Grenzräume
Ein Aktionsplan für die No Border-Bewegung
Müssen humanitäre Hilfe und politischer Aktivismus immer zusammengedacht werden? Ja und nein – eine Annäherung.
Von Lukas Geisler Sonntag, 26.06.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.06.2022, 8:50 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Sarah Spasiano schrieb Mitte Mai einen Artikel über das Verhältnis von humanitärer Hilfe und politischem Aktivismus. Sie stellt sich anhand von Praxisbeispielen die Frage, ob diese Ansätze unvereinbar sind oder ob es nicht doch eine Grundlage für gemeinsames Handeln gibt. Mit der grundsätzlichen Problemstellung dürften viele vertraut sein. Auf der einen Seite gibt es die humanitäre Hilfe, die sich als unpolitisch definiert und pragmatisch Unterstützung leistet. Auf der anderen Seite stehen politisch-aktivistische Gruppen, die Kampagnen, Demonstrationen und widerständige Praktiken gegen das Grenzregime organisieren. Beide wollen die Situation derer verbessern, die flüchten und von der Festung Europa sowie rassistischen Gesellschaftsstrukturen ihr Recht, Rechte zu haben abgesprochen bekommen.
Uneinigkeit besteht allerdings über den Weg zum Ziel. Dabei gibt es holzschnittartig den Vorwurf an aktivistische Gruppen, dass sie zwar große Forderungen stellen, aber im Endeffekt keiner flüchtenden Person im Jetzt damit geholfen ist. Ihr Widerstand verbleibt allzu oft auf der diskursiven Ebene. Dagegen wird humanitärer Hilfe vorgeworfen, dass sie rassistische Strukturen reproduzieren oder gegenüber Missständen zu schweigen. Beide Positionierungen bringen Vor- und Nachteile mit sich. Spasiano betont in ihrem Artikel die Gemeinsamkeiten und plädiert daher dafür Allianzen zu bilden.
Herrschaft als Konsens und Zwang
Ich stimme Sarah Spasiano zu. Nur durch ein gegenhegemoniales Projekt lässt sich letztendlich ein Grenzregime überwinden, dass tagtäglich das biologische Leben von tausenden Menschen bedroht. Doch ich möchte diese erarbeitete Perspektive weiten und danach fragen, wie solche Allianzen aussehen können. Durch die machttheoretische Perspektive des italienischen Marxisten Antonio Gramsci und den Aktionsplan für soziale Bewegungen von Bill Moyer lässt sich eine Möglichkeit eröffnen, die über ein schlichtes Fordern von Allianzbildung hinausgeht und auch nicht notwendigerweise Leuchtturmprojekte braucht, die beides vereinigen. Dafür ist es von Nöten beide Stränge, sowohl die humanitäre Hilfe als auch den politischen Aktivismus, als Teil der No Border-Bewegung zu fassen – mögen sie dabei radikal oder pragmatisch sein.
Herrschaft hat nach Gramsci zwei Komponenten: Konsens und Zwang. Dabei benutzt er den Begriff der Hegemonie. Dies bedeutet, dass herrschende Politik sich auf konkrete Weise mit dem allgemeinen Interesse von untergeordneten Gruppen abstimmen muss. So werden die Interessen keineswegs in reiner Form durchgesetzt, sondern Ziel ist es, einen Kompromiss, einen Ausgleich bis zu einem gewissen Punkt zu finden, der den Widerstand gegen Herrschaft befriedet. Es gibt also Zugeständnisse. Erst wenn der hegemoniale Machtblock ein solchen Konsens nicht mehr herstellen kann, wird Zwang ausgeübt. Und genauso wie herrschende Politik am besten durchgesetzt werden kann, wenn möglichst große Teile der Bevölkerung miteinbezogen werden, verhält es sich bei gegenhegemonialen Projekten, die sich der Herrschaft widersetzen.
Ein Aktionsplan für Bewegungen
Auch Bill Moyer bezieht sich auf ein Konzept von Herrschaft, das auf Konsens beruht. Der Movement Action Plan, wie der englischsprachige Titel des Aktionsplans für Bewegungen lautet, verbindet politische und sozialpsychologische Überlegungen und entwickelt eine strategische Theorie für die Analyse, Planung und Durchführung sozialer Bewegungen. Aus empirischen Erkenntnissen aus den verschiedenen sozialen Bewegungen in den USA entwickelt er acht idealtypische Phasen von Bewegungen, die vom Nachweis des Versagens der Institutionen, über reifende Bedingungen, den eigentlichen Start einer sozialen Bewegung, bis hin zur massiven Unterstützung und dem letztendlichen Erfolg reichen.
„Soziale Bewegungen sind nur dann erfolgreich, wenn verschiedene Akteur:innen in ihren unterschiedlichen Rollen innerhalb der sozialen Bewegung konstruktiv zusammenarbeiten.“
Dabei spielt vor allem die Öffentlichkeit eine zentrale Rolle, denn Herrschaft hängt nach Moyer immer von der Billigung, Kooperation und Unterstützung der Gesamtbevölkerung ab. Der relevanteste Aspekt des Aktionsplanes für meine Überlegungen ist, das verschiedene Rollen in sozialen Bewegungen ausgemacht werden, die unterschiedliche Aufgaben haben, allerdings alle notwendig für den Erfolg sind. Soziale Bewegungen sind nur dann erfolgreich, wenn verschiedene Akteur:innen in ihren unterschiedlichen Rollen innerhalb der sozialen Bewegung konstruktiv zusammenarbeiten.
Vier idealtypische Rollen
So gibt es zunächst Bürger:innen, die auf niedrigem Niveau durch Petitionen und Spenden in soziale Bewegungen eingebunden sind. Dadurch nehmen sie eine Scharnierfunktion zu anderen Bürger:innen ein und schaffen damit Akzeptanz für ein politisches Anliegen sowie verhindern die Diskreditierung der Bewegung. Ein kleiner Anteil engagiert sich mit der Zeit proaktiver. Die zweite wichtige Rolle nehmen die Reformer:innen ein. Diese benutzen die Möglichkeiten des offiziellen Systems wie Gerichte, Parlamente und offizielle Kundgebungen. Dadurch werden die Inhalte der Bewegung in die Institutionen und das konventionelle Denken getragen und ihre Erfolge umgesetzt.
Die dritte Rolle nehmen Aktivist:innen ein, die für einen gesellschaftlichen Wandel stehen. Sie organisieren Demonstrationen, machen Bildungsarbeit und so weiter. Dabei sind sie in der Graswurzelbewegung verankert und streben nicht nur Reformen, sondern eine Systemveränderung an. Und als letzte Rolle gibt es in Moyers Aktionsplan die Rebell:innen. Diese bringen oft unbekannte Probleme auf die Agenda. Sie thematisieren Spannungen zwischen Gesellschaft und Utopie. Ihre Aktionen richten sich direkt gegen Herrschaft und grundsätzlich schließen sie Gesetzesübertretungen mit ein. Durch das Risiko, was sie auf sich nehmen, heben sie das Problem in den Fokus der Öffentlichkeit.
Eine Mosaikbewegung schaffen
„Es gibt zivilgesellschaftliches Engagement, reformistische Kräfte, aktivistisch-politische Gruppen genauso wie linksradikale Rebell:innen. Ihre Funktionen unterscheiden sich, aber für das gegenhegemoniale Projekt der No Border-Bewegung sind sie alle essenziell.“
Einzelne Akteur:innen der humanitäre Hilfe und des politischen Aktivismus lassen sich in ebenjenem Schema einordnen. Mit dem Begriff des Mosaiks lässt sich dann die Gleichzeitigkeit von nebeneinanderstehenden Ansätzen als Erfolgsgarant für ein gemeinsames Projekt definieren. Wenn es gelingt verschiedene Initiativen richtig anzuordnen, dann hat die Bewegung eine Zukunft und kann erfolgreich sein. Allianzen bilden muss nicht zwangsläufig ein Miteinander bedeuten, sondern kann auch als ein Nebeneinander gedacht werden.
Das mag affirmativ und unkritisch klingen, aber was war das Ziel dieser Überlegungen? Obwohl es positive Beispiele von Leuchtturmprojekten gibt, die es schaffen beide Positionen auszubalancieren, geschieht dies zu selten. Mit einem erweiterten und langfristigen Blick eines Aktionsplans wird hingegen klar: Es gibt zivilgesellschaftliches Engagement, reformistische Kräfte, aktivistisch-politische Gruppen genauso wie linksradikale Rebell:innen. Ihre Funktionen unterscheiden sich, aber für das gegenhegemoniale Projekt der No Border-Bewegung sind sie alle essenziell.
Von der Klimabewegung lernen
Doch auch ein solches Verständnis von sozialen Bewegungen bietet Fallstricke, denn die genannten Rollen können immer auch ineffektiv ausgefüllt werden. Wenn Personen, die in der humanitären Hilfe tätig sind, das rassistische Grenzregime nur als isoliertes Phänomen betrachten und nicht in der Lage sind die dahinterliegenden Strukturen der Gesellschaft in Frage zu stellen, dann ist dies einem geordneten Mosaik nicht zuträglich. Ähnliches gilt auch für aktivistisch-politische Gruppen. Ineffektiv ist es sicherlich, wenn keine realistische Strategie besteht oder wenn sie sich selbstgerecht vom Rest der Bewegung abgrenzen. Bei jedem Radikalismus muss noch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Teilen der Bewegung erhalten bleiben. Annemarie Botzki von Extinction Rebellion (XR) und der radikale Klimagerechtigkeitsaktivist Tadzio Müller können sich für ein produktives Streitgespräch zusammensetzen.
Die Eine praktiziert friedlichen zivilen Ungehorsam, der Andere plädiert für Sabotageakte. Botzki argumentiert: „Wir als XR orientieren uns dabei daran, was in der Öffentlichkeit gerade noch als legitim angesehen wird“. Müller hält dagegen: „In der Abwägung von Rechtsgütern scheint es mir legitim, wenn Menschen mit ihren bloßen Körpern Teile der fossilen Infrastruktur kaputtmachen“. Warum die beiden trotzdem zusammen im Park sitzen, erklärt Müller so: „Martin Luther King wäre nicht so ein attraktiver Gesprächspartner für die Regierung gewesen, wenn es nicht Malcom X links neben ihm gegeben hätte. Es braucht eine radikale Flanke, die den Regierenden klarmacht: Wenn wir nicht mir den moderateren Teilen der Bewegung reden, dann gibt es den radikalen Teil, der richtig nervig ist“.
Eine Theorie der Veränderung erarbeiten
„Soziale Bewegungen sollte man nicht gleichsetzen, aber man kann von anderen progressiven Bewegungen lernen. Was die Klimabewegung der No Border-Bewegung voraus hat, sind strategische Überlegungen.“
Soziale Bewegungen sollte man nicht gleichsetzen, aber man kann von anderen progressiven Bewegungen lernen. Was die Klimabewegung der No Border-Bewegung voraus hat, sind strategische Überlegungen. Die No Border-Bewegung benötigt eine Theorie der Veränderung, die von humanitären Organisationen und aktivistisch-politischen Gruppen geteilt wird. Die Konzeption der Bewegung als ein Mosaik kann genau so eine Theorie der Veränderung darstellen. Zwischen zivilem Ungehorsam und Sabotageakten – wie zwischen humanitärer Hilfe und politischem Aktivismus – muss es keinen Kompromiss geben, allerdings können sie sich ergänzen.
Das Sprechen über unterschiedliche Rollen in der Bewegung kann Misstrauen abbauen, gemeinsame Veranstaltungen und Publikationen initiieren oder andere Formen der Kooperation entstehen lassen. Denn die unterschiedlichen Herangehensweisen von Aktivismus und konkreter Hilfe können nur komplementär zum Ziel führen. Als Mosaikbewegung ist es möglich die Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein rassifiziertes Wesen ist. Dafür muss – mit Gramsci gesprochen – in Momenten, in denen der gesellschaftliche Konsens brüchig wird und durch Zwang ersetzt wird, interveniert werden. Gemeinsam kann ein gegenhegemoniales Projekt aufgebaut werden, das wirkmächtig genug ist, um der Festung Europa gefährlich zu werden. Meinung
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