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Unwort des Jahres 2021

„Pushback“, Beschönigung eines menschenfeindlichen Prozesses

Die Suche nach dem Unwort des Jahres 2021 wurde zwar von der Corona-Debatte dominiert. Gewählt wurde mit „Pushback“ jedoch ein Begriff aus dem Migrations-Diskurs. Er beschönige einen menschenfeindlichen Prozess, kritisierte die Jury.

Donnerstag, 13.01.2022, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.03.2024, 14:09 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Das Unwort des Jahres 2021 lautet „Pushback“. Mit dem englischen Begriff für „zurückdrängen, zurückschieben“ werde die Praxis von Europas Grenztruppen beschrieben, Flüchtende an der Grenze zurückzuweisen, sagte die Jury-Sprecherin Constanze Spieß am Mittwoch in Marburg. Damit werde ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt, der Flüchtenden die Möglichkeit nehme, ihr Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen.

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Nach Ansicht der Jury trägt der Gebrauch des Fremdworts zur Verschleierung des Verstoßes gegen die Menschenrechte bei und verschweigt zudem, dass der Akt des Zurückdrängens mit Gewalt verbunden ist und tödlich enden kann. Die Jury kritisierte zudem die in den Medien „unreflektierte Nutzung“ dieses Wortes auch bei Kritikerinnen und Kritikern.

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Auf den Plätzen zwei und drei landeten der Begriff „Sprachpolizei“ und mehrere Ausdrücke wie „Impfnazi“ oder „Ermächtigungsgesetz“, die im Zuge der Corona-Demonstrationen von Impfgegnern verwendet würden und eine Ähnlichkeit zwischen Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie und der nationalsozialistischen Diktatur nahelegten.

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Sprachpolizei und Ermächtigungsgesetz

Info: Unter „Pushbacks“ versteht man nach Angaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte das völker- und menschenrechtswidrige Zurückdrängen schutzsuchender Personen an der Grenze ohne Prüfung ihres Schutzbegehrens. Auch bei der Sicherung der EU-Außengrenzen komme es immer wieder zu Zwischenfällen, in denen der völkerrechtliche Grundsatz der Nichtzurückweisung und der menschenrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör nicht gewahrt werde oder ernstliche Zweifel an seiner Einhaltung bestünden, heißt es in einer Erklärung des unabhängigen Instituts. „Pushbacks“ werden regelmäßig aus dem Mittelmeer gemeldet, wenn Flüchtende an die Küsten Afrikas oder der Türkei zurückgedrängt werden. Zuletzt geriet auch die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze in den Fokus, wo Migrantinnen und Migranten Zugang in die EU suchen und teils unter erbärmlichen Bedingungen seit Wochen im Grenzgebiet ausharren.

Mit dem Ausdruck „Sprachpolizei“ werden nach Ansicht der Jury Personen diffamiert, die sich für eine geschlechtergerechte Sprache einsetzen. Er sei irreführend, weil er suggeriere, dass es eine Instanz gebe, die über die Einhaltung von Sprachregeln wache und bei Nichteinhaltung Bestrafungen vorsehe.

Zu Vergleichen mit dem Nationalsozialismus wie „Ermächtigungsgesetz“ (für Infektionsschutzgesetz) oder dem gelben Stern mit dem Aufdruck „ungeimpft“, merkte die Jury an, dass deren Verwendung zur Verharmlosung des Nationalsozialismus, zur Verhöhnung der Opfer der NS-Diktatur und in manchen Fällen zu einer Opfer-Täter-Umkehr führe.

Mehr als 1.300 Einsendungen

Das persönliche Unwort 2021 des Gast-Jurors Harald Schumann lautet „Militärschlag“. Der Begriff sei eine zutiefst euphemistische Bezeichnung für einen aggressiven kriegerischen Akt, kritisierte der Journalist.

Für das Jahr 2021 erhielt die Jury insgesamt 1.308 Einsendungen. Es wurden 454 verschiedene Ausdrücke vorgeschlagen, von denen knapp 45 den Unwort-Kriterien der Jury entsprachen. Unter den häufigsten Einsendungen waren „Tyrannei der Ungeimpften“ (287 Mal), „illegaler Kindergeburtstag“ (71), „Querdenker“ (47), „systemrelevant“ (24), „boostern“ (22) und „Covidiot“ (20).

Formulierungen gegen Prinzipien der Menschenwürde

Die Aktion Unwort des Jahres rügt Wörter und Formulierungen, die gegen die Prinzipien der Menschenwürde oder Demokratie verstoßen, gesellschaftliche Gruppen diskriminieren, stigmatisieren und diffamieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind.

2020 hatte die Jury mit „Corona-Diktatur“ und „Rückführungspatenschaften“ erstmals zwei Begriffe ausgewählt. Die Unwörter der Vorjahre lauteten „Klimahysterie“ (2019), „Anti-Abschiebe-Industrie“ (2018), „alternative Fakten“ (2017), „Volksverräter“ (2016), „Gutmensch“ (2015), „Lügenpresse“ (2014), „Sozialtourismus“.

Unwörter oft im „Ausländer“-Kontext

Mit der am Mittwoch verkündeten Entscheidung hat die Jury ein weiteres Mal ein im Kontext von „Ausländern“ stehenden Begriff zum Unwort gekürt. Den Auftakt machte „Ausländerfrei“ im Jahre 1991. Der Begriff hatte als fremdenfeindliche Parole in Hoyerswerda die Runde gemacht. Nur zwei Jahre (1993) später wurde von der Jury „Überfremdung“ zum Unwort des Jahres gewählt, weil es als Scheinargument gegen den Zuzug von Ausländern benutzt wurde. Im Jahre 2000 schaffte „National befreite Zone“ zum Unwort des Jahres, 2006 die „Freiwillige Ausreise“ von Ausländern, weil in den meisten Fällen von Freiwilligkeit nicht die Rede sein konnte. „Döner Morde“ wurde nach dem Bekanntwerden der NSU im Jahre 2011 zum Unwort des Jahres gewählt.

Nur knapp verpasste im Jahr 1992 der Begriff „Beileidstourismus“ die Wahl zum Unwort des Jahres. Mit diesem Begriff hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) die Solingen-Besuche anderer Politiker nach dem Brandanschlag umschrieben. Weitere Begriffe, die die Wahl knapp verpassten, waren unter anderem „Ausreisezentrum“ (2002) oder „Begrüßungszentren“ (2004), die in Wirklichkeit Auffanglager für afrikanische Flüchtlinge waren. 2010 hatte „Integrationsverweigerer“ von Bundesinnenminister Thomas de Maizière es in die engere Auswahl geschafft.

Die Unwort-Jury

Die Sprecherin der Unwort-Jury, Constanze Spieß, ist Professorin für Pragmalinguistik an der Marburger Philipps-Universität. Weitere ständige Mitglieder die Sprachwissenschaftler Kristin Kuck (Universität Magdeburg), Martin Reisigl (Universität Wien) und David Römer (Universität Trier) sowie die Journalistin und Dozentin Alexandra-Katharina Kütemeyer. Hinzu kam Gast-Juror Harald Schumann.

Der Begründer der sprachkritischen Aktion, der Frankfurter Germanistikprofessor, Horst Dieter Schlosser, war von 1991 bis 2010 Vorsitzender und Sprecher der Jury. Von 2011 bis 2020 bekleidete die Darmstädter Sprachwissenschaftlerin Nina Janich diese beiden Ämter. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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