Denken und Planen
Können „Flüchtlingslager“ heilen?
Geflüchtete kommen oft mit einem Trauma im Zielland an und viele kommen in Flüchtlingslagern unter, die den Gesundheitszustand zusätzlich verschlechtern. Dabei könnten sie heilende Wirkung haben.
Von Ferihan Yeşil Donnerstag, 14.04.2022, 5:19 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.04.2022, 5:19 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle“ 1
Dieses Zitat stammt von Hannah Arendt, einer deutschen Philosophin, die 1933 durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) für acht Tage inhaftiert wurde und im Anschluss emigrierte. Würde die Information zum Urheber des Zitates fehlen, so könnte der Leser davon ausgehen, dass es sich um einen zeitgenössischen Menschen mit Fluchterfahrung aus einem beliebigen Land handeln könnte.
Wann flüchten Menschen?
Nach Art. 1 der Flüchtlingskonvention ist ein Mensch ein „Flüchtling“, wenn er sein Land aus „Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, seiner Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung“ verlässt. Laut der Uno Flüchtlingshilfe liegen die Ursachen darin, dass Krieg und Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Hunger sowie klimatische und umweltzerstörerische Katastrophen vorliegen.
„Dieser Beitrag bezieht sich insbesondere auf die räumliche Situation der Geflüchteten in Deutschland, die nicht das Privileg hatten, in Privatwohnungen untergebracht und als „Gäste“ mit einer entsprechenden Geste empfangen zu werden und die nicht durch sichere, durch das Aufnahmeland organisierte Transportmöglichkeiten nach Deutschland kamen.“
Ganz selten verläuft eine Flucht ohne traumatische Situationen. Mit traumatischen Situationen sind Erlebnisse gemeint, die von „Bedrohung, Ausgeliefertsein, Kontrollverlust, Entsetzen, Hilflosigkeit sowie Todesangst“ gekennzeichnet sind. Sind diese Menschen nach ihrer langen traumatisierenden Reise schließlich in ihrem Ankunftsland angekommen, beginnen sie dort ihr Leben mit seelischen und körperlichen Wunden. Zu diesen Wunden kommt die Schwierigkeit des Verlusts der gewohnten Heimat hinzu. Das Zuhause, die Sprache, das Vertrauen darin, nützlich zu sein sowie die Bedeutung, die sie ihrer Existenz zugeschrieben haben, sind fortan und im Idealfall vorerst nicht vorhanden.
Wo kommen Menschen mit Fluchterfahrung an?
Gerade aktuelle Entwicklungen in Deutschland zeigen, dass die Gruppe der Geflüchteten keine heterogene ist. Dass Menschen mit Fluchterfahrung fast immer in einem psychisch und körperlich belasteten Zustand ankommen, ist keine große Überraschung. Recherchen, zum Beispiel über das Lager im griechischen Moria oder die prekären, lebensbedrohlichen Zustände an vielen Landesgrenzen, geben uns einen kleinen Einblick in die Welten, die diese Menschen durchqueren müssen.
Genauso zeigen Bilder der Zerstörung, wie Menschen von heute auf morgen ihr Zuhause, ihre Heimat verlassen müssen. Dieser Beitrag bezieht sich insbesondere auf die räumliche Situation der Geflüchteten in Deutschland, die nicht das Privileg hatten, in Privatwohnungen untergebracht und als „Gäste“ mit einer entsprechenden Geste empfangen zu werden und die nicht durch sichere, durch das Aufnahmeland organisierte Transportmöglichkeiten nach Deutschland kamen.
„Räume rufen Emotionen hervor. Das ist eine Tatsache, die in vielen Disziplinen verankert und akzeptiert ist.“
Nach der langen traumatisierenden Reise kommen nicht privilegierte Geflüchtete im Idealfall in ihrer „Zielheimat“ an und werden in „Flüchtlingsheimen“ untergebracht. Das Gesetz verbietet ihnen das Arbeiten. Eine eigene Wohnung können sie sich ohnehin weder leisten noch organisieren. Schließlich verbringen diese Menschen den Großteil ihres Tages, wenn nicht den gesamten Tag, im sogenannten „Flüchtlingslager“. Erst nach der rechtlichen Abklärung, der finanziellen Sicherheit und der erfolgreichen Suche nach einer Wohnung schaffen es wenige von ihnen in private Wohnungen. Diese bieten ihnen aufgrund der hohen Mietpreise meist minimal Raum.
Heilsame Räume?
Räume rufen Emotionen hervor. Das ist eine Tatsache, die in vielen Disziplinen verankert und akzeptiert ist. Spätestens durch den Bestseller des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich (1960) mit dem Titel „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ ist diesem Thema eine weitgehende Aufmerksamkeit gewidmet.
Während von der automobilgerechten und nach Funktionen gegliederten Stadt zusammen mit den Leitsätzen „Licht, Luft, Sonne“ erwartet wurde, dass sie ihre Bewohner heilt, ermittelte Mitscherlich, dass sie depressiv gestimmt waren.2 Begriffe wie „Sick-Building-Syndrom“, „Healing Architecture“, „Healing City“, „Environmental Design Research“ sowie „Active Design“3 gehören zu zeitgenössischen Diskussionen. Unter dem Titel: „When Buildungs don’t work. The Role of Architecture in Human Health“ untersuchten und belegten 1998 zwei Psychologen4 an der Cornell University in Ithaca den Einfluss der gestalteten Umwelt auf das Wohlbefinden der Menschen. Hierzu haben sie fünf leiblich-räumlich erfahrbare architektonische Qualitäten, die sich unmittelbar auf die Gesundheit des Menschen auswirken.
„Bei dem Bau von Unterkünften oder der Ausstattung von bereits bestehenden und umfunktionierten Lagern stehen andere Faktoren im Vordergrund, wie etwa die Wirtschaftlichkeit.“
Bedauerlicherweise hat sich diese Art des Denkens und Planens in der praktischen Realität kaum etabliert. Bei dem Bau von Unterkünften oder der Ausstattung von bereits bestehenden und umfunktionierten Lagern stehen andere Faktoren im Vordergrund, wie etwa die Wirtschaftlichkeit.
Nehmen sich Architekt:innen selbst aus der Verantwortung oder wird dem Thema strukturell kein Raum gegeben, indem die bezahlten Leistungsphasen von Architekt:innen einfach keine Möglichkeit für eine tiefgehende Interdisziplinarität zulassen? Ist es nicht an der Zeit, die raumbildenden Akteure unserer Gesellschaft ebenfalls zu sensibilisieren und als „integrationsförderndes“ und heilendes – ja – therapierendes Fachpersonal fungieren zu lassen?
Zusammen mit Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, Lehrer:innen wären Architekt:innen als Gestalter aller Räume zweifelsohne an einer sehr bedeutenden Position, um zu einer bewussten und aktiven Verbesserung des Weltgeschehens beizutragen.
- Arendt, H.: Wir Flüchtlinge. Mit einem Essay von Thomas Meyer, Ditzingen 2018, S. 10.
- Brichetti, K.; Mechsner, F.: Heilsame Architektur. Raumqualitäten erleben, verstehen und entwerfen. Bielefeld 2019, S. 11.
- Ebd.
- Psychologe Gary W. Evans und Kollegin Janetta Mitchell McCoy, 1998.
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