Nebenan
Ganz Bitter-feld
Die Truppen sind abgezogen aus Afghanistan, der Fackelmarsch am Reichstag vorbei. Ab sofort nutzen wir jede sich bietende Chance, die Menschen dort zu vergessen.
Von Sven Bensmann Dienstag, 19.10.2021, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.10.2021, 21:45 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Jetzt ist es also wirklich so weit gekommen: Die Wahl ist gelaufen, die Koalitionsverhandlungen bewegen sich stetig voran – und niemand interessiert sich mehr für auch nur ein einziges Mädchen, dass in Afghanistan nicht mehr zur Schule gehen kann, eine einzige Frau, die in ihrem Zuhause eingesperrt ist oder einen einzigen Kollaborateur, der in einem Taliban-Gefängnis gefoltert wird. Das offenbart die heuchlerische Natur der Rechtfertigung des Afghanistan-Krieges. Der Aufmerksamkeitszug ist abgefahren, die Reporter ausgeflogen und die abgezogen. Das war’s.
Zwar gab es für Letztere noch einen Fackelmarsch durch Berlin, auf den selbst der Führer stolz gewesen wäre, aber Afghanistan ist mittlerweile eines dieser schwarzen Löcher unser aller Aufmerksamkeit, wie Nordkorea oder der Kongo, wie die Sweatshops, in denen unsere Kleidung genäht, die Sklavenplantagen, auf denen unser Kakao geerntet oder die Ställe, in denen unser Fleisch aufgezogen wird: Wir könnten zwar zumindest eine grobe Ahnung davon haben, was dort passiert, wir nutzen aber jede sich bietende Chance, es zu vergessen.
„Wir sind eine Gesellschaft der Ignoranz geworden, in der wir Zugriff auf mehr Informationen, mehr Nachrichten aus aller Welt haben, als je zuvor; in der wir uns aber dazu entschieden haben, auch mehr als je zuvor davon zu ignorieren.“
Ab und zu sticht vielleicht mal ein abgehalfterter Ex-Teenie durch das Grundrauschen aktiver Ignoranz, weil er in einem Hotel – glücklicherweise im Osten, damit sich der Anlass auf die Ossis externalisieren lässt – abgewiesen wurde, nachdem er dort als Jude identifiziert wurde, aber auch das vergeht schnell wieder. Alltäglicher Antisemitismus ist auch eines dieser schwarzen Löcher, die eigentlich niemanden interessieren – bis wieder ein außergewöhnlicher Einzeltäter „aus dem Nichts“ auftaucht, den sich niemand erklären kann, der nicht auch will.
Dabei könnten wir ernsthaft fragen, woher der Bogenschütze von Kongsberg, die Mörder von David Ames und Walter Lübcke, woher Anders Breivik und Bernd Höcke kommen, und nicht bloß für 15 Minuten wild mutmaßen, bis uns die Antworten nicht mehr gefallen. Fragen, welches kulturelle Grundrauschen diese Unmenschen ermöglicht – und wir könnten diese Probleme nachhaltig angehen. Das bedeutete aber Arbeit – wo es doch viel einfacher ist, alle paar Wochen entrüstet zu sein, Schlagzeilen zu lesen und zu schreiben und dann weiterzumachen wie gehabt. Beim Klimawandel funktioniert das ja schließlich auch: wir lesen regelmäßig von Flut, Sturm und Dürre in der Zeitung – und schon ist das Problem erst einmal gelöst.
Wir sind eine Gesellschaft der Ignoranz geworden, in der wir Zugriff auf mehr Informationen, mehr Nachrichten aus aller Welt haben, als je zuvor; in der wir uns aber dazu entschieden haben, auch mehr als je zuvor davon zu ignorieren.
16 Jahre Angela Merkel haben sich darin erschöpft, Buschfeuer auszutreten, statt langfristige Probleme zu lösen: in der Renten- und Sozialpolitik, Klimapolitik, in Europa und der Welt: die schmutzigen Deals mit der Türkei, mit Libyen und mit Weißrussland zur Verhinderung von Immigration, die Emigration natürlich nicht verhindern, vielleicht die menschenverachtendsten. Es wäre dringend an der sich neu formierenden Koalition, langfristige Strategien zu entwickeln.
Ein rundes Vierteljahrhundert Onlinejournalismus, mit facebook und twitter noch einmal überdreht, haben eine Ausrichtung auf schnelllebige Kurzmeldungen, Empörung und Klicks statt langfristiger Recherchen kultiviert, die, wenn schon nicht von den Privaten, zumindest von öffentlich-rechtlichen Medien aktiv bekämpft werden müsste, um diese Demokratie zu erhalten.
Aber wir als Gesellschaft haben ja entschieden, diese Degeneration mitzugehen. Meinung
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