Studie
Afghanistan-Rückkehrern droht Gewalt und Verelendung
Afghanistan-Rückkehrern droht Armut und Gewalt. So lautet das Ergebnis einer Studie. Viele Abgeschobene fliehen erneut, kommen auch zurück nach Europa. Die Bundesregierung hält an den Abschiebungen dennoch fest. Abschiebegegner demonstrieren bundesweit.
Montag, 07.06.2021, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.06.2021, 10:53 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Abgeschobenen Afghanen drohen einer Studie zufolge Gefahr für Leib und Leben, Verelendung und Verfolgung. Auch die Familien von Europa-Rückkehrern seien gefährdet, erklärten die Diakonie Deutschland, „Brot für die Welt“ und die Diakonie Hessen als Auftraggeber der Untersuchung am Freitag. Sie forderten einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan. Die Bundesregierung plant derweil aber keinen Stopp der Zwangsrückführungen. Das Bundesinnenministerium bestätigte derweil ein weiteres Ergebnis der Studie, wonach viele Abgeschobene nach Europa zurückkommen oder dies planen.
Rückkehrern werde wegen der Flucht nach Europa Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen, heißt es in der Studie der Sozialwissenschaftlerin und Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann. Sie dokumentiert darin die Erfahrungen von 113 der 908 zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen. „Bis auf einen Betroffenen haben alle bekannten Abgeschobenen das Land wieder verlassen oder planen dies. Zwei von ihnen haben Suizid begangen“, erklärten Diakonie und „Brot für die Welt“.
Der Studie zufolge sind 27 Prozent der Abgeschobenen wieder nach Europa zurückgekehrt, 41 Prozent sind in andere Länder wie den Iran, die Türkei, Indien oder Pakistan geflohen. Es sei bekannt, dass es Menschen mehrfach versuchen, in Deutschland Asyl zu beantragen, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. An der Lagebewertung für das Land ändere das aber nichts. Ein Abschiebestopp sei derzeit nicht geplant, sagte der Sprecher. Die Lage in dem Land werde sorgfältig beobachtet. Dazu gehöre auch eine mögliche Lageveränderung durch den Abzug der internationalen, darunter der deutschen Truppen aus Afghanistan.
Bundesweite Demos gegen Abschiebungen
Seit Ende 2016 schiebt Deutschland abgelehnte Asylbewerber oder andere Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus wieder nach Afghanistan ab. Zunächst wurden nur verurteilte Straftäter, sogenannte Gefährder und Menschen abgeschoben, die beim Asylantrag falsche Angaben gemacht haben. Inzwischen ist diese Beschränkung entfallen, viele Bundesländer praktizieren sie jedoch weiter. Laut Studie wurden bis heute 1.035 Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben.
Gegen diese Abschiebepraxis richteten sich bundesweite Demonstrationen am Samstag. In Berlin beteiligten sich an einer Kundgebung am Brandenburger Tor rund 100 Menschen. In Afghanistan herrsche seit mehr als 40 Jahren Krieg, die Sicherheitslage für Zivilistinnen und Zivilisten verschärfe sich immer weiter, hieß es in einem Aufruf des bundesweiten Netzwerks gegen Abschiebungen nach Afghanistan. Der „überstürzte Truppenabzug des westlichen Verteidigungsbündnisses“ bis zum 4. Juli hinterlasse das Land im Chaos und schaffe ein gefährliches Machtvakuum.
Afghanistan unsicherste Land der Welt
Trotz der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan sei am 8. Juni vom Flughafen Halle-Leipzig aus erneut eine Sammelabschiebung aus Deutschland vorgesehen. Erforderlich seien stattdessen ein sofortiger bundesweiter Abschiebestopp und ein Bleiberecht für afghanische Flüchtlinge, die bereits in Deutschland sind. Auch ein Familiennachzug müsse unbürokratisch und schnell ermöglicht werden. Proteste fanden auch in Köln, München, Leipzig und anderen Städten statt.
Afghanistan gilt nach Angaben von Pro Asyl laut Global Peace Index als das unsicherste Land der Welt. Der überwiegende Teil der Bevölkerung sei auf der Flucht. Die niedrige Anerkennungsquote für Schutzsuchende aus Afghanistan in Deutschland widerspreche den Realitäten vor Ort.
Hilfswerk: Lage in Afghanistan dramatisch
Diakonie-Präsident Ulrich Lilie erklärte: „Wir gefährden sehenden Auges das Leben dieser Menschen durch Abschiebungen nach Afghanistan und setzen sie der Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen und Verelendung aus.“ Dies sei mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar. „Wir fordern die Bundesregierung auf, gemeinsam mit den Bundesländern einen generellen, bundesweiten Abschiebestopp nach Afghanistan zu beschließen.“ Ein für den 8. Juni geplanter Abschiebeflug müsse unterbleiben.
Die Präsidentin des Hilfswerks „Brot für die Welt“, Dagmar Pruin, mahnte: „Die Lage im kriegs- und krisengebeutelten Afghanistan ist seit Jahren dramatisch und hat sich pandemiebedingt noch weiter verschlechtert. Die eskalierende Dynamik der massiven Verelendung der Bevölkerung und die Sicherheitslage müssen zu einer Neubewertung auch des Auswärtigen Amts führen.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama
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