Großer Zapfenstreich
Steinmeier: „Der Fall von Kabul war eine Zäsur“
Ende August sind die letzten deutschen Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Mit einem Großen Zapfenstreich vor dem Reichstagsgebäude wurden sie nun gewürdigt. Steinmeier sprach von der Notwendigkeit einer starken Bundeswehr.
Donnerstag, 14.10.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.10.2021, 22:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Nach dem Ende des 20-jährigen Bundeswehreinsatzes in Afghanistan sieht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Deutschland an einer „Wegscheide“. Beim Zentralen Abschlussappell zur Würdigung der deutschen Streitkräfte sagte er am Mittwoch in Berlin mit Blick auf die Rückeroberung des Landes durch die Taliban: „Der Fall von Kabul war eine Zäsur.“ Deutschland sei gezwungen, „über unsere Verantwortung in der Welt, unsere Möglichkeiten und deren Grenzen neu und selbstkritisch nachzudenken“.
Am Abend wurden die Soldatinnen und Soldaten vor dem Reichstagsgebäude in Berlin für ihren Dienst am Hindukusch mit einem Großen Zapfenstreich geehrt. Das Gebiet um den Platz der Republik war dafür weiträumig abgesperrt worden. Der Große Zapfenstreich ist das höchste Zeremoniell der Bundeswehr.
Steinmeier betonte, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik müsse ehrlicher, klüger und stärker werden. Deutschland müsse lernen, seine eigene Kraft zu erfassen und zu nutzen – und zugleich ihre Grenzen zu kennen. In diesen „instabilen Zeiten“ investiere Deutschland mehr in seine Verteidigung. „Und das ist richtig so.“
Steinmeier: „Wir stehen tief in der Schuld
Er würdigte den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. „Die Bundeswehr hat all das ausgeführt, was ihr die Politik aufgetragen hat.“ Die 59 deutschen Soldaten, die in Afghanistan ihr Leben ließen, hätten den höchsten Preis gezahlt, den ein Soldat im Auftrag seines Landes zahlen könne. „Wir stehen tief in ihrer Schuld.“
Der Abschlussappell wurde am frühen Nachmittag im Berliner Bendlerblock im Beisein der fünf Verfassungsorgane, also Bundespräsident, Bundeskanzlerin, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts abgehalten. Mehrere Bundestagsabgeordnete waren vor Ort sowie Repräsentanten der Geistlichkeit und Seelsorge.
Tausende Ortskräfte blieben zurück
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte, „heute ist nicht der Tag, das Kapitel Afghanistan zu schließen“. Das verbiete die humanitäre und politische Situation in dem Land und auch die Tatsache, dass Menschen, die die deutschen Truppen als Ortskräfte unterstützt hätten, noch in Afghanistan seien.
Als der Bundeswehreinsatz Ende August endgültig beendet wurde, blieben Tausende afghanische Ortskräfte – trotz anders lautender Versprechen der Regierung – zurück. Nach der Machtübernahme der radikal-islamischen Taliban müssen sie um ihr Leben fürchten. Kramp-Karrenbauer und Steinmeier hoben hervor, dass sich Deutschland diesen Menschen verpflichtet fühle. Aktuell arbeiten Politik und Diplomaten daran, dass afghanische Helferinnen und Helfer das Land verlassen und nach Deutschland kommen können.
Schäuble: Wir haben gelernt
Laut Auswärtigem Amt haben die Visastellen in den Nachbarländern Afghanistans seit dem Ende der militärischen Evakuierungsoperation knapp 1.040 Visa für afghanische Schutzbedürftige ausgestellt. Es gebe Gespräche mit den Taliban, um noch weitere Ausreisen aus Afghanistan zu ermöglichen, sagte eine Sprecherin. Nach Angaben des Innenministeriums sind mit Stand Mittwochmorgen 362 afghanische Ortskräfte in Deutschland eingereist – rechne man die Familienangehörigen hinzu, seien es 1.597 Personen.
Kurz vor dem Großen Zapfenstreich empfing Bundestagspräsident Wolfang Schäuble (CDU) Bundeswehrangehörige im Parlament. „Wir, die Abgeordneten, die Sie in diesen Einsatz geschickt haben, haben gelernt: Der von uns erteilte Auftrag konnte nicht so erfüllt werden, wie wir es erhofft hatten“, sagte er laut Redemanuskript und fügte hinzu: „An Ihnen lag das nicht.“ Auch das Parlament müsse die Gründe dafür suchen und benennen – und Schlüsse daraus ziehen. „Das ist unsere Verantwortung, das sind wir Ihnen schuldig, den Veteranen, den Gefallenen, den im Einsatz Verstorbenen und ihren Familien und den Kameraden, die versehrt zurückgekehrt sind.“
240.000 Tote
Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), fordert eine gründliche Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. „Nach Afghanistan kann es kein Weiter-so geben“, sagte Högl dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“. „Wir müssen intensiver über die Einsätze der Bundeswehr im Ausland diskutieren.“ Die Soldatinnen und Soldaten brauchten klare Vorgaben und realistische Ziele. Für eine umfassende und schonungslose Diskussion wäre eine Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag „ein guter Rahmen“, betonte sie.
Die internationale Militärmission am Hindukusch hatte nach den Anschlägen in den USA vom 11. September 2001 begonnen. Insgesamt haben rund 160.000 deutsche Soldaten Dienst in Afghanistan geleistet, 59 verloren im Zusammenhang mit dem vom Bundestag mandatierten Einsatz ihr Leben. Der Krieg in Afghanistan kostete rund 240.000 Menschen ihr Leben, darunter etwa 50.000 afghanische Zivilisten. (epd/mig) Aktuell Politik
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