Interview mit Elizabeth Beloe
Die deutsche Kolonialgeschichte gehört in die Schulbücher
Deutschland ruft Fachkräfte und es kommen wieder Menschen. Und sie werden erneut benachteiligt – beispielsweise bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, erklärt Elizabeth Beloe, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Netzwerke von Migrant:innenorganisationen (NeMO). Im Gespräch mit dem MiGAZIN erklärt sie auch, warum die deutsche Kolonialgeschichte in die Schulbücher gehört.
Mittwoch, 13.07.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.07.2022, 13:29 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Seit dem Krieg in der Ukraine kommen viele Geflüchtete nach Deutschland. Deutschland hat die meisten Menschen unbürokratisch aufgenommen und gewährt ihnen Rechte, die Geflüchteten aus anderen Ländern bisher verwehrt wurden. Wie kommt diese Ungleichbehandlung an?
Elizabeth Beloe: Es ist eine erfreuliche Nachricht, dass ukrainische Menschen in Not Zuflucht in Deutschland finden. Das Recht auf Asyl ist eine sehr wichtige Regelung, die in der Erklärung der Menschenrechte manifestiert wurde. Allerdings bezeugen Berichte von Betroffenen von einer Ungleichbehandlung zwischen den Geflüchteten aus afrikanischen oder asiatischen Ländern und der Ukraine. Allein die Tatsache, dass gerade in Bahnhöfen, wie z.B. in Stuttgart, ukrainische Flaggen mit Weganweisungen zu den Anlaufstellen ausgehängt wurden, spricht Bände. In den letzten Jahren als Tausende Geflüchtete aus Syrien nach Deutschland kamen, um vor dem Krieg zu fliehen, hingen keine syrischen Flaggen. Sicherlich haben Behörden und die Politik von der letzten Fluchtmigration dazugelernt, doch dieses genannte Beispiel ist nur eines, das sich an eine Reihe von verschiedenen Ungleichbehandlungen anreiht, wozu auch die unbürokratischere Aufnahme gehört.
Welche Forderungen haben Sie angesichts der Ungleichbehandlung von Geflüchteten – manche sprechen von einer Klassifizierung?
„Wir setzen uns entschieden gegen die Kategorisierung von Geflüchteten erster und zweiter Klasse ein und fordern die Gleichbehandlung von geflüchteten Menschen“
Wir setzen uns entschieden gegen die Kategorisierung von Geflüchteten erster und zweiter Klasse ein und fordern die Gleichbehandlung von geflüchteten Menschen. Konkret sollten sichere Fluchtwege geschaffen werden, insbesondere im Mittelmeer durch Seenotrettung. Deutschland sollte sich stärker in europäischen Diskursen für die Schaffung sicherer Fluchtrouten einsetzen. Außerdem möchten wir, dass die prekäre Lage von Menschen in Kriegsgebieten, wie z.B. in Afghanistan, nicht vergessen wird.
Deutschland hat seit Februar mit Staatsministerin Reem Alabali-Radovan erstmals eine Antirassismus-Beauftragte. Sie ist zugleich auch Staatsministerin für Integration. Was halten Sie von der Bündelung dieser beiden Ressourcen in einer Hand?
Wir sind erfreut darüber, dass die Bundesregierung zum ersten Mal eine Antirassismus-Beauftragte ernannt hat. Mit Frau Alabali-Radovan stehen wir im Austausch unter anderen zu Themen, die sich mit der Stärkung von Menschen mit Rassismuserfahrung sowie der Bekämpfung von Rassismus und struktureller Diskriminierung beschäftigen. Die Ämter von Frau Alabali-Radovan ergänzen sich womöglich, weshalb sie umfangreichere Einblicke in die Themen hat. Uns ist bewusst, dass noch ein langer Weg hin zu einer diskriminierungsfreien, antirassistischen und inklusiveren Gesellschaft vor uns liegt. Doch wir sind bestrebt, so eine Gesellschaft in Kooperation zu schaffen.
Das Gesetz zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen und Abschlüsse steht seit Jahren und aktuell auch wieder in der Diskussion. Auch Sie treibt das Thema um. Worum geht’s? Was sind Ihre Forderungen?
„Noch immer sind Migrant:innen, darunter geflüchtete Menschen mit erheblichen Problemen konfrontiert, wenn es um die Anerkennung ihrer im Ausland erworbenen Abschlüsse und Qualifikationen geht. Das ist ein benachteiligendes Konstrukt.“
Noch immer sind Migrant:innen, darunter geflüchtete Menschen, mit erheblichen Problemen konfrontiert, wenn es um die Anerkennung ihrer im Ausland erworbenen Abschlüsse und Qualifikationen geht. Das ist ein benachteiligendes Konstrukt, welches getroffene Menschen auch in finanzielle Nöte drängt. Dabei gibt es in Deutschland einen Fachkräftemangel, für dessen Beseitigung die Einwanderung eine essentielle Rolle spielt. Wir sind auch überzeugt, dass die Kenntnisse der eingewanderten Menschen durch einen echten und rassismuskritischen Diversity-Prozess in der Arbeitswelt vorteilhaft für die hiesige Wirtschaft sein könnten. Gleichzeitig verlangen wir auch in diesem Kontext eine dezidierte Gleichbehandlung bei der Anerkennung von Abschlüssen. Ganz nach dem Motto von Max Frisch „wir rufen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, es muss also eine humanere Politik betrieben werden. Im Anerkennungsverfahren sind strukturelle Barrieren zu überwinden, d.h. bei beschleunigtem Anerkennungsverfahren müssen Menschen viel Geld bezahlen, ohne dass ein wirklicher Fortschritt ersichtlich ist.
„Nun in 2022 rufen wir Fachkräfte und es kommen wieder Menschen.“
Es braucht die Schaffung eines Netzwerks bzw. einer Verzahnung der Angebote und der effizienten Begleitung der Menschen im Anerkennungsverfahren. Grundsätzlich fehlt der Aspekt der „sozialen Integration“ im Anerkennungsgesetz. Strukturelle Veränderung muss ein fester Bestandteil des Anerkennungsgesetzes werden. Nun in 2022 rufen wir Fachkräfte und es kommen wieder Menschen. Dies wird weder im Anerkennungsgesetz noch im Koalitionsvertrag mitgedacht. Es gibt auch arbeitssuchende Menschen im Inland. Was bedenken wir zu tun mit arbeitslosen Jugendlichen in deutschen Quartieren? Wieso gibt es kein Förderprogramm für sie, um sie auszubilden? Gerade melden Handwerksbetriebe mangelnde Auszubildende. Wo bleibt die Offensive als bundesweites Programm? Es braucht ein Programm für arbeitslose Jugendliche mit Migrationsgeschichte, um sie in den entsprechenden Bereichen auszubilden – dies ist auch gut für die Struktur des jeweiligen Bundeslandes und für die gesamte Bundesrepublik. Als Bundesverband fordern wir die hürdenlose Anerkennung von Berufsqualifikationen und Bildungsabschlüssen in Deutschland.
Seit einigen Jahren schließen sich Migrantenorganisationen immer mehr zu überregionalen Netzwerken auf Landes- und Bundesebene zusammen. Manche sagen, das sei ein natürlicher Prozess; andere sagen, damit werde einer politischen Forderung nachgekommen. Wieder andere meinen, das sei Pragmatismus, um von der Politik wahrgenommen zu werden und an Fördergelder heranzukommen. Was stimmt?
Es ist vielmehr eine Notwendigkeit oder Dringlichkeit. Migrantische Menschen erleben tagtäglich Anfeindungen, Diskriminierungen und Rassismus. Doch es bleibt nicht nur bei subtilen Anfeindungen, rassistische Attentate sind leider keine Seltenheit und stellen für Betroffene eine stetige Gefahr dar. Für manche migrantische Menschen schwebt das Damoklesschwert, Opfer eines rassistischen Attentats zu werden, stets über deren Häupter.
Migrant:innenorganisationen stellen Orte und Räume dar, in denen die Menschen sicher verweilen können. Die Organisationen haben das Ziel zu empowern, Stimme zu verleihen oder Gehör zu verschaffen und gegen Diskriminierungen sowie Ungerechtigkeiten mit Forderungen vorzugehen. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, doch es bedarf weiterer Annäherungsschritte der Dominanzgesellschaft zu den Migrant:innenorganisationen.
Kürzlich haben Sie im Rahmen der Kampagnenwochen „Wir sind viele – für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft“ mit zahlreichen Teilnehmenden aus der migrantischen Community diskutiert, sich ausgetauscht. Welche Themen sind bei den Diskussionen hervorgestochen? Was treibt die Menschen um?
„Die Schaffung einer inklusiven Einwanderungsgesellschaft als Querschnittsaufgabe fehlt. Das ist aus unserer Sicht eine große politische Schwäche des Koalitionsvertrags.“
Mit dieser Aktion wollten wir darauf aufmerksam machen, dass migrantische Menschen diskriminierende Benachteiligungen in Gesellschaft erleiden. Wir haben es uns als Ziel gesetzt, für eine diskriminierungsfreie Ordnung in Deutschland einzustehen. Mit den Kampagnenwochen wollten wir diesem Ziel ein Stück näherkommen, auch indem wir der migrantischen Community durch die ausgefeilte Aktion Gehör verschafften. Im Rahmen der Wochen wurde klar, dass Deutschland als Einwanderungsland unter fehlenden Partizipationsmöglichkeiten leidet. Häufig führen diskriminierende Strukturen dazu, dass betroffene Personen keinen Zugang finden. Beispielsweise finden migrantische Personen oft keine Möglichkeit, in den politischen Betrieb einzutreten. Diskriminierende sowie rassistische Muster und das Existieren von Barrieren, wie dem Fehlen von Wissen oder Bezugspersonen, hindern Menschen an der politischen Teilhabe.
Sie haben im Rahmen der Kampagnenwoche auch über die 100-Tage-Bilanz der Ampelkoalition diskutiert. Wie beurteilen Sie die bisherige Arbeit der neuen Regierung?
„Im Bildungssystem sollte die deutsche Kolonialgeschichte aufgearbeitet werden. Leider lässt sich die furchtbare Kolonialherrschaft im Lehrplan nicht wiederfinden, wodurch auch kein wirklicher rassismuskritischer Unterricht stattfinden kann.“
Die Regierung hat mit ihrem Koalitionsvertrag einige wichtige Forderungen aufgenommen, die Migrant:innenorganisationen gestellt haben. Allerdings gibt es noch Punkte, die keine Beachtung gefunden haben. Beispielsweise ist es für uns sehr bedeutsam, die Schaffung einer inklusiven Einwanderungsgesellschaft als Querschnittsaufgabe zu betrachten. Im Koalitionsvertrag aber fehlt dieser Querschnittsansatz: Das ist aus unserer Sicht eine große politische Schwäche des Koalitionsvertrags. Vor diesem Hintergrund fehlt ein Gesamtverständnis zu der Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft, weshalb die Bedeutung der Eingliederungsarbeit von Migrant:innenorganisationen keine ausreichende Wertschätzung erhält.
Welche Forderungen aus der migrantischen Community sind noch offen?
Grundsätzlich gibt es noch viele Forderungen, über die diskutiert werden könnte. Doch eine sollte jedenfalls aufgegriffen werden: Im Bildungssystem sollte die deutsche Kolonialgeschichte aufgearbeitet werden. Leider lässt sich die furchtbare Kolonialherrschaft im Lehrplan nicht wiederfinden, wodurch auch kein wirklicher rassismuskritischer Unterricht stattfinden kann. Das muss sich ändern! Die grausame Kolonialzeit hat großes Leid verursacht und darf sich niemals wiederholen, genau das sollte auch in den Lehrbüchern stehen! Aktuell Interview Panorama
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