Belzec, Sobibor, Treblinka
Historiker: Große Lücken in der Erinnerungskultur
In den NS-Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka wurden 1,7 Millionen Menschen ermordet - mehr als in Auschwitz. Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, beklagt eine bedenkliche Erinnerungslücke mit Blick auf die „Aktion Reinhardt“, die Ermordung der Juden in den besetzten polnischen Gebieten.
Von Dirk Baas Freitag, 29.10.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 28.10.2021, 14:53 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die drei Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“, Belzec, Sobibor und Treblinka, fallen in der Erinnerungskultur gegenüber dem Grauen von Auschwitz deutlich ab. Warum ist das so?
Ulrich Baumann: Bevor ich das einordne, möchte kurz noch auf eine andere Lücke im Erinnern an NS-Opfer hinweisen, die vielleicht noch augenfälliger, ja noch gravierender ist. Das ist der Verbrechenskomplex der Massenerschießungen durch Einsatzgruppen und Wehrmacht sofort nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941. Diese Morde fanden in einem Gebietsstreifen zwischen Ostsee, Ostpolen, Ukraine und Schwarzem Meer statt und ihnen sind rund zwei Millionen Menschen zum Opfer gefallen. Das ist ein Drittel aller Menschen, die aus rassistischen Gründen getötet wurde. Das ist der eigentliche Beginn des Holocausts.
Dazu brauchte es keine Lager, Gaskammern und Krematorien.
Ja. Die Menschen wurden zusammengetrieben, aus den Orten geführt, erschossen und die Leichen in Massengräbern verscharrt. Die erste technische Neuerung war Ende 1941 ein Gaswagen. Der umgebaute Laster, dessen Abgase zum Töten genutzt wurden, kam im KZ Kulmhof zum Einsatz.
Noch mal zurück zu der Frage, warum Auschwitz der zentrale und alles überlagernde Erinnerungsort des Holocausts ist.
Ich erkläre mir das verbreitete Unwissen über Belzec, Sobibor und Treblinka damit, dass Auschwitz, das schon seit 1940 existiert hat, ein riesiger, immer weiter gewachsener Komplex ist, mit unzähligen angegliederten Lagern für industriell ausgebeutete Zwangsarbeiter. Und, das scheint mir jedoch der gewichtigere Grund, Auschwitz war der europaweite Endpunkt der Vernichtung der Juden, so auch der aus Norwegen, Frankreich, Italien oder Griechenland.
„Unter den im NS-Terror ermordeten sechs Millionen Juden sind allein 1,75 Millionen polnische Juden, die in Belzec, Treblinka und Sobibor umgebracht wurden. Das ist weitgehend unbekannt. Diese Opfer interessieren die deutsche Öffentlichkeit kaum.“
Man verbindet mit dem Bild von Auschwitz und seinem eisernen Lagertor das Ende der Eisenbahnschienen. Auch der überwiegende Teil der deutschen Juden kam hier um. Das hat Folgen für die Erinnerungskultur, die einen starken internationalen Charakter hat. Unter den im NS-Terror ermordeten sechs Millionen Juden sind allein 1,75 Millionen polnische Juden, die in Belzec, Treblinka und Sobibor umgebracht wurden. Das ist weitgehend unbekannt. Diese Opfer interessieren die deutsche Öffentlichkeit kaum. Und damit eben auch nicht die Todeslager der „Aktion Reinhardt“.
Wie begann das Morden in den Lagern der „Aktion Reinhardt“?
Die Morde von Kulmhof per Gaswagen waren nur eine Zwischenphase. Belzec war da schon im Aufbau begriffen. Im Dezember 1941, nach dem Kriegseintritt der USA, wurden die Schleusen geöffnet, setzten die Nazis ihre keineswegs immer geheim gehaltenen Pläne des systematischen und umfassenden Mordes an den europäischen Juden um, im Nazi-Diktum die Endlösung.
Die Wannsee-Konferenz, in der der Mordplan formell beschlossen wurde, hatte da noch gar nicht stattgefunden.
„Aber Erfahrungen mit der Massentötung von Menschen waren ohnehin schon vorher vorhanden. Sie hatte auf dem Boden des Deutschen Reiches stattgefunden, nämlich die Ermordung von Menschen mit Behinderungen in sechs Tötungsanstalten.“
Ja. Dieses Treffen sollte ursprünglich am 9. Dezember 1941 stattfinden, wurde wegen des Kriegseintritts der USA aber verschoben. Aber Erfahrungen mit der Massentötung von Menschen waren ohnehin schon vorher vorhanden. Sie hatte auf dem Boden des Deutschen Reiches stattgefunden, nämlich die Ermordung von Menschen mit Behinderungen in sechs Tötungsanstalten. Das Personal von dort wurde anschließend verlegt in die drei Lager Belzec, Treblinka und Sobibor, um dort das Massentöten fortzusetzen.
Welcher Plan steckte hinter „Aktion Reinhardt“?
Sie richtete sich zunächst gegen die Juden im Generalgouvernement, also die, die auf dem Territorium der von der Wehrmacht besetzten zentralpolnischen Gebiete lebten. Dieses Vorhaben lag schon Ende 1941 in der Luft. Man wusste, es würde bald losgehen. Hans Frank, seit Oktober 1939 der Generalgouverneur, forderte massiv, sein Hoheitsgebiet schnellstmöglich „judenrein“ im Diktum der Nazis zu machen.
Warum hat das Lager Belzec nur wenige Monate lang bestanden und wurde nach nur kurzer Zeit abgerissen?
Das hat damit zu tun, dass es in Sobibor und Treblinka Aufstände gegen die SS gegeben hat. Die Nazis fürchteten vermutlich, dass sich gewaltsamer Widerstand wiederholen könnte, auch in Belzec, und ihnen die Massentötungen aus der Hand gleiten. Das wirkt kurios, aber die NS-Führung war unheimlich schreckhaft und ist schnell nervös geworden. Denken Sie nur an die denkwürdigen drei Predigten des Münsteraner Bischofs August Graf von Galen im Juli und August 1941 und ihre Wirkung: Das „Euthanasie“-Programm in Form der Tötung mit Giftgas wurde unmittelbar danach eingestellt und ein weniger auffälliger Massenmord etwa mit Medikamenten begann. Aufstände jeglicher Art haben die Besatzer wirklich gefürchtet. Aber, auch das ist die schreckliche Wahrheit: Ein großer Teil der Personen, die ermordet werden sollten, war tatsächlich tot. Die Ghettos waren fast leer, die übrig gebliebenen Menschen kamen in Arbeitslager und von dort meist in den Komplex Auschwitz. (epd/mig) Aktuell Feuilleton Interview
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