraste bei der politischen Partizipation, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt. Demnach war die Wahlbeteiligung im September 2013 in materiell besser gestellten Schichten um bis zu 40 Prozentpunkte höher als jene in sozial benachteiligten Milieus.

Anzeige

In den vergangenen 20 Jahren haben sich an Bundestagswahlen zwischen 70 und 80 Prozent der Menschen beteiligt. An sich sei dies „wenig problematisch, vorausgesetzt, diejenigen, die sich nicht beteiligen, unterscheiden sich nicht systematisch von denen, die sich beteiligen“, sagt Sigrid Roßteutscher, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Genau das sei aktuell aber nicht der Fall. Zudem verschärfe sich diese Ungleichheit stetig.

Schieflage ab den 80ern

„Bis in die 80er Jahre gab es keinen Unterschied bei der Wahlbeteiligung zwischen Niedrig- und Hochgebildeten“, sagt sie. In der älteren Generation sei dies noch heute so. „Extrem ist der Unterschied bei den Jüngeren“, sagt Roßteutscher. Abiturientinnen und Abiturienten wählten fast doppelt so häufig wie sozial benachteiligte Altersgenossinnen und -genossen.

Dabei seien Menschen, die nicht wählen gehen, nicht prinzipiell gegen die Demokratie als Staatsform, sagt Politikwissenschaftlerin Schildbach. „Sie sind strukturell unzufrieden mit der herrschenden Politik“, sagt sie. Dazu komme ein „nicht eingelöstes Leistungsversprechen“. Die dominierende Vorstellung, dass es jeder schaffen kann, wenn er sich anstrengt, erfülle sich für sozial Benachteiligte nicht. „Sie fragen sich, was ihre Stimme eigentlich zählt.“

Expertin: Wahlalter senken

Dass eine bestimmte Gruppe ihr Wahlrecht nicht wahrnimmt, habe „ganz unmittelbare Folgen auf politische Entscheidungen“, sagt Schildbach. Ihre Einstellungen würden weniger repräsentiert und ihre Forderungen hätten eine geringere Chance auf Umsetzung. Aufseiten der Politik gebe es kaum Bemühungen um diese Menschen. „In ihnen wird kein Wählerpotenzial gesehen“, erklärt sie.

Die Frankfurter Professorin Roßteutscher glaubt dennoch an ein Stimmenpotenzial in den sozial benachteiligten Stadtteilen. „Parteien und Gewerkschaften müssen authentische Personen finden, die in den Stadtteilen wohnen und anfangen, über Politik zu sprechen“, sagt sie. Helfen könne zudem, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken. So hätten Schulen eher die Möglichkeit, junge Menschen zu ihrer ersten Wahl zu animieren. (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. Silke Mardorf sagt:

    Hallo zusammen,
    danke für Euren tollen Newsletter.
    Einen Hinweis zum heutigen Artikel: „ZU ARM ZUM WÄHLEN – Sozial schwache Personen nehmen ihr Wahlrecht seltener wahr“.
    Bitte verzichtet künftig auf die Formulierung „sozial schwach“. Das Gegenteil von sozial privilegiert ist nicht sozial schwach, sondern sozial benachteiligt. (Genauso wenig, wie die sozial Privilegierten per se sozial „stark“ sind.) Alternative Formulierung (wie sie z.B. auch die Bertelsmannstiftung zum selben Thema (Wahlbeteiligung in Bremen) verwendet: sozial benachteiligt.
    Gruß und Dank, Silke Mardorf

  2. urbuerger sagt:

    Das Wahlalter auf 16 herabsetzen sollte man wohl auf Landesebene, aber nicht auf Bundesebene, denn die Menschen sind definitiv in einem Alter, in dem sie sich noch viel zu sehr von Gruppen manipulieren lassen, die nach Außen vielleicht einNachvollziehbares Thema beackern, aber dennoch zu extremen Aussagen und Taten neigen!

    Die schwache Wahlbeteiligung der unteren Schichten liegt in erster Linie daran, dass es kaum noch Politiker gibt, die auch den unteren Schichten angehören!
    Keiner glaubt noch einem Politiker, tatsächlich etwas gegen die verfahrenen Situation Jener zu unternehmen, die unter der Wirtschaft, der Industrie und dem Aktien Kapital leiden müssen, bestes Beispiel dürfte der Lobbyismus sein, der dar Sorge trägt, dass kein Politiker mehr auf die Idee kommt, z.b. für höhere Mindestlôhne einzusetzen, oder für die vom Verfassungsgerichtsingeforderte Hartz IV Erhöhung einzutreten!

    Die Politikerkaste ist inzwischen dermaßen weit und hochgradig von den Menschen, aller Bereiche der Normal und Niedriglohnempfänger, abgehoben, dass man ihnen einfach nicht mehr den Vertrauensvorschuß gewährt, der dafür gesorgt hat, dass Wähler sich für eine Partei oder einen Politiker entschieden haben!
    Auch fragen sich viele, wo sind die Politiker geblieben, die es Mal gab, die aus dem Handwerk, dem Handel oder aus der Fabrik gekommen sind, um eben Jene zu vertreten, die aus der Arbeiter und Angestelltenschaft kamen?!?