Nebenan
there’s a glitch in your trust
Es ist so, dass mir die Meinungen, die ich bezüglich des Ukrainekrieges zu haben glaube, immer wieder entgleiten, wenn ich mich selbst hinterfrage. Ein Erklärungsversuch in vier Akten.
Von Sven Bensmann Montag, 02.05.2022, 16:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.05.2022, 14:06 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Vor Kurzem ist mir ein Video in die Hände gefallen, dass dieser Tage wohl ziemlich genau ein Jahr alt ist, deshalb wunderbar in diese Zeit passt. In was wohl neudeutsch ein „Prank-Call“ genannt wird, also einem Scherz-Anruf in einer TV-Show, schildert ein junger Mann einer religiösen Autorität, dass er gerade in seiner Küche gestürzt sei, dabei seien ihm Schawarma mit extra Tahini, ein Apfelschnitz und etwa drei Liter Wasser versehentlich in den Mund gefallen – und jetzt stelle sich ihm die Frage, ob er weiterhin fasten solle, oder ob es Allah selbst gewesen sei, der ihn gefüttert habe. Das fassungslose Starren des Angerufenen, dem beim besten Willen keine Antwort einfallen will, ist unbezahlbar.
Und mir geht es ähnlich. Ähnlich wie beiden. Ich fühle mich eher wie der Anrufer, der schwierige Fragen hat, aber keine Antworten; gleichzeitig fühle ich, dass mich manch einer für den Lehrer hält, der doch bitte die Antworten haben soll. Aber es ist eben so, dass mir die Antworten, selbst die Meinungen, die ich bezüglich des Ukrainekrieges zu haben glaube, immer wieder entgleiten, wenn ich mich selbst hinterfrage – auch wenn es immer wieder wen gibt, der mein Hinterfragen „unserer“ Position als Beweis für die Unterstützung der Gegenposition verstehen will. So dumm wie die Propaganda sind eben auch die, die ihr aufsitzen. Daher spare ich mir das ab jetzt auch. Ab jetzt gibt es hier wieder Kritik ohne Rechtfertigung – denn die bin ich niemandem schuldig. Nicht denen, die bis zu den Augenbrauen im Morast ihrer Bubble stecken und keinen Braten mehr riechen können; definitiv auch nicht denen, die einfach intellektuell überfordert sind, kaum 1.000 Worte am Stück zu lesen und zu verstehen.
Heute mache ich es dafür mal strikt hegelianisch – schon weil der anders als sein Zeitgenosse Kant nie Menschen anhand ihrer Hautfarbe hierarchisiert hat.
Fall 1: Stahlwerk Asow.
These: Im Stahlwerk Asow sind hunderte Kämpfer der politisch völlig unbedenklichen Asow-Brigaden eingeschlossen worden. Russland hat diesen ein Ultimatum gestellt, entweder abzuziehen oder bei der Verteidigung zu sterben. Heldenhafte Nazis – Pardon, Widerstandskämpfer – meldeten darauf in den deutschen Hauptnachrichten, dass sie natürlich nicht abziehen werden, sie seien schließlich alle echte Männer – und forderten Waffen von Deutschland. (Berichterstattung von Ende März)
Antithese: Im Stahlwerk Asow sind hunderte unschuldige Frauen und Kinder eingeschlossen, darunter sogar ein Neugeborenes. Russland zieht die Schlinge um das Stahlwerk immer enger. In den Hauptnachrichten fordern die hungernden Zivilisten, dass Russland ihnen einen humanitären Korridor ermöglichen müsse, damit sie abziehen können. Der Westen solle diesen gegebenenfalls erzwingen. (Berichterstattung von Mitte April)
Synthese: Bewaffnete ukrainische Soldaten sind letztlich auch nur unschuldige Zivilisten, und halt bloß ein bisschen unpünktlich – dafür muss Russland Verständnis haben. Wenn Ukrainer im Krieg fallen, dann ist das Völkermord.
Fall 2: Gaslieferstopp nach Polen.
These: Polen fordert, russisches Gas zu boykottieren, die Pipelines zu blockieren, und zwar europaweit, als Teil des Krieges gegen Russland. Es will damit den Krieg des Westens gegen Russland weiter eskalieren und Russland finanziell erheblich treffen – ohne, dass Europa damit zu einem eigenen Waffengang gezwungen werden soll, selbstverständlich. (Berichterstattung seit Kriegsbeginn bis letzte Woche)
Antithese: Russland stellt Polen als Reaktion auf dessen Kriegshandlungen den Gashahn ab. Die ganze EU flippt aus, angesichts dieses einseitigen, völlig unprovozierten Aktes durch Russland. Russland, so ist man sich einig, ist vertragsbrüchig, agiert skrupellos und aggressiv, so könne man mit EU-Mitgliedern nicht umgehen. Deutschland stellt in der Folge fest, dass ein deutscher Boykott russischer Energielieferungen nun doch wohl keine wirtschaftliche Katastrophe mehr darstellt, und natürlich auch keinen aggressiven Akt. (Berichterstattung seit letzter Woche)
Synthese: Wer Gas abstellen darf, das bestimmen immer noch wir. Wenn jemand anderes für uns tut, was wir tun wollen, aber früher, als wir das wollen, dann ist das eine kriegerische Handlung, die unbedingt gesühnt werden muss.
Fall 3: Holocaustgedenken.
These: Die wohl wenigen Tausend gefallenen Soldaten – die Mär vom männlichen Zivilisten ist durch die Zwangsrekrutierung sämtlicher auch nur ansatzweise wehrfähigen Männer kaum zu halten – sowie (deutlich weniger) Frauen und Kinder konstituieren einen Völkermord. In den Hauptnachrichten darf eine Ukrainerin erklären, zwischen dem Holocaust, der Ermordung von Millionen von Juden, und dem aktuellen Krieg gegen die Ukraine mit seinen Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung gebe es doch eigentlich keinen Unterschied. Kein Kommentar, keine Einordnung, vor allem: kein Widerspruch durch Reporter oder Nachrichtensprecher sind nötig. (Berichterstattung von letzter Woche)
Antithese: Der Holocaust, die Shoa, sind ein singuläres Ereignis in der Geschichte der Menschheit. Die Opfer eines Krieges mit der industriellen Vernichtung eines Volkes gleichzusetzen, stellt eine Verharmlosung des Holocausts dar, die als Volksverhetzung in Deutschland gegebenenfalls strafbewehrt ist. (seit 1945)
Synthese: Ukrainer sind die neuen Juden, Tausende die neuen Millionen und Putin ist eh ein Nazi, wenn er meint, in der Ukraine gegen Soldaten mit Hakenkreuzen und SS-Runen an der Uniform Krieg führen zu müssen. Deutschland hat mittlerweile lang genug für seinen Fliegenschiss gebüßt und immerhin stellen wir brav bewaffnete Polizisten vor die Synagogen, das müssten wir ja auch nicht.
Fall 4: Medienkritik.
These: Wir haben eine freie Presse, in der jeder frei berichten kann.
Antithese: Die deutsche Presse hat sich weitgehend und völlig frei zur fünften Kolonne des ukrainischen Kriegsapparates gemacht.
Synthese: Es ist uns absolut schleierhaft, warum es Leute auf der Straße gibt, die „Lügenpresse“ rufen und tatsächlich andere Leute finden, die ihnen glauben.
„Im Übrigen gilt ja hier derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als der, der den Schmutz macht.“ Meinung
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Lieber Sven,
dein neues Format ist großartig.
Klare Struktur, Differenzierung und Unmissverständlichkeit helfen Fakten von Meinung und Sarkasmus von Ironie zu unterscheiden.
Ich könnte nun anfangen zu fragen, ob du wegen den Neonazis in Mariupol auch jeden Ukrainer dafür hältst?
Ich könnte fragen, ob du die xenophoben, homophoben und auch rassistischen russischen Bevölkerungsteile nicht für Neonazis hältst?
Ich glaube, ich könnte dich viel fragen und lernen, aber lass dich nicht nerven.
Lass dich nicht entmutigen, mein Lieber.
Alles Gute
Ade