„In die Hose gegangen“
Untersuchungsausschuss soll Versagen in Afghanistan aufklären
Die Ampel-Parteien haben sich mit der Union auf eine Form zur Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes geeinigt: Enquete-Kommission und Untersuchungsausschuss. Geklärt werden soll, warum der Evakuierungseinsatz in Afghanistan „in die Hose gegangen“ ist. Derweil warten hunderte Ortskräfte weiter auf die versprochene Evakuierung.
Donnerstag, 02.06.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 03.06.2022, 5:50 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Zur Aufarbeitung des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr und seines jähen Endes im vergangenen Jahr sollen eine Enquete-Kommission und ein Untersuchungsausschuss beim Bundestag eingerichtet werden. Wie Vertreter aus den Fraktionsspitzen der Koalition aus SPD, Grünen und FDP sowie von CDU und CSU am Donnerstag mitteilten, sollen beide Gremien noch vor der Anfang Juli beginnenden Sommerpause eingesetzt werden. Hilfsorganisationen dringen derweil auf mehr Engagement bei der Evakuierung von Ortskräften, die noch immer in Afghanistan in Gefahr sind.
„Nach 20 Jahren ist es wichtig, dass der Gesamteinsatz in Afghanistan in einer Enquete-Kommission mit wissenschaftlicher Expertise bewertet wird“, heißt es in der Erklärung der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Agnieszka Brugger (Grüne), Gabriela Heinrich (SPD), Johann Wadephul (CDU) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP). Die Fraktionen wollen für die Einsetzung der Kommission, die aus den Ergebnissen Empfehlungen für künftige Auslandseinsätze der deutschen Streitkräfte ableiten soll, einen gemeinsamen Antrag ins Parlament einbringen.
Afghanische Ortskräfte getötet
Der Untersuchungsausschuss soll sich auf die Aufarbeitung der Evakuierungsmission in Afghanistan beschränken. Er muss durch das Plenum des Bundestags berufen werden. Ende Juni 2021 hatten nach einem Nato-Beschluss die letzten deutschen Soldaten Afghanistan verlassen und die Macht im Land quasi der Taliban überlassen. Die FDP und die Grünen, damals in der Opposition, übten scharfe Kritik. Nach der Machtübernahme der Taliban wurde Mitte August vergangenen Jahres die Bundeswehr am Flughafen Kabul für eine internationale militärische Evakuierungsoperation eingesetzt, um unter anderem deutsche Staatsangehörige sowie schutzbedürftige Afghanen auszufliegen. 5.347 Personen aus mindestens 45 Nationen flog die Bundeswehr damals nach eigenen Angaben während der heiklen Mission aus. Am Flughafen in Kabul hofften Tausende auf eine Flucht vor den Taliban. Es kam zu tumultartigen Szenen. Viele afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr und andere deutsche Institutionen gearbeitet hatten, wurden zurückgelassen. Die letzten deutschen Soldaten hatten bereits gut anderthalb Monate zuvor das Land verlassen.
Auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion hatte die Bundesregierung eingeräumt, dass nach dem Abzug der Truppen afghanische Ortskräfte getötet wurden. Die Linke sprach von einem Desaster.
„Evakuierungseinsatz in die Hose gegangen“
Der designierte Vorsitzende Ralf Stegner (SPD) sagte dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“, dass der Einsetzungsbeschluss für den Untersuchungsausschuss in der Sitzungswoche Ende Juni gefasst werden solle. Im Herbst könne die Arbeit dann richtig beginnen. „Der Untersuchungsausschuss wird sich mit der Frage beschäftigen, wer dazu beigetragen hat, dass der Evakuierungseinsatz in die Hose gegangen ist“, sagte Stegner.
Hilfsorganisationen in Deutschland versuchen immer wieder, das Schicksal der Ortskräfte in Erinnerung zu rufen. Tausende Menschen, die sich für Demokratie und westliche Werte eingesetzt haben, bangten seit vielen Monaten um ihr Leben und eine Aufnahme nach Deutschland, erklärte am Donnerstag Pro Asyl. Die Organisation appellierte an die in Würzburg tagenden Innenminister von Bund und Ländern, Aufnahmeverfahren zu beschleunigen und Programme für Ortskräfte einzurichten. „Jede Sekunde, die wir hier verlieren, verbringen die Menschen in Afghanistan in Todesangst“, erklärte Pro Asyl.
„Die Situation für ehemalige Ortskräfte ist schlimm.“
Nach Angaben des Patenschaftsnetzwerkes Afghanische Ortskräfte warten in Afghanistan allein noch immer Hunderte Helfer der Bundeswehr auf die Chance einer Ausreise. Das Netzwerk stehe allein mit rund 200 Menschen in Kontakt, die als ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr zwar eine Aufnahmezusage aus Deutschland, aber keinen Reisepass zur Ausreise hätten, sagte Qais Nekzai vom Patenschaftsnetzwerk dem „Evangelischen Pressedienst“. Hinzu kämen Hunderte Menschen, die vor 2013 Ortskräfte der Bundeswehr waren und damit keine Aufnahme in Deutschland beantragen könnten.
„Die Situation für ehemalige Ortskräfte ist schlimm“, sagte Nekzai. Sie lebten versteckt, versuchten, bei Verwandten unterzutauchen, wechselten ständig den Wohnort, berichtete Nekzai, der selbst für die Bundeswehr als Übersetzer in Afghanistan tätig war und seit 2014 in Deutschland lebt. „Ich weiß, wie gefährlich Afghanistan für sie ist“, sagte er: „Hätten mich die Taliban gefunden, hätte ich keine Chance gehabt.“ (epd/mig) Aktuell Politik
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