Marwas Odysee nach Deutschland
„Einem Menschen konnten wir helfen, nur einem.“
Ein Anruf: „Die junge Syrerin Marwa lieg in einem polnischen Krankenhaus im Koma. Ihre Eltern sind in Deutschland. Eine polnische Anwältin kümmert sich um sie, kommt aber nicht weiter. Kannst du helfen?“ - So beginnt eine Odysee in den Fängen der Bürokratie zwischen polnischen Stellen und Auswärtigem Amt. Ein Erfahrungsbericht aus erster Hand.
Von Axel Grafmanns Montag, 24.01.2022, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 23.01.2022, 15:28 Uhr Lesedauer: 9 Minuten |
Am 13. November 2021 bin ich zum dritten Mal in Polen, dieses Mal zusammen mit der Bundestagsabgeordneten Zaklin Nastic (Linke), die sich sofort bereit erklärt hatte, mitzukommen, um sich ein eigenes Bild von der Situation an der Grenze Polen-Belarus zu machen. Der Medienrummel um die Katastrophe im Grenzgebiet erreicht seinen Höhepunkt. Im Minutentakt klingelt mein Telefon: ABC News, ZDF, TVN24, Reuters, RTL, etc. Von den Bränden in Lesbos und Lipa weiß ich, dass das Interesse der Medien von kurzer Dauer ist und genutzt werden muss, aber in dieser Situation nervt es dann doch.
Als wir um die Straße in Michalowo einbiegen in Richtung Feuerwache, wo eine Sammelstelle für polnische Secondhandkleidung eingerichtet ist, erwarten uns jede Menge Kameras und Mikrofone. Nach der Pressekonferenz nimmt mich eine polnische Journalistin des Senders TVN24 zu Seite. „Im Krankenhaus in Hajnówka liegt eine junge Syrerin im Koma. Sie heißt Marwa und ihre Eltern sind in Deutschland. Eine polnische Anwältin der Helsinki Foundation kümmert sich um sie, kommt aber nicht weiter. Kannst du helfen?“ Wir tauschen Nummern aus.
Zurück auf dem Weg nach Deutschland kontaktiert mich Marta, die Anwältin der Helsinki Foundation, und schildert mir die aktuelle Situation. Die 30-jährige Marwa war nach einem Zusammenbruch in den polnischen Wäldern in ein Krankenhaus gebracht worden, wo sie sechs Wochen im Koma lag und künstlich beatmet und ernährt werden musste. Eigentlich wollte Marwa nach Deutschland, denn ihre Eltern leben in Rheinland-Pfalz. Sie leidet an Epilepsie.
„Als die Meldung eintrifft, dass das Visum abgelehnt wurde, ist unsere grüne Außenministerin Baerbock erst wenige Stunden im Amt. Ist das die neue Linie der Ampelkoalition oder das Versagen der alten Groko?“
Marta und die ehrenamtliche Juristin unseres Vereins, Kerstin, besprechen den Fall und entscheiden, dass mit Hilfe eines Anwaltes in Deutschland ein Visum für Marwa aus dringenden humanitären Gründen gestellt wird. Kerstin hält uns im Verein auf dem Laufenden. Am 8. Dezember kommt dann die Meldung: Das humanitäre Visum für Marwa wurde vom Auswärtigen Amt abgelehnt mit dem absurden Hinweis, die junge Frau solle ein Visum zur Familienzusammenführung beantragen – und zwar in der deutschen Botschaft in Erbil im Nordirak.
Als die Meldung eintrifft, dass das Visum abgelehnt wurde, ist unsere grüne Außenministerin Baerbock erst wenige Stunden im Amt. Ist das die neue Linie der Ampelkoalition oder das Versagen der alten Groko? Ich schreibe einen offenen Brief an Frau Baerbock (Grüne) und die (noch) amtierende Menschenrechtsbeauftragte Frau Kofler (SPD). Den Brief leite ich weiter an andere Bundestagsabgeordnete verschiedener Parteien, später auch an die neue Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und an unsere polnischen Freund:innen zur Information. Der Brief scheint in Polen zu zirkulieren, denn zu meiner Überraschung meldet sich später eine befreundete Polin nahe der Sperrzone. Sie habe von dem Brief erfahren. Marwas Eltern würden gerade bei ihr wohnen, um ihre Tochter im Krankenhaus zu besuchen. Sie schreibt: „Die Welt ist klein“. Und grausam – denke ich.
Immer mehr Bundestagsabgeordnete wie Gyde Jensen (FDP), Simona Koß (SPD) und Zaklin Nastic (Linke) signalisieren in den folgenden Tagen ihre Unterstützung und stellen Fragen an das Auswärtige Amt. Uns rennt aber die Zeit davon. Marwa ist aus dem Koma aufgewacht und soll bald aus dem Krankenhaus entlassen werden – in ein polnisches Abschiebegefängnis. Wie soll die kranke Frau in einem solchen Lager überleben, in dem sich 20 bis 30 Menschen eine Baracke teilen, Gewalt herrscht, es keine stabile Gesundheitsversorgung und adäquate Verpflegung gibt?
„Die Juristinnen Kerstin und Marta beschließen trotzdem, gegen die Ablehnung des Visums nicht zu klagen, weil sonst das Auswärtige Amt in einem laufenden Verfahren keine Auskünfte mehr erteilen dürfte.“
Die Juristinnen Kerstin und Marta beschließen trotzdem, gegen die Ablehnung des Visums nicht zu klagen, weil sonst das Auswärtige Amt in einem laufenden Verfahren keine Auskünfte mehr erteilen dürfte. Stattdessen soll Marwas Anwalt gegenüber dem Auswärtigen Amt offiziell Bedenken im Wege der Remonstration geltend machen.
Abends, bevor ich das Licht ausmache, begebe ich mich in die Twitter Bubble, und alle bekommen den offenen Brief rein-getweetet. Klingbeil, Marquardt, Scholz… jede:r Politiker:in wird von mir angetwittert. Doch die Uhr tickt unerbittlich und wir kommen nicht weiter. Weihnachten steht vor der Tür, diese besinnliche Zeit der Liebe, der Wärme, des Feierns – nur eben nicht für Alle. Die Menschen an den EU-Außengrenzen, Menschen wie Marwa, leiden, frieren und hungern auch an Weihnachten, während wir uns etwas vom Fest der Liebe erzählen.
Der Schriftsteller Sasa Stanisic organisiert eine Live-Benefizlesung auf Instagram für „Wir packen’s an“ (Wpa). Meine Partnerin und Wpa-Vorstandsmitglied Miriam soll dabei ein paar Fragen beantworten und nutzt die Gelegenheit, öffentlich auf Marwas Situation aufmerksam zu machen. Auch Jan Böhmermann und Olli Schulz sammeln in ihrem Podcast „Fest & Flauschig“ am 16.12.2021 Spenden für unseren Verein und berichten über Marwa. Miriam, die einen Transport mit notwendigen Sachen in die Grenzregion begleitet, sitzt an diesem Abend mit Marwas verzweifelt nach Polen gereisten Eltern zusammen. Sie hören Böhmermanns Sendung und warten auf einen eventuellen Anruf aus der Sendung. Er kommt nicht, aber Böhmermann hat Marwa erwähnt, und das ist unbezahlbar wertvoll.
„Im Dezember spreche ich auf vielen Demos, ich schildere immer wieder Marwas Zustand und Lage… und fühle mich dabei einfach nur ohnmächtig. Aber wir dürfen nicht aufgeben in einem Europa des Herzversagens, wo Menschen im Wald verrecken, während andere Weihnachten feiern.“
Im Dezember spreche ich auf vielen Demos, ich schildere immer wieder Marwas Zustand und Lage… und fühle mich dabei einfach nur ohnmächtig. Aber wir dürfen nicht aufgeben in einem Europa des Herzversagens, wo Menschen im Wald verrecken, während andere Weihnachten feiern. Wir dürfen nicht schweigen, wenn angezweifelt wird, dass diese Menschen überhaupt Geflüchtete sind, nur weil sie in einem Flugzeug nach Europa kamen. Gerade so, als ergäbe sich ein Anspruch auf Asyl nur aus langen Fußmärschen oder Meeresüberquerungen im Schlauchboot. Nur wer jahrelang leidet auf seiner Flucht hat Anspruch auf Asyl? Ich lese davon nichts in den entsprechenden völkerrechtlichen Bestimmungen!
In einer nächtlichen Session am 16.12.2021 schreibe ich den zweiten offenen Brief. Dieses Mal ist das Ziel, eine breite öffentliche Unterstützung für Marwas Sache zu bekommen und damit öffentlichen Druck aufzubauen. Mir ist klar, dass der noch vor Weihnachten raus muss. Einige Politiker:innen rufen mich an und versuchen, mich zu überreden, dass ich erstmal die Antwort auf die Fragen an das Auswärtigen Amt abwarten solle, welche sie gestellt hatten. Aber Zeit ist etwas, was wir in diesem Fall nicht haben, und ich lehne ab.
„Wir bekommen immer mehr Zusagen, führen Telefonate mit Europa- und Bundestagsabgeordneten. Es wird mir gesagt, dass wir gute Chancen hätten, wenn Annalena Baerbock den Brief auf den Tisch bekäme. Hat sie den Brief schon auf dem Tisch – oder wie bekommen wir ihn dahin?“
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern aus dem Verein bitten wir in den folgenden Tagen unzählige Politiker:innen und Promis um ihre Unterstützung für den Brief. Follower aus unseren verschiedenen Social-Media-Kanälen schreiben Abgeordnete an. Wir bekommen immer mehr Zusagen, führen Telefonate mit Europa- und Bundestagsabgeordneten. Es wird mir gesagt, dass wir gute Chancen hätten, wenn Annalena Baerbock den Brief auf den Tisch bekäme. Hat sie den Brief schon auf dem Tisch – oder wie bekommen wir ihn dahin? Inzwischen wächst die Unterstützung: Katja Riemann, Ralph Ruthe, die Intendantin des Gorki Theaters, Janine Wissler (Linke), sie alle sagen zu, den Brief zu unterschreiben. Besonders die Büros der Europaabgeordneten Sergej Lagodinsky (Grüne) und Dietmar Köster (SPD) unterstützen uns. Am 22.12.2021 soll der Brief über unseren Presseverteiler gehen.
Doch die freudige Nachricht erreicht uns zwei Tage vorher: Marwa soll tatsächlich ein Visum bekommen. Dafür muss sie aber am nächsten Tag in Warschau zur Botschaft gehen. Haben wir es geschafft? Schafft Marwa es in ihren Zustand nach Warschau? Wir fangen wieder an zu rotieren. Ich schließe eine Gäste-Krankenversicherung im Namen des Vereins ab, einige Vereinsmitglieder bürgen für die Kosten ihres Aufenthalts und Marwa macht sich auf den Weg nach Warschau.
Plötzlich erfahren wir, dass das lokale Ausländeramt in Rheinland-Pfalz der Erteilung des Visums nicht zustimmen will, weil ihnen bei Marwas Gesundheitszustand unsere Verpflichtungserklärung zur Kostenübernahme nicht ausreicht. Unsere Juristin Kerstin ruft mich an und äußert ihre Bedenken, dass wir die junge Frau in eine schwierige Lage gebracht haben, denn Marwa hat eigentlich keinen Aufenthaltstitel in Polen. Würde sie in Warschau aufgegriffen, würde sie als illegale Geflüchtete verhaftet und in einem der Detention Center landen. Ich bin irritiert und wütend: War das nun Taktik oder Inkompetenz im Auswärtigen Amt? Oder liegt es an etwas ganz anderem? Wieder bange Telefonate, hektische Beratungen, Kommunikation über verschiedene Messengerdienste, bis sich am Tag vor Weihnachten das Blatt wieder wendet als die Nachricht kommt, dass Marwa jetzt nach Deutschland darf! Ein anderer Weg hat sich aufgetan: Polen hat überraschend einen Übernahmeantrag an Deutschland gestellt, den wir nun intensiv versuchen zu beschleunigen, was auch gelingt.
„Und doch macht jeder Fortschritt in der Unterstützung von Geflüchteten immer wieder vor allem die Ohnmacht deutlich: einem Menschen konnten wir helfen, nur einem.“
Es ist der 23.12.2021. Miriam sagt „Komme mal mit raus, es hat geschneit!“ Feiner weißer Pulverschnee liegt über Häusern und Straßen und strahlt Frieden und Stille aus. Mir ist regelrecht weihnachtlich zumute beim Gedanken daran, dass Marwa endlich in Deutschland bei ihren Eltern in Sicherheit ist. Und doch macht jeder Fortschritt in der Unterstützung von Geflüchteten immer wieder vor allem die Ohnmacht deutlich: einem Menschen konnten wir helfen, nur einem. Viele sind unterwegs und ohne Hoffnung, werden allein gelassen vom Staatenverbund der 450 Millionen Europäer:innen, der sich von ein paar tausend Menschen erpresst fühlt, die vor Krieg und Armut fliehen. Und wenn ein eindeutiger Fall wie der von Marwa, schon so einer Anstrengung bedarf, welche Chancen haben dann die vielen tausend Anderen, die in ihrem Elend an den EU-Außengrenzen hocken? Ja, ein Weihnachtsmärchen, aber nur ein einziges.
PS: Am 07.01.2022 bekomme ich seltsame Post aus dem Innenministerium. Der Inhalt: Meinem Brief könne nicht entsprochen werden auf Grund der Dublin Regeln, die Syrerin Marwa müsse in Polen bleiben. Ich bin froh, dass Marwa in Deutschland ist, und dass deutsche Behörden anscheinend richtig, richtig schlecht funktionieren. Leitartikel Panorama
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