Die Wahrheit über den Vietnamkrieg
Vor 50 Jahren wurden die „Pentagon-Papiere“ enthüllt
Es war ein „Whistleblower“, der heute vor 50 Jahren einen Politskandal in den USA auslöste: Der einstige Pentagonberater und spätere Friedensaktivist Daniel Ellsberg spielte der Presse einen Geheimbericht des Verteidigungsministeriums zum Vietnamkrieg zu.
Von Konrad Ege Sonntag, 13.06.2021, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 13.06.2021, 14:52 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Heute stehen die mehr als 7.000 Seiten der „Pentagon-Papiere“ über die Hintergründe des Vietnamkriegs auf der Webseite des US-Nationalarchivs. Vor 50 Jahren, am 13. Juni 1971, war der Abdruck von Auszügen der streng geheimen Papiere in der „New York Times“ eine Sensation. Das war lange vor dem Wikileaks-Zeitalter. Die Veröffentlichung des internen Berichts des US-Verteidigungsministeriums war eine Blamage für die US-Regierung – und wurde zu einem Sieg für die Pressefreiheit.
Was stand drin? Die US-Amerikaner erhielten Einblick in das Innenleben der Regierung bei Entscheidungen über den zunehmend umstrittenen Krieg in Indochina von den 40ern bis in die 60er Jahre. Und ihnen wurde klar: Man hatte ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Heimlich hatten mehrere Regierungen den Krieg und dessen Ausweitung vorangetrieben. Der „Times“-Artikel mit der Überschrift „Vietnam Archiv: Pentagon Studie zeigt zwei Jahrzehnte der zunehmenden US-Einmischung“ stand auf Seite Eins, neben einem Text über die Hochzeit von Präsident Nixons Tochter Tricia.
Seit den 40er Jahren, so dokumentierte es die Studie, hatten sich US-Regierungsverantwortliche immer tiefer in die Dschungel von Indochina hinein bewegt und den Krieg lange geplant. Es begann mit Militärhilfe für die Kolonialmacht Frankreich, dann wurden Berater geschickt und schließlich Hunderttausende Kampftruppen und Bombenangriffe. Die USA standen auf Seiten der südvietnamesischen Regierung, der Gegner war der sozialistische Norden und die Befreiungsbewegung Vietcong.
Pentagon-Papiere
Der Krieg lief nicht so gut, wie die Regierung es der Öffentlichkeit vermittelte. Verlieren durften die USA auf keinen Fall. Ihr Schreckgespenst war die Vorstellung eines von Kommunisten kontrollierten Südvietnam.1964 schrieb der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs, General Maxwell Taylor, Vietnam sei „der erste wirkliche Test unserer Entschlossenheit“, kommunistische Aggression unter dem Vorwand der nationalen Befreiung zu besiegen.
Der heute 90-jährige Daniel Ellsberg, Mitverfasser der „Pentagon-Papiere“, hatte die vielen Seiten mühsam heimlich kopiert und der „New York Times“, der „Washington Post“ und weiteren Zeitungen zugänglich gemacht. Denn Ellsberg hatte sein Vertrauen in die US-Strategie verloren. Auf einer Konferenz zum 50. Jahrestag der Enthüllungen sagte er, Bürgerrechtler Martin Luther King und der indische Pazifist Gandhi hätten ihn beeindruckt.
Ellsberg „nageln“
Die „Pentagon-Papiere“ waren ein ungewöhnliches Projekt. US-Verteidigungsminister Robert McNamara hatte im Juni 1967 aus noch heute unklaren Gründen den Auftrag erteilt, eine geheime Arbeitsgruppe einzurichten, um die US-Vietnampolitik seit dem Zweiten Weltkrieg zu studieren.
Der 1968 gewählte republikanische Präsident Richard Nixon sei von den Enthüllungen empört gewesen, obwohl er betont habe, sie belasteten größtenteils seine demokratischen Vorgänger John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, schrieb Stabschef H.R. Haldeman in sein Tagebuch. Seine Meinung: Bedeutend seien nicht „die Dokumente als solche“, sondern vielmehr der Umstand, dass „jemand die Dokumente gestohlen hat“. Man müsse Ellsberg „nageln“.
Sternstunde der Pressefreiheit
Die „Pentagon-Papiere“ gelten heute als Sternstunde der Pressefreiheit. Die „New York Times“ und andere renommierte Zeitungen hatten sich der Regierung widersetzt, die verhindern wollte, dass weitere Teile der Studie an die Öffentlichkeit kamen. Und auch das Oberste US-Gericht wies Präsident Nixons Verlangen ab, die Veröffentlichungen zu unterbinden. Die Regierung habe ihre Verbotsforderung nicht ausreichend begründet, hieß es im Urteil.
Ellsberg stellte sich nach der Veröffentlichung der Polizei. Die Anklage lautete: Er habe das Gesetz gegen Spionage verletzt und „Regierungseigentum gestohlen“. Ihm drohten 115 Jahre Haft. Der Richter brach den Prozess im Mai 1973 ab. Er habe erfahren, dass Einbrecher im Auftrag des Weißen Hauses im September 1971 die Praxis von Ellsbergs Psychoanalytiker durchsucht hatten. Angehörige der verantwortlichen Arbeitsgruppe im Weißen Haus, die „Plumbers“ (Klempner gegen Lecks), haben 1972 bei der „Watergate Affäre“ mitgewirkt, dem Einbruch ins Büro der Demokratischen Partei. Nixon trat 1974 zurück.
Edward Snowden
Im Alter von 90 Jahren protestiert Ellsberg heute weiterhin gegen Kriege, und er ermuntert Regierungsvertreter, unethisches Verhalten und Machtmissbrauch aufzudecken. In einem Vortrag sagte er 2017, er habe gehofft, die „Pentagon-Papiere“ würden den Kongress zum Entzug der Gelder für den Vietnamkrieg motivieren. Die Papiere hätten jedoch keinen sofortigen Einfluss gehabt. In Vietnam wurde erst einmal weiter gekämpft und gestorben.
Und auch die dauerhaften Auswirkungen auf die Pressefreiheit halten sich in Grenzen: NSA-Whistleblower Edward Snowden droht in den USA ein Verfahren wie seinerzeit Daniel Ellsberg: Verstoß gegen das Spionagegesetze. Army-Whistleblowerin Chelsea Manning verbrachte sieben Jahre im Gefängnis. Und Julian Assange von Wikileaks sitzt in Großbritannien in Haft, die USA haben die Auslieferung beantragt. (epd/mig) Aktuell Ausland
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