Interview mit Elizabeth Beloe
„Fortschritte können nicht ohne Migranten geschrieben werden“
Migrantenorganisationen sind im Koalitionsvertrag nur nebenbei erwähnt, kritisiert die neue Vorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrantenorganisationen (NeMO) Elizabeth Beloe im Gespräch. Von der neuen Bundesregierung fordert sie ein höhere Repräsentanz, mehr Beteiligung und neue Gesetze.
Von Wolfgang Riehn Freitag, 14.01.2022, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.01.2022, 12:28 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Wolfgang Riehn: Anfang November haben Sie den Vorsitz des Bundesverbandes Netzwerke von Migrantenorganisationen e.V. (NeMO) als Nachfolgerin von Dr. Ümit Koşan übernommen. Was wird sich ändern?
Elizabeth Beloe: Das neue Vorstandsteam freut sich sehr darauf, in den nächsten drei Jahren mehr Zeit und Esprit in die Verbandsarbeit zu investieren. Hierzu sind unter anderem Schwerpunkte geplant: Den BV NeMO als neue politische Stimme in der Einwanderungsgesellschaft noch stärker zu positionieren und sein Profil zu schärfen. Die Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation in der Verbandsarbeit auszubauen und dabei den lebendigen Austausch zwischen den Verbünden und dem BV NeMO zu stärken. Die Zusammenarbeit mit politischen Vertretern auf Basis demokratischer Teilhabe und durch Zusammenarbeit in gemeinsamen Handlungsfeldern weiter zu intensivieren. Als ein Bundesverband mit mehr als 750 Vereinen möchten wir die Einwanderungsgesellschaft Deutschland verantwortlich mitgestalten. Deshalb fordern wir mehr Mut zu Demokratie und Partizipation.
Die neue Bundesregierung will „Mehr Fortschritt wagen“ und hat dazu Vorschläge im Koalitionsvertrag verankert. Ihnen geht das nicht weit genug.
„Migrant:innenorganisationen sind im Koalitionsvertrag nur nebenbei erwähnt – doch BiPoC, Schwarze Menschen, Rom:nja und Sint:izze, Geflüchtete, Diaspora, postmigrantische Menschen sind mit rund 30 Prozent Teil der deutschen Bevölkerung und immer noch in allen Bereichen unterrepräsentiert.“
Elizabeth Beloe: Migrant:innenorganisationen sind im Koalitionsvertrag nur nebenbei erwähnt – doch BiPoC, Schwarze Menschen, Rom:nja und Sint:izze, Geflüchtete, Diaspora, postmigrantische Menschen sind mit rund 30 Prozent Teil der deutschen Bevölkerung und immer noch in allen Bereichen unterrepräsentiert.
Bürgerrät:innen sollen eingeführt werden. Auf Seite 10 der Koalitions-Vereinbarungen – „Lebendige Demokratie“ – heißt es „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialoges, wie etwa Bürgerräte nutzen“. Mitglieder des BV NeMO wollen ein klares Zeichen setzen. Wir werden das Instrumentarium des Bürger:innen- Dialoges nutzen, um unsere konkreten Fragestellungen in den Ring zu werfen.
Im November haben Sie bei einem ‚Öffentlichen Dialog‘ zehn Forderungen an die neue Bundesregierung gestellt. Sie wollen nach 100 Tagen eine erste Bilanz ziehen. Die neue Bundesregierung ist seit einer Weile im Amt und hat einige Schwerpunkte ihrer Politik vorgestellt. Haben Sie schon entdecken können, dass die Forderungen der Migrant:innen-Organisationen im Ansatz bereits berücksichtigt sind? Haben Sie Fortschritt erkennen können?
„Wir sind überzeugt, dass Fortschritte nicht ohne die Migrant:innen-Organisationen, die BiPoC, die Diaspora-Gesellschaft geschrieben werden können.“
Elizabeth Beloe: Es ist noch zu früh über Fortschritte zu reden. Wir haben unsere Forderungen an die Bundesregierung eingereicht und laden zum Dialog ein. Wir sind überzeugt, dass Fortschritte nicht ohne die Migrant:innen-Organisationen, die BiPoC, die Diaspora-Gesellschaft geschrieben werden können.
Unsere Themen sind nicht zu übersehen: vom Recht auf Bildung für alle über eine rassismus-kritische Gesellschaft bis zur ökologischen Nachhaltigkeit.
Der Klimawandel wirft zentrale Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unserer kulturell geprägten Werte und nach globaler Gerechtigkeit auf. Gegen diesen „Umwelt- und Klimarassismus“ formulierte bereits Ende der 90er der US-amerikanische Klimaaktivist Tom Goldtooth vom Indigenous Environmental Network die Forderung nach Klimagerechtigkeit und definierte so den Klimawandel als eine Frage der Menschenrechte und der Gerechtigkeit. Wir brauchen einen Systemwandel und ein Transformationsgespräch zwischen den Generationen.
Darüber hinaus sorgt vermehrt das Black Earth Kollektiv im Globalen Süden dafür, dass rassismus-kritische, feministische, anti-koloniale und vielfalt-sensible Inhalte in der Klimagerechtigkeitsdiskussion sowie in Bewegungen wie Fridays4Future thematisiert werden und stärker berücksichtigt werden. Deutschland als Industrienation kann die Fortschritte nicht lokal für sich schreiben, sondern nur im Dialog mit dem Globalen Süden!
In fast allen gesellschaftlichen Bereichen sind Menschen mit Einwanderungs- und Fluchtgeschichte besonders negativ betroffen. Während der Corona-Pandemie haben viele den Anschluss verloren. Wie wollen Sie erreichen, dass Bildung für alle Kinder und Jugendliche ohne Berücksichtigung des Aufenthaltstitels und sozialraumorientierter Merkmale möglich wird?
„Unser Antrag beim Bildungsministerium wurde ohne Begründung abgelehnt. Dem Familienministerium haben wir eine Zusammenarbeit angeboten. Keine Reaktion.“
Elizabeth Beloe: Nach der Vorstellung des Aufhol-Programmes der früheren Bundesregierung für Kinder und Jugendliche, das von den Bildungs- und Familienministerien federführend umgesetzt wird, haben wir die ehemalige Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) angeschrieben und auf unzureichende Rahmenbedingungen hingewiesen. Unser Antrag beim Bildungsministerium wurde ohne Begründung abgelehnt. Dem Familienministerium haben wir eine Zusammenarbeit angeboten. Keine Reaktion.
Ich möchte vier Themenbereiche hervorheben:
Bildungsbenachteiligung wird immer deutlicher, doch Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung und Migrationsgeschichte kommen in der Medienberichtserstattung nicht vor.
Ebenfalls als gefährdet zu betrachten ist die Gruppe der Frauen. Viele haben aufgrund der Corona-Pandemie ihre sozialen Bezugspunkte und Bildungsmöglichkeiten außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte verloren und sind somit systematisch isoliert. Digitalisierung und Ausstattung der Gemeinschaftsunterkünfte mit W-Lan und Endgeräten fehlt gänzlich!
Mit der Corona-Pandemie nahmen und nehmen sozialökonomische Ungleichheiten, Bildungsbenachteiligung, Gewalt in familiären Strukturen, Depression und Re-Traumatisierung der Geflüchteten in den Gemeinschaftsunterkünften zu. Rassismus keimt überall.
„Wir werden auf qualitative und wirkungsorientierte Indikatoren bestehen und die Ergebnisse entlang dieser genannten Indikatoren einer Prüfung unterziehen.“
Wir werden in den nächsten Wochen die neuen Minister:innen ansprechen und nachfragen, welche Projekte durch Migrant:innen-Organisationen umgesetzt wurden, wo und mit welcher Resonanz. Inwieweit Kinder und Jugendliche und Familien bei der Durchführung einbezogen wurden. Wir werden nachfragen, wie viele Kinder und Jugendliche mit Einwanderungserbe bisher an den Maßnahmen teilgenommen haben. Wir werden auf qualitative und wirkungsorientierte Indikatoren bestehen und die Ergebnisse entlang dieser genannten Indikatoren einer Prüfung unterziehen.
Rassismus im Alltag, im Büro, bei sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen – Sie plädieren für bundesweite und flächendeckende lokale Anti-Rassismus-Beratungsstellen in migrantischer Trägerschaft, um Betroffene beraten zu können.
„In diesen Wochen ist viel von Fortschritt und einem neuen Aufbruch in der deutschen Politik die Rede. Wir sagen: Zu den wichtigen Fortschrittszielen muss eine plurale Einwanderungsgesellschaft gehören.“
Elizabeth Beloe: Zunächst möchte ich Folgendes betonen: Die neue Regierung ist im Amt. In diesen Wochen ist viel von Fortschritt und einem neuen Aufbruch in der deutschen Politik die Rede. Wir sagen: Zu den wichtigen Fortschrittszielen muss eine plurale Einwanderungsgesellschaft gehören. Eine plurale Demokratie kann aber nur gelebt werden, wenn allen Menschen in unserer Einwanderungsgesellschaft tatsächlich gleichberechtigte Teilhabe und Partizipation ermöglicht wird.
Wir streben Partizipationsgesetze in allen Bundesländern und auf Bundesebene an, die eine Gleichstellung aller Menschen in Deutschland durch eine gesetzliche Grundlage schützen, stützen und absichern, eine Gesellschaft, in der die Würde jedes Menschen tatsächlich im Zentrum steht. Eine Gesellschaft, in der rassistische, rechtsextreme und antifeministische Bestrebungen möglichst wenig Nährboden vorfinden.
Schaffen wir ein gesellschaftliches Klima, in dem die Leistungen der Einwanderungsgesellschaft gewürdigt und Diversity nicht nur als Realität, sondern auch als Stärke anerkannt wird. Für eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft werden wir auch nach der Wahl immer wieder aufs Neue streiten müssen. Denn es geht um Gleichstellung und Partizipation des Einzelnen als auch von Minderheiten.
Der Bundesverband hatte am 1. Juli 2021 zu einem Fachgespräch eingeladen. Quintessenz: Es ist zielführend, Beratungsstellen für von Rassismus Betroffene in zivilgesellschaftlich unabhängiger Trägerschaft anzusiedeln. Die Teilnehmer aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft waren sich darüber einig, dass eine langfristige finanzielle Förderung notwendig ist, um die Unabhängigkeit der Beratungs-Stelle zu sichern und zu gewährleisten.
Sie sind in vielen Gremien aktiv – unter anderem sind Sie Mitglied der Expertinnen-Gruppe der Europäischen Union. Wie ist Ihre persönliche Vision für ein Europa der Vielfalt und des friedlichen Miteinanders?
„Im Mittelmeer sterben oder verschollen wieder mehr Menschen, seit 2014 mehr als 22.700. Allein in 2021 waren es wieder über 1.500 Menschen. Europa ist bis auf einige zivile Seenotretter:innen abwesend. Abwesend und mit verschlossenen Augen. Unerhört!“
Elizabeth Beloe: Die Europa-Idee kann nur dann Wirklichkeit werden, wenn auch die Lebensbedingungen überall annähernd gleich sind. Die Pandemie ist auch eine Krise der Demokratie, denn es besteht die latente Gefahr der Radikalisierung. Wir müssen als Gemeinsames Europa unsere Stimme gegen Nationalismus und Rechtsextremismus in Europa und für ein soziales Europa erheben. Menschen mit geringem Einkommen werden in die Peripherien der Städte verdrängt. Die Idee des sozialen Europas darf nicht verdrängt werden.
Im Mittelmeer sterben oder verschollen wieder mehr Menschen, seit 2014 mehr als 22.700. Allein in 2021 waren es wieder über 1.500 Menschen. Europa ist bis auf einige zivile Seenotretter:innen abwesend. Abwesend und mit verschlossenen Augen. Unerhört! Die Kommunen im Verbund ‚Sicherer Hafen‘, wollen Flüchtlinge aufnehmen. Warum nimmt die Bundesregierung dieses Angebot nicht an? Migrationsrecht und Asylrecht sind Menschenrechte!
Viele Wünsche und Visionen – und ich hoffe, dass sich in 2022 einige davon erfüllen.
Vielen Dank und alle guten Wünsche für Ihre neuen Aufgaben. Aktuell Interview Panorama
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