Reisebericht
Sofia, eine multikulturelle Stadt
Sofia ist keine Tourismus-Metropole, ein Besuch aber trotzdem wert. Zu sehen ist eine offene, multikulturelle Stadt im Aufbruch und einer dynamischen Entwicklung. Ein Reisebericht.
Von Michael Groys Donnerstag, 26.05.2022, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 26.05.2022, 16:18 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Als ich meiner Mutter erstmalig davon erzählte, dass ich vorhabe, in die bulgarische Hauptstadt Sofia zu fliegen, fragte sie mich verwundert, was es dort Sehenswertes gibt und ob ich denn nicht lieber eine andere Stadt besuchen möchte.
Tatsächlich ist die Millionenmetropole nicht als Tourismusmagnet bekannt. Der internationale Teil des Flughafens schien mir bei meinem Besuch nicht sonderlich frequentiert gewesen zu sein. Einen wirklichen Duty-free-Shop, was als Hauptschlagader in modernen Flughafen gilt, suchte ich vergebens.
Bis auf einige Schilder in der zentral gelegenen Altstadt und paar vereinzelten Touristen hat man also nicht den Eindruck, Sofia wäre ein touristischer Hotspot. Die touristischen Schwerpunkte des Balkanstaats liegen offenkundig an der Schwarzmeerküste im Osten des Landes in Varna und am Goldenen Stand. Man tut Sofia damit aber Unrecht, sie als Tourismus-Metropole abzuschreiben, denn die Stadt bietet viel mehr Attraktionen als auf den ersten Blick zu sehen ist.
„Es vermischen sich Gebäude im Stil des sozialistischen Realismus mit Bauten aus der osmanischen und griechischen Zeit und entfalten einen eigenen Charme.“
Das kommunistische Erbe hat architektonische Spuren hinterlassen, die visuell nicht besonders anschaulich sind. Dennoch vermischen sich die Gebäude im Stil des sozialistischen Realismus mit Bauten aus der osmanischen und griechischen Zeit und entfalten einen eigenen Charme. Es wäre ungefähr so, als würde mitten auf der Frankfurter Allee ein barockes Gebäude stehen.
Die frühchristliche Kirche des Heiligen Georg aus rotem Backstein im historischen Zentrum von Sofia ist das älteste Gebäude der Stadt. Der im 4. Jahrhundert von den Römern errichtete Kuppelbau ist gut erhalten. Dieses Gebäude liegt im Innenhof des Präsidentenpalastes und ehemaligen kommunistischen Vorzeigehotels Balkan gut versteckt. Die Kommunisten wollten bewusst jede Erinnerung an Religion tilgen beziehungsweise verstecken. Heute finden die Menschen den Weg zum Glauben zurück, sodass selbst tagsüber Passanten die Gotteshäuser sichtbar besuchen.
„Sofia ist eine multikulturelle Stadt. Die Einflüsse fremder Herrschaften über Bulgarien sind nicht spurlos an ihr vergangen.“
Sofia ist eine multikulturelle Stadt. Die Einflüsse fremder Herrschaften über Bulgarien sind nicht spurlos an ihr vergangen. Viele Menschen sind mehrsprachig aufgewachsen. Obwohl Bulgaren mehrheitlich orthodox sind, haben andere Konfessionen ihren festen Platz. Die riesige Banja-Baschi-Moschee im Zentrum der Stadt, die russisch-orthodoxen und katholischen Kirchen und Kathedralen sind lebendige Belege der Multikulturalität des Landes und ihrer Hauptstadt.
Die kleine jüdische Gemeinde des Landes hat einen festen Platz in Sofia und wird gesellschaftlich anerkannt. Die Rettung von bulgarischen Juden durch den Zaren Boris III. und vielen bulgarischen Intellektuellen und Politikern in der Zeit des Nationalsozialismus ist nachhaltig im Bewusstsein der Menschen hängengeblieben. Auf jeden Fall wunderte ich mich, als ich in unterschiedlichen Diskotheken der Stadt jüdische und israelische Musik hörte.
„Wir Bulgaren sind offene Menschen gegenüber allen, egal woher man kommt und was man ist.“
In dem Restaurant mit dem französischen Namen „C‘est La Vie“ habe ich einen bulgarischen Moderator mit armenischen Wurzeln kennengelernt, der es treffend formulierte: „Wir Bulgaren sind offene Menschen gegenüber allen, egal woher man kommt und was man ist. Der Mensch ist für uns im Vordergrund und feiern sollte er auch können, denn das ist hier Nationalsport.“
Tatsächlich ist sehr auffällig, dass in einer der ärmsten Länder der Europäischen Union, die Restaurants, Clubs und Bars absolut überlaufen sind. Das Nachtleben ist pulsierend und kann mit großen europäischen Städten locker mithalten. Es gibt eine Vielzahl von gastronomischen Einrichtungen der Premium-Klasse, aber auch unglaublich viele leckere traditionelle Restaurants.
„Bulgarien und seine Hauptstadt sind im Aufbruch. Seit dem Beitritt in die EU im Jahr 2007 spürt man eine dynamische Entwicklung.“
Ich habe eins am Berg Witoscha vor den Toren der Stadt besucht. Während man ein köstliches Lahm isst, wunderbaren bulgarischen Rotwein trinkt, kann man dem Wasserfall lauschen und auch gerne sich mit dem kalten Gletscherwasser erfrischen. Sofia ist nämlich von Bergen umgeben, was der Stadt ein einzigartiges Flair gibt.
Grundsätzlich ist man nach nur wenige Fahrstunden von Rumänien, Griechenland, der Türkei oder dem Westbalkan entfernt, was viele Möglichkeiten eröffnet, die benachbarten Länder zu erkunden. Bulgarien und seine Hauptstadt sind im Aufbruch. Seit dem Beitritt in die EU im Jahr 2007 spürt man eine dynamische Entwicklung. Überall ragen moderne Bürogebäude mit Glasfassaden in den Himmel.
Mein befreundeter deutscher Unternehmer Aron, der seit mehreren Jahren aktiv in Bulgarien Geschäfte macht, beschreibt die Stimmung so: „Man spürt vor allem in Sofia, dass es hier aufwärts geht. Das Potenzial ist enorm und die Offenheit sowie Unternehmergeist sehr groß. Hier kommt man schnell und unkompliziert ins Geschäft. Es ist definitiv der Leuchtturm des Landes.“
„Trotzdem ist es langfristig richtig, Teil der europäischen Familie zu sein.“
Auf jeden Fall ist Sofia eine Reise wert, wenn man das Berlin der 1990er Jahre vermisst. Es war eine Zeit, wo sehr viel im Zeichen des Aufbruchs stand und unkompliziert sowie kreativ ausprobiert werden konnte. In Sofia wird weniger auf Bürokratie geschaut als auf den Menschen. Übrigens konnte ich mich persönlich von der unglaublichen Hilfsbereitschaft der Einwohner der Hauptstadt überzeugen. Ich würde in einer Stadt mit wenigen Schildern es ohne Einheimische sehr schwer haben, aber dafür auch weniger mit ihnen in Austausch kommen.
Mich haben besonders die kritischen, aber doch versöhnlichen Töne des Rentners Stanimir über die Erneuerungen im Land beeindruckt: „Wir müssen unseren selbst erzeugten Strom teuer nach Europa verkaufen. Trotz dessen ist es langfristig richtig, Teil der europäischen Familie zu sein.“
Sofia ist eine Stadt der Gegensätze, aber auch des Miteinander nach sehr vielen Umbrüchen auf dem Weg in die Moderne. Diesen Prozess persönlich zu sehen, empfand ich als wirklich bewundernswert und sehr interessant. Meinung
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