Erfahrungen mit Pflegekind
„Wir haben den Krieg in Afghanistan fast täglich im Wohnzimmer“
Viele Menschen bieten derzeit Geflüchteten aus der Ukraine Wohnraum und Hilfe an - ohne die Folgen abschätzen zu können. Familie van Zandt hat das schon erlebt. Sie haben vor sechs Jahren einen Jungen aus Afghanistan aufgenommen.
Von Martina Schwager Montag, 18.04.2022, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.04.2022, 17:11 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Als Mustafa im Mai 2016 als Pflegekind zu Christiane und René van Zandt zog, war er 15 Jahre alt. Der Plan war, den afghanischen Flüchtling zu begleiten, bis er volljährig wäre. „Wir wollten ihn durch die Schule bringen, ihm bei der Integration und beim Deutschlernen helfen“, sagt der heute 61-jährige René van Zandt. Dass der Plan so nicht funktionieren würde, merkten sie bald. „Wir haben schnell eine emotionale Bindung zu ihm aufgebaut. Er ist so ein lieber Junge – immer höflich und zuvorkommend“, sagt Christiane van Zandt (64). „Da konnten wir ihm, als er 18 wurde, doch nicht einfach sagen: ‚Nun sieh mal zu!’“
Hilfsbereite Deutsche bieten derzeit zu Tausenden ukrainischen Flüchtlingen ein neues Zuhause und Unterstützung an. Die Caritas-Referentin für Flüchtlingshilfe, Alexandra Franke, mahnt, sich vor einem solchen Schritt gut zu informieren und ihn in aller Ruhe zu überlegen. „Wenn jemand das leerstehende Kinderzimmer oder das Arbeitszimmer ausräumt, um Geflüchtete aufzunehmen, dann sind damit die lebenspraktischen Fragen des Alltags noch nicht geklärt.“ Auch könne es eine Herausforderung sein, angesichts des andauernden Krieges in der Ukraine die Sorgen und Ängste der Gäste zu sehen und auszuhalten.
Die van Zandts haben all das bereits erlebt. Sie haben Mustafa geholfen, seinen Realschulabschluss zu machen. Bald schließt der inzwischen 21-Jährige seine Ausbildung zur Hotelfachkraft ab. Die Zusage, dass er übernommen wird, hat er in der Tasche. Und noch immer wohnt er bei den van Zandts in Neuenkirchen-Lintern, 30 Kilometer nordwestlich von Osnabrück. Pflegevater René sieht die Gründe dafür pragmatisch: „Sonst hätten wir das Gefühl gehabt, wir haben etwas angestoßen, aber nicht zu Ende gebracht.“
„Krieg in Afghanistan im Wohnzimmer
Ohne Eltern und Geschwister war Mustafa aus Mazar-i-Sharif nach Osnabrück gekommen. Pflegevater René hat den Weg als dicke, schwarze Linie in eine Karte eingezeichnet. Nach und nach hat der Junge von den Strapazen und Risiken erzählt, manches erst nach Monaten. Schlimmer war für ihn noch die dauernde Angst um seine Familie in der Heimat. „Bis heute steht er fast täglich mit den Eltern und den vier Geschwistern in Kontakt“, erzählt seine Pflegemutter.
Spätestens drei Monate nach seiner Ankunft waren auch sie und ihr Mann mittendrin: Bei einem Selbstmordattentat in Mazar-i-Sharif wurde das Haus von Mustafas Eltern beschädigt. „Von da an hatten wir den Krieg in Afghanistan fast täglich bei uns im Wohnzimmer“, sagt Christiane van Zandt. „Wir haben immer mitgezittert.“
„Dazu haben wir nicht mehr die Kraft“
Mit denselben Zielen wie Mustafa kamen 2015/16 Tausende Jugendliche aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Ländern unbegleitet nach Deutschland, fast ausschließlich Jungen. Die meisten waren zwischen 15 und 17 Jahre alt. Weil sie besonders schutzbedürftig sind, werden alleinreisende Minderjährige grundsätzlich nicht in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht, sondern von Jugendämtern in Obhut genommen. Die Plätze in den Wohngruppen der Jugendhilfe reichten damals jedoch vielerorts nicht aus. Viele Kommunen starteten deshalb Aufrufe an Familien, sich als Pflegefamilien zur Verfügung zu stellen. Sie beauftragten Wohlfahrtsverbände oder erfahrene Vereine mit der Schulung und Begleitung.
Mustafa kam auf Vermittlung der Caritas Osnabrück zu den van Zandts. Die Experten dort haben sie gut vorbereitet, informiert und begleitet, finden die beiden. Dennoch haben sie sich entschlossen, nicht ein weiteres Mal einen fremden Menschen aus einem Krisengebiet – dieses Mal der Ukraine – aufzunehmen. „Dazu haben wir nicht mehr die Kraft“, sagt Christiane van Zandt.
Druck, der Familie helfen zu müssen
Mustafa ist seit der Machtübernahme der Taliban in seiner Heimat sehr angespannt und oft schlecht gelaunt. Deshalb will er an diesem Tag nicht selbst erzählen. „Er fühlt sich zunehmend unter Druck, seiner Familie endlich die Ausreise nach Deutschland zu organisieren“, erzählt Pflegemutter Christiane.
Wie es wird, wenn Mustafas Familie tatsächlich kommt, davon haben die van Zandts noch keine Vorstellung. „Aber da wächst was auf uns zu. Man kommt aus der Nummer nicht wieder raus“, sagt Pflegevater René. Und dennoch: Sie bereuen den Entschluss, Mustafa aufgenommen zu haben, keine Sekunde. Im Gegenteil: „Wir sind froh, dass wir das gemacht haben. Mustafa war von Anfang an für uns eine große Bereicherung.“ Auch wenn er demnächst auszieht, hoffen sie, dass er sie besucht: „Wir werden immer eine Bindung zu ihm haben – wenn er das will.“ (epd/mig) Leitartikel Panorama
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