Europäischer Gerichtshof
Inhaftierung von Abschiebehäftlingen in „Gefängnisumgebung“ rechtswidrig
Deutschland hat vor dem Europäischen Gerichtshof eine krachende Niederlage eingefahren. Menschen, die abgeschoben werden sollen, dürfen nicht wie in Gefängnissen untergebracht werden, entschieden EU-Richter im Falle eines Pakistaners. Sein Anwalt spricht von einem Skandal. Flüchtlingsorganisationen begrüßen das deutliche Urteil.
Freitag, 11.03.2022, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.03.2022, 17:14 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Bedingungen präzisiert, unter denen Abschiebehäftlinge unterzubringen sind. Anlass war der Fall eines Pakistaners, der 2020 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hannover in der Abteilung Langenhagen inhaftiert wurde, wie der EuGH am Donnerstag in Luxemburg mitteilte. Dabei war er in der Nähe von Strafgefangenen untergebracht. (AZ: C-519/20)
Der EuGH urteilte nun, dass eine solche Unterbringung dem EU-Recht entsprechen kann. Allerdings müssten ihre Bedingungen „so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt“. Zugleich müssten einschlägige Rechte des Abschiebehäftlings gewährleistet sein. Dazu zählt etwa, Kontakt mit Familienangehörigen oder Konsularbehörden aufnehmen zu können.
Der Pakistaner war laut EuGH in Hannover zwar in einer speziellen Abteilung der JVA untergebracht. Eins von deren drei Gebäuden beherbergte demnach für einen Teil seines Aufenthalts jedoch Strafgefangene. Zwischen den Gebäuden für Abschiebe- beziehungsweise normale Häftlinge habe laut deutscher Justiz kein direkter Zugang bestanden.
Pro Asyl und Flüchtlingsrat begrüßen Entscheidung
Eine EU-Richtlinie bestimmt, dass Menschen wie der Pakistaner, dessen Asylantrag abgelehnt wurde, im Extremfall inhaftiert werden dürfen. Das gilt nur, wenn andere Maßnahmen zur Vorbereitung der Rückkehr oder Abschiebung nicht ausreichen. Die Abschiebehäftlinge müssen laut EU-Recht dann „grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen“ untergebracht werden. Ist das unmöglich, müssen sie zumindest von Strafgefangenen getrennt sein. Außerdem, so die Richter, dürfe man nicht wie Deutschland pauschal eine Notlage verkünden.
Pro Asyl und der Flüchtlingsrat Niedersachsen begrüßten das Urteil. Der EuGH habe erstmalig Leitplanken vorgegeben für die Unterbringung von Menschen, die abgeschoben werden sollen. Jetzt stehe die Bundesregierung in der Pflicht, Konsequenzen aus dem Richterspruch zu ziehen. Auch die Bundesländer seien gefordert, ihre Haftanstalten zu überprüfen und zum Teil umzubauen.
Meterhohe Stacheldrahtmauern
„Haftanstalten wie die im bayerischen Hof oder in Glücksstadt in Schleswig-Holstein sind von meterhohen, stacheldraht-bewehrten Mauern umgeben und haben damit eindeutig den Charakter eines Gefängnisses“, kommentiert Peter von Auer, rechtspolitischer Referent bei Pro Asyl. Auch Niedersachsen „darf nicht so weiter machen wie bisher“, ergänzt Muzaffer Öztürkyilmaz vom niedersächsischen Flüchtlingsrat.
Rechtsanwalt Peter Fahlbusch von der Kanzlei LSFW in Hannover, der den Pakistaner vertreten hat, kritisiert die bisherige Praxis scharf. Betroffene ohne anwaltliche Unterstützung teilweise monatelang einzusperren, nur um sie von A nach B zu verbringen, „ist eines Rechtsstaats unwürdig und muss dringend geändert werden“, erklärte er.
83 Jahre rechtswidrige Haft
Eigenen Angaben zufolge hat Fahlbusch seit 2001 bundesweit 2.215 Menschen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. Er stellt regelmäßig eigene Berechnungen auf, weil es keine offiziellen Zahlen gibt. In den Fällen des Anwalts wurden 1.164 dieser Menschen (über 52 Prozent) laut den vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert – darunter Menschen, die mehrere Monate zu Unrecht festgehalten wurden.
Zusammengezählt kommen Fahlbusch zufolge auf die 1.164 Gefangenen 30.507 rechtswidrige Hafttage bzw. 83 Jahre (Stand: 8.3.2022). „Im Durchschnitt befand sich jeder Mandant knapp vier Wochen zu Unrecht in Haft. Das ist ein handfester Skandal, der uns alle nachdenklich machen sollte“, mahnt Fahlbusch. (epd/mig) Leitartikel Recht
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