Fallstricke
Widersprüche der interkommunalen Solidarität
Eine heikle Frage: Warum haben große Teile der anti-rassistischen Bewegung den „Black, Indigenous, People of Color“-Ansatz ((BIPoC) kritiklos übernommen? Ein näherer Blick lohnt sich - trotz der Risiken.
Von Kien Nghi Ha Donnerstag, 08.07.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 07.07.2021, 15:42 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
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This Is Not a Diss Track
Fragen der interkommunalen Solidarität zwischen Communities of Color sind immer multidimensional, und es ist schwer, vielleicht sogar unmöglich, allen Aspekten dieses heiklen Themas gerecht zu werden. Dieses Risiko steigt exponentiell, wenn wie in diesem Artikel nur wenig Raum und Zeit zur Verfügung steht, um diese Thematik mehr als nur in seinen Grundzügen zu diskutieren. Zweifellos ist es „sicherer“, das Thema einfach zu ignorieren, aber genau dieses Ausweichen würde die inhärenten Ein- und Ausschlüsse und die Hierarchie zwischen dem Un/Sichtbaren und Un/Sagbaren reproduzieren. Ich habe kein Interesse an einem unproduktiven blame game. Die Beispiele hier dienen nur dazu, eine sich reproduzierende, ungleichgewichtige Struktur besser zu veranschaulichen und nachvollziehbar zu machen, die mit Zentrierung, Dominanz, Unsichtbarkeit, Angst und anderen Machteffekten innerhalb marginalisierter Räume einhergehen. Mein Disclaimer kann selbst als Ausdruck dieses Effekts gelesen werden.
„Interessanter ist für mich die Frage, warum wir bereit sind, nicht-egalitäre Narrative zu akzeptieren, die zu doppelten Standards führen und schwierig oder gar nicht mit emanzipatorischen Prinzipien vereinbar sind.“
Dieser Beitrag richtet sich in erster Linie an interessierte Asians und zielt darauf ab, diskursive und politische Schieflagen in anti-rassistischen Räumen bewusst zu machen. Leider hatte ich nicht die Möglichkeit, die Ursachen dieser Fehlentwicklung genauer zu analysieren. Ich gehe aber davon aus, dass die politischen Reaktionen im interaktiven Zusammenspiel marginalisierter Communities strukturell und komplex angelegt sind, sie verschiedene Ebenen betreffen und wir selbst in unserem Widerstand noch internalisierte Spuren und Auswirkungen historischer Kolonialisierung und systemischen Rassismus widerspiegeln. (Un-)intendierte Hegemonie- oder (un-)bewusste Exklusivitätsbestrebungen müssen sicherlich befragt werden, spielen für mich aber hier nur eine untergeordnete Rolle und bilden auch nur eine Seite der Geschichte. Interessanter ist für mich die Frage, warum wir bereit sind, nicht-egalitäre Narrative zu akzeptieren, die zu doppelten Standards führen und schwierig oder gar nicht mit emanzipatorischen Prinzipien vereinbar sind.
Was bedeutet interkommunale Solidarität?
Ein unverzichtbarer Teil der Antwort lautet: Black Lives Matter (BLM) ist ein wichtiger, ein essentieller Bestandteil dieses Bündnisses, aber keinesfalls das ausschließliche Element. Und wenn ein Kampf andere Kämpfe und andere Unterdrückungsverhältnisse – gewollt oder ungewollt – verdrängt, überlagert oder unter sich subsumiert, dann ist das ein substanzielles Problem. Vor allem, wenn Überzeugungen und Sichtweisen verinnerlicht werden, die sowohl für die asiatische als auch die Schwarze Community schädlich sind. Wenn soziale Bewegungen für solche Machteffekte nicht sensibel sind, dann kämpfen sie bereits jetzt auf verlorenem Posten.
„Was passiert, wenn statt einer multi-perspektivischen Diskussion über Gerechtigkeit racial justice legitimerweise nur aus Schwarzer Perspektive definiert werden kann und selbst von nicht-Schwarzen als monolithisches Black thang essentialisiert wird? „
Mir geht es keinesfalls darum, das Empowerment Schwarzer Subjekte zu diskreditieren, sondern zu verstehen, dass dieses Projekt nur dann seine emanzipatorische Wirkung voll entfalten kann, wenn gleichzeitig auch andere Subjekte of Color gleichermaßen empowert werden. Denn diese Wahrheit gilt für alle: None of us are free, until all of us are free! (Emma Lazarus) Vor dem Hintergrund dieses Prinzips frage ich mich, welche politischen und ideologischen Effekte damit verbunden sind, wenn Asian Americans zunehmend in der uniformen Reihen- und Rangfolge „Black, Latino, Asian, Native, Pacific Islander and progressive white“ denken und sich so politisch positionieren. Was passiert, wenn statt einer multi-perspektivischen Diskussion über Gerechtigkeit racial justice legitimerweise nur aus Schwarzer Perspektive definiert werden kann und selbst von nicht-Schwarzen als monolithisches Black thang essentialisiert wird? Wenn wir nur eine Machtstruktur durch eine andere ersetzen, hätten einige am Ende etwas gewonnen, aber wir als Ganzes verloren.
Mehr als pro-Asian oder pro-Black
Ich werde mit diesem Risiko leben müssen: Wer sich nicht mit diesem komplizierten und unangenehmen Problem auseinandersetzen will, hat ein Interesse mich misszuverstehen und wird diese Sorge als Ausdruck eines obsessiven anti-Black Backlash oder als Neid- und Konkurrenzdebatte diffamieren. Es würde mich nicht überraschen, wenn besonders Asians diese Thematisierung abwehren und eine ehrliche Debatte ablehnen. Daher sage ich es noch deutlicher: BLM ist nicht am Ziel und braucht mehr Support. Andere Communities und progressive Bewegungen sind auch nicht am Ziel und brauchen ebenfalls Support. Da niemand zur selben Zeit überall sein kann, ergibt sich aus dieser Konstellation eine Ethik, die das eine tut, ohne das andere zu negieren oder zu hierarchisieren, und die Solidarität und Differenz zusammendenkt.
„Obwohl wir unterschiedlich betroffen sind, steht niemand außerhalb dieser Macht. Schwarz-Weiß-Denken oder einfache Freund-Feind-Schemata sind ebenso wie die fetischisierte Verehrung unterdrückter Gruppen kontraproduktiv.“
Mehr denn je brauchen wir eine individuelle Haltung und kollektive politische Praxis, die die Beziehungen und Subjekte dieser Kämpfe macht- und selbstkritisch reflektiert. Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass auch unterdrückte Menschen und emanzipatorische Bewegungen fehlbar sind, und es daher nicht ausreicht, nur auf der vermeintlich richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Zur Erinnerung: Seit Michael Foucault wissen wir, dass moderne Machtverhältnisse nicht nur außerhalb, sondern auch in uns arbeiten. Obwohl wir unterschiedlich betroffen sind, steht niemand außerhalb dieser Macht. Schwarz-Weiß-Denken oder einfache Freund-Feind-Schemata sind ebenso wie die fetischisierte Verehrung unterdrückter Gruppen kontraproduktiv. Das reflexive Denken in komplexen Zusammenhängen und das Aushalten von Widersprüchen sind anstrengend und oft auch frustrierend, aber darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen einer wirklich emanzipatorischen Politik und Praktiken, die einfach pro-Asian oder pro-Black sind. Die Verantwortung für unser Denken und Handeln können wir nicht delegieren. Zu denken bedeutet immer noch, alles zu hinterfragen, aber nicht unbedingt den neuesten Social Media Trends zu folgen, die offen für andere Dynamiken wie etwa den Herdentrieb sind.
Neues Großnarrativ: Wenn S immer vor dem „Rest“ kommt
Es sollte uns nachdenklich machen, dass große Teile der anti-rassistischen Bewegung, die eigentlich so viel Wert auf relationale Machtkritik, Dezentrierung und Gleichberechtigung legt, den „Black, Indigenous, People of Color“-Ansatz ((BIPoC) kritiklos in Windeseile übernommen hat. Das zeigt sich etwa bei der gedankenlosen Adaption in Deutschland, wo ohne Rücksicht auf lokale Bedingungen die nordamerikanischen Verhältnisse einfach übernommen wurden. Dabei könnte bekannt sein, dass Deutschland keine genozidale Siedler_innenkolonialgesellschaft ist und nicht durch die Versklavung Schwarzer Menschen geprägt wurde. Wer den BIPoC-Begriff im deutschen Kontext benutzt, sollte schon ohne Tokens erklären können, wer die Indigenous in Deutschland sind und was sie mit den Indigenous People in Nordamerika zu tun haben. Vielleicht hat sich deswegen in Deutschland die BPoC-Variante herausgebildet, wobei auch die Varianten „Bi*PoC“ und „Bi_PoC“ im Umlauf sind, die ganz unbedarft und wahrscheinlich in bester Absicht hierarchisieren und separieren.
Diese fantasievollen Wortspiele kommen nur im deutschen Kontext vor. Gerade die Kleinschreibung von „indiginous“ spiegelt nicht nur Machtverhältnisse im deutschen Diskurs wider, sondern missachtet auch ihre Selbstbezeichnung und führt das Empowerment-Argument ad absurdum. Anscheinend erscheinen ihre historischen Kolonialerfahrungen hierzulande nicht mehr besonders genug, um eine Großschreibung zu rechtfertigen. Bemerkenswert ist auch, dass die Kleinschreibung nicht mehr erklärt, rationalisiert oder legitimiert werden muss, sondern einfach gesetzt und dann übernommen wird, weil das Hinterfragen oder Widersprechen nicht opportun wäre, womöglich Probleme und Konflikte bereitet oder mit dem Risiko des Rassismus-Vorwurfs verknüpft ist.
„Im deutschen Kontext stellt sich aber erst recht die Frage, warum Schwarze unabhängig vom spezifischen Kontext nicht nur immer extra benannt, sondern auch immer an erster Stelle stehen sollten.“
Inzwischen hat sich vielfach die uniforme Regel durchgesetzt, dass es unabhängig vom konkreten Kontext politisch korrekt sei, immer von „Schwarze und People of Color“ zu sprechen. Und im britischen Kontext wirft der Begriff BAME für „Black, Asian, and minority ethnic“ ähnliche Fragen auf. Neben dem schablonenhaften Reden und dem Denken in festen Schemata wird hier ein weiteres Problem sichtbar: Während bei BIPoC noch auf eine alphabetische, quasi egalitäre Reihenfolge verwiesen werden konnte, wird spätestens an dieser Stelle klar, dass es um eine politische Rangordnung und Hierarchie geht. Im deutschen Kontext stellt sich aber erst recht die Frage, warum Schwarze unabhängig vom spezifischen Kontext nicht nur immer extra benannt, sondern auch immer an erster Stelle stehen sollten. Warum ist es so und wie kann eine solche Regel inhaltlich so begründet und politisch so gerechtfertigt werden, dass sie mit emanzipativen Ansprüchen vereinbar ist?
Eine Frage der politischen Rangordnung
Am 20.02.2021 demonstrierten Menschen am Washington Square Park in der Nähe der New York University gegen die jüngste anti-asiatische Gewaltwelle. Darunter auch ein ostasiatisch aussehendes Paar: Er fotografiert, wie sie ein Plakat mit der Aufschrift „Black + Brown + Asian Solidarity“ hochhält.1 Inmitten dieses politischen Geschehens entwirft diese Botschaft eine Struktur interkommunaler Solidarität, die unbequeme Fragen aufwirft. Wir wissen nicht, welche Gedanken sich das Paar bei der Plakatgestaltung gemacht hat. Vielleicht gingen der Botschaftsfindung langwierige Diskussionen voraus, vielleicht war das Plakat spontan, und es spiegelte einfach die politischen Selbstverständlichkeiten des Zeitgeistes wider. Beide Szenarien sind problematisch und zeigen besorgniserregende Machteffekte, da diese Zentrierung und Vorrangstellung auf ein grundlegend falsches Verständnis von Black Lives Matter als neues Großnarrativ hindeutet. Ebenso fällt auf, dass „Black and Asian“ in vielen neueren asiatisch-amerikanischen Publikationen geradezu ein feststehender Ausdruck geworden ist, der unabhängig von bestimmten Kontexten verwendet wird.
„Angesichts einer grassierenden anti-asiatischen Gewalt als erstes Schwarze Subjekte anzurufen, wirkt wie eine Travestie anti-rassistischer Solidarität.“
Im Falle anti-asiatischer Gewalt müssen natürlich die Perspektiven der Opfer im Vordergrund stehen und der Fokus muss sich auf das Wohlbefinden der betroffenen asiatischen Communities richten. Ein unangemessenes Sich-Zurücknehmen kann zur Selbstaufgabe bis hin zur Selbstauslöschung führen. So wichtig und rücksichtsvoll Empathie und politische Höflichkeit auch sind, als Überdosis verlieren sie ihre heilenden Kräfte und wirken giftig und zersetzend auf die eigene Identität. Es schadet auch den angegriffenen Communities und dem anti-rassistischen Projekt insgesamt, da die Botschaft unglaubwürdig und unverständlich ist. Angesichts einer grassierenden anti-asiatischen Gewalt als erstes Schwarze Subjekte anzurufen, wirkt wie eine Travestie anti-rassistischer Solidarität. Wären wir jemals auch nur auf die Idee gekommen, auf Demonstrationen für BLM „Asian + Brown + Black Solidarity“ zu skandieren, um für interkommunale Solidarität zu werben? Im BLM-Kontext verstehen wir sehr wohl, dass es nicht nur ein unangemessenes, sondern das falsche politische Signal wäre.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Essay Machtkritische Solidarität? Anti-asiatische Gewalt und interkommunale Allianzen. In: Kien Nghi Ha (Hg.) (2021): Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Berlin-Hamburg: Assoziation A. S. 418-459. Die stark erweiterte Neuauflage des 2012 erstmals veröffentlichten Sammelbandes ist soeben erschienen. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums wird dieser Meilenstein für die asiatisch-deutsche Bewegung am 8. Juli 2021 in Berlin mit einer Community-Buchlaunchparty in Kooperation mit korientation. Netzwerk für asiatisch-deutsche Perspektiven e.V. gefeiert. Siehe auch das MiGAZIN-Gespräch zwischen Kien Nghi Ha und Deniz Utlu über die Bedeutung von „Asiatische Deutsche“, Community und Coalition Work.
- CNBC News (12.03.2021). Diese Aussage hat anscheinend ein gewisse Ausstrahlung und Überzeugungskraft, denn Bilder des Plakats wurden u.a. in Beiträgen der Brookings Institution, der Yale University und des Gay Men’s Health Crisis verwendet.
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Bitte ! Deutschland sollte auf keinen Fall die Begriffe aus den USA kritiklos übernehmen. Ich finde es immer lustig, wenn sich weisse Menschen aus der Türkei, die nur muslimische oder typische arabische Namen usw. haben, als PoC bezeichnen. Das regt zurecht auch afrodeutsche usw. auf.
Das osmanische Reich erstreckte sich über sehr weite Strecken bis zum heutigen Jugoslawien!