Türkische Befindlichkeiten
Im Jahr vor der großen Wahl
Im Jahr vor der großen Wahl in der Türkei, eine Reise von Ankara nach Adana und zurück. Doch wieder sollte die Zeit nicht reichen, um dieses rätselhafte Land zu verstehen - Farben, Tönen, Menschen, ihre Geschichten, krasse Gegensätze.
Von Jochen Menzel Dienstag, 02.08.2022, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 05.08.2022, 8:26 Uhr Lesedauer: 19 Minuten |
Im Jahr vor der großen Wahl, eine Reise von Ankara nach Adana und zurück. Doch wieder sollte die Zeit nicht reichen, um dieses rätselhafte Land zu verstehen, das ab jetzt im internationalen Sprachgebrauch „Türkiye“ genannt werden will. Zur unüberschaubaren Vielfalt an Farben, Tönen, Menschen und ihren Geschichten gesellte sich wie immer das Nebeneinander von krassen Gegensätzen, die wir alleine mit Zahlen, Statistiken und Umfragen nicht verstehen können. Vielmehr müssen wir uns darin üben, Ambiguitäten des Alltags und ihre Bilder zu akzeptieren, um ihren verborgenen Sinn zu entdecken. Vielleicht meinte dies Yunus Emre, der anatolische Mystiker des 13. Jahrhunderts, als er vom Suchen sprach, der „seyr-i sülük“, der Reise der Erkenntnis vom Äußeren (zahiri) zum Inneren (batini).
Ankara – eine Wandzeitung
Verstehen – einen möglichen Anfang finde ich in Ankara in Texten auf den Kacheln eines belebten Fußgängertunnels. Ich bleibe stehen und beginne zu entziffern: 2 Liebesgedichte, ein Klagelied über das Leben in der Türkei und zur Besänftigung ein Backrezept für Zimtplätzchen. Die Texte, etwas verwischt und nebeneinander wie eine Wandzeitung, sind unterschrieben mit „Kayayı delemeyen incir“, zu Deutsch etwa „Die Feige, die den Fels nicht durchbohren kann“. Eine ironisch-literarische Reverenz an den immer noch geliebten Poeten Turgut Uyar. Er hatte in den 90er Jahren einer Gedichtsammlung den optimistisch-dadaistischen Titel gegeben „Die Feige, die den Fels durchbohrt – kayayı delen incir“.
Kein Datum, keine Facebook- oder Instagram-Adresse gibt Hinweise auf den Schreiber, die Schreiberin. Ich male mir aus eine Stadt-Rebellin, die ihre Sehnsüchte, ihre Wut nicht für sich behalten will. Sie ruft uns zu: Ich bin es leid, in der Türkei zu leben – Türkiyede yaşamaktan yoruldum … Wegen denen, die ihr Essen auf goldenen Tellern zu sich nehmen, hab‘ ich heute meinen Job zum zweiten Mal verloren. Ich habe es satt, wie ein Esel zu schuften, bin es leid, gleichzeitig zu arbeiten und studieren zu müssen. Auch wenn ich studiere, wird nicht mal ein Scheißer aus mir. Ich habe das Leben leid, die Lieblosigkeit, Vaterlosigkeit, das Frausein, Mannsein, ein Schwuler zu sein…
Eine Anklage, die lauter wird mit den Preissteigerungen, dem Verfall der Währung, die das Reisen in die Welt unerschwinglich macht. Ein Aufbegehren, zornig geschrieben gegen die Entwertung der Arbeit und ihre miese Entlohnung, gegen die täglichen Demütigungen, gegen die Zensur von Fröhlichkeit und Meinungen.
Vom Mensch sein – zum Beispiel Kırşehir
Eine zentralanatolische Stadt mit weitem Horizont und knapp 100.000 Einwohnern. Zwei Stunden Autofahrt von Ankara. Ich besuche das Grab von Neşet Ertaş, dem 2012 verstorbenen Barden, der auf einzigartige Weise die Seele Anatoliens zum Klingen brachte. Der Weg zum Friedhof führt am Gefängnis vorbei einen Hang hinauf. Auf seinem Grab lese ich die ewige anatolische Sehnsucht:
„Sei ruhig Menschenskind, verletze kein Herz,
jedes Leben ist ein Herz, verbunden mit Gott…“____
„Sakın ol ha, insanoğlu, incitme canı, incitme
her can bir kalp, hakk’a bağlı.
Doch zwei Gräber weiter stehe ich vor einem Grabstein mit dieser Inschrift: “Güvenme dostuna, ot doldurur postuna“. Ein türkisches Sprichwort, das wir so übersetzen könnten:„Traue nicht jedem, der sich dein Freund nennt, er wird dir das Fell über die Ohren ziehen“.
Zwei Seiten, die gegensätzlicher nicht sein könnten und doch zusammengehören. Eine doppelte Wirklichkeit, der ich in den nächsten Wochen überall begegnen werde.
Weiter oberhalb der Stadt, betrete ich den Campus der neuen Universität, benannt nach Ahi Evran, einem Humanisten des 13. Jahrhunderts aus Kırşehir. Er legte mit seinen Gedanken das noch heute geachtete moralische Fundament für das Zunftwesens Anatoliens. Ein weitläufiges Gelände, mit Studentenwohnheimen und Fakultätsgebäuden, über dem das Rektoratsgebäude thront. Gleich am Campus-Eingang fällt mein Blick auf die im seldschukischem Stil erbaute Universitätsmoschee. Noch ist sie Baustelle und zum Abendgebet findet sich der Imam zusammen mit einem Sicherheitsbeamten. Doch das Statement ist klar: Lehre und Forschung der Universität brauchen den Glauben und das Gebet.
Zurück im Hotel, 15-stöckig, hineingebaut in die anatolische Steppe. Auf riesigen Reklametafeln vor der Stadt preist es sich an als das größte Thermalhotel Europas. Doch schon mit dem Bau vor 12 Jahren hat es sich übernommen, die Tage des Corona-Lockdowns haben ihm weiter zugesetzt. Missgelauntes, unterbezahltes Personal verrichtet seinen Dienst im Speisesaal und der abgenutzten Lobby.
Beherbergt werden Schülergruppen, die zu Sportwettkämpfen gekommen sind. Aber auch eine Gruppe Polizisten ist zu Gast. Sie sind Taucher und fahren seit Wochen täglich zu dem nahen Kızılırmak-Stausee. Zwei junge Menschen wurden dort ermordet und in den See geworfen. Eine Leiche wurde gefunden. Das Wasser wurde abgelassen, um auch die zweite zu finden.
Auf der Weiterfahrt nehme ich einen Anhalter am Straßenrand mit. Ein junger Mann, der soeben seinen Wehrdienst im Nordirak beendet hatte und auf dem Heimweg nach Çanakkale ist. Er berichtet von dem Tag, als er zwei Gefangene machte, einen Japaner und einen anderen Ausländer, die beide mit der PKK zusammen kämpften. Er nahm an tödlichen Kommandos teil, sah sterbende Kameraden. Jetzt ist er auf der Suche nach einem Neuanfang im zivilen Leben.
Tarsus – die Stadt Kleopatras und des Apostel Paulus
Nicht weit vom Brunnen des Heiligen Paulus, dem touristischen Hotspot der Stadt, – ein hübscher, italienisch anmutender Altstadtplatz. In Erwartung des Touristenbooms baut eine internationale Hotelkette alte Herrschaftshäuser um.
Gegenüber ein kleiner Laden, den die Gemeindeverwaltung betreibt. Ab 8 Uhr morgens stehen Menschen Schlange – denn das Brot kostet hier statt 3 TL nur 1 TL, der Liter Milch statt 9 TL nur 6 TL. Mit täglich steigenden Preisen, auch für Grundnahrungsmittel, haben sich diese kommunalen Verkaufsstellen vermehrt.
Ein Tag später, es ist der 1. Mai. Von Polizisten abgeschirmt, versammeln sich 500 bis 600 Menschen zur Kundgebung. Kurdische Lieder erklingen, zu denen der Halay getanzt wird. Fahnen der Gewerkschaften, der kommunistischen Partei, der sozialdemokratischen CHP wehen im heißen Mittagswind. Auf Transparenten und Schildern wird gefordert ein „menschenwürdiges Leben“, „gleiche Rechte für Frauen“, „Schutz vor Gewalt“. Von der Bühne prangert eine Rednerin in scharfen Worten die Verarmung der Arbeitenden an, die Zensur des Wortes, der Gedanken. Fast drohend schließt sie unter großem Applaus: „Haltet uns nicht für verrückt, wir werden nicht schweigen“.
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Polizisten in Zivil und in Uniform verfolgen routiniert dieses bunte, laute Treiben. Den Rand des Platzes umrahmen Verkaufsbuden, an denen Familien sich nach der Kundgebung tütenweise mit Bonbons für das Ramadanfest am nächsten Tag eindecken.
Um nicht von den Kosten des Lebens erdrückt zu werden, müssen die Menschen haushalten, rechnen. Das gilt auch für die Hochzeit, die ich am Abend besuche. Die sonst übliche Großzügigkeit bleibt aus. 300 Gäste sind gekommen, gefeiert wird unter freiem Himmel in einem Restaurant außerhalb der Stadt. Wie die Braut haben sich die Frauen in vielen Stunden von Friseurinnen und Kosmetikerinnen „verschönern“ lassen und wollen von mir fotografiert werden. Die Musik des Abends kommt aus dem PC, live ist nur die Trommel Davul und die Zurna zum Halay, dem großen Reigentanz. Auf den Tischen stehen einige Flaschen Wasser, Cola und Fanta; dazu Nüsse, Kichererbsen und Sonnenblumenkerne, das muss genügen. Ein Essen wird es nicht geben.
Als das Brautpaar dann vor der fünfstöckigen Hochzeitstorte steht, eine Überraschung – das große Messer ist wie die Torte eine Attrappe. So wie sie hineingefahren wurde, fährt sie wieder hinaus, bereit für die nächste Hochzeit. Den Gästen werden auf Tellern Kuchenstücke gereicht, die aus der Küche kommen.
Adana – kurz vor den Sommerferien
Ein kleines Café in einem der neuen Viertel Adana’s. Hier warten Mütter, die ihre Kinder aus der renommierten Privat-Schule gegenüber abholen. Lehrerinnen kommen vorbei für einen Imbiss. Eine von ihnen lädt mich auf einen Mokka ein und klagt mir, dem Fremden, offen ihr Leid. Denn heute steigt die Spannung unter den Kolleginnen: die Chefs der Privat-Schulen werden verkünden, welche Jahresverträge verlängert werden. Wie bitte, Lehrer mit Einjahresverträgen?
Mit dem sinkenden Niveau der staatlichen Schulen ist der Privatschulsektor in der Türkei zu einem profitablen Wirtschaftszweig angewachsen. Hier werden die Verträge nur für ein Jahr abgeschlossen. Die Verlängerung erfolgt nach „Performance“, d.h. nach Leistung und der Zufriedenheit der Eltern. Kontrolliert wird nicht durch Unterrichtsbesuche, sondern per Kamera, die erbarmungslos jeden Unterrichtsraum, jede Minute bis in den letzten Winkel aufzeichnet, ungefragt.
Die Nervosität dieses Tages erlebe ich, als eine Gruppe von Lehrerinnen am Nachbartisch Platz nimmt. Sie können aufatmen, ihre Verträge wurden verlängert, nur zwei Kolleginnen sind nicht unter den Glücklichen.
Am Abend treffe ich mich mit Freunden in einem Café, das für sein Kadayıf beliebt ist. Ein Zuckergebäck aus dünnen Teigfäden, in Sirup getränkt, auch Engelshaar genannt. Als wir bedient werden, erfahren wir: Der Besitzer dieser florierenden Kette wurde vor ein paar Stunden mit mehreren Pistolenschüssen umgebracht, mitten in Adana. Der Täter konnte entkommen, über die Motive wird spekuliert. Doch der Betrieb wie das Leben auch kennt kein Innehalten, keine Pause.
Kozan, bei Adana
Eine gemächliche Kreisstadt, zwei Stunden Busfahrt im Norden von Adana. Hoch oben auf einem schmalen Felsplateau thront eine Festung und wegen ihrer historischen Gassen werden hier gerne TV-Serien gedreht. Unterhalb des Burgberges erinnern Ruinen einst nobler Stadthäuser an die armenische Geschichte. Eines davon, ein ehemaliger armenischer Konak, wurde restauriert und dient heute als Hotel-Restaurant. An anderer Stelle zeigt mir ein Taxifahrer das ehemalige armenische Krankenhaus, in dem noch zu seiner Kindheit Kranke behandelt wurden. Am Rande des kleinen Flüsschens im Stadtpark werde ich von zwei pensionierten Beamten mit viel Zeit durch eine ehemalige Mühle geführt, die einst Armeniern gehörte. In ihren Erzählungen schwingt Bedauern mit über eine tragische Vergangenheit.
Kozan war für die Geschichte der armenischen Gemeinde bedeutend, da sie bis zu ihrer Vertreibung 1915 das Katholikat von Kilikien beherbergte. Wie ein Mahnmal deuten die Mauerreste des einst mächtigen Klosters auf diese dunklen Jahre. Als ich zwischen den Ruinen den Ausgang suche, begegne ich einer jungen Schülerin, nachdenklich auf einer Bank sitzend. Sie stellt sich mit Duygu vor – und erzählt, dass sie gerade aus einer „Dershane“ gekommen war. Das sind „Paukinstitute“, – inzwischen profitable Wirtschaftsunternehmen -, wo sich Schüler am Wochenende für Prüfungen vorbereiten, an denen jährlich bis zu 3 Millionen teilnehmen. Das Land hat eine merkliche Nervosität erfasst, denn die erreichte Punktzahl entscheidet, an welcher Universität studiert werden kann.
Duygu ist unsicher, ob ihre Punkte für die Çukurova Universität in Adana ausreichen werden. Doch selbst wenn es klappt, hat sie Bedenken: sie ist bedrückt wegen der Teuerung, die sie „berbat“ nennt, zu Deutsch „katastrophal“. Die steigenden Preise für Busfahrten, die Studentenwohnheime, die Kosten des Alltags, – sie möchte ihren Eltern nicht zur Last fallen.
Als wäre das nicht genug für den Tag, begegne ich am Abend einem Lehrer. Er hatte als Kind mit den Eltern in Berlin gelebt. Sie kehrten Mitte der 80er Jahren in die Türkei zurück, als es dafür Prämien gab. Doch wie gerne wäre er in Deutschland geblieben, denn seine Hoffnungen auf eine Reform des staatlichen Schulwesens hat er aufgegeben
Die Sehnsucht des Lehrers nach besseren Verhältnissen und einem anderen Land – ein fast tägliches Stereotyp. Und viele Gespräche enden – so wie auf meinen Türkei-Reisen in den 70 er Jahren -, mit der Frage: wie komme ich nach Deutschland.
Mit dem Zug nach Ankara
Während der Zug von Adana nach Konya sich in rund sieben Stunden über das Taurus-Gebirge quälen muss, bringt mich der „hızlı tren“ genannte Schnellzug in knapp zwei Stunden von Konya nach Ankara. Das wachsende Netz dieser neuen Bahnstrecken – eines von vielen Verkehrsprojekten der letzten Jahre – hat die verschlafene Staatsbahn gründlich wachgerüttelt. Zusammen mit den Autobahnen, die inzwischen das gesamte Land in alle Himmelsrichtungen durchziehen, ist die türkische Gesellschaft noch reisefreudiger geworden. Eine Veränderung, für die man die AKP Regierung gerne lobt.
Während meiner Bahnfahrt zieht am Zugfenster vorbei eine sich rapide gewandelte Türkei. Schon weit vor Ankara beginnen die Hochhaussiedlungen von Eryaman, Sincan. Wie Pilze schießen sie aus dem Boden, oft sind es nur staubige Feldwege, die zu ihnen führen. Industriezentren stehen im Rohbau, kilometerlang reihen sich Fertigbauten aneinander, in die einmal Gewerbe, Kfz-Werkstätten, Kleinindustrie einziehen werden. Was hier an Beton verbaut wurde, hinterlässt klaffenden Wunden auf der Haut von Mutter Erde, der die Steine für Kalk und Marmor entrissen werden. Auch das zieht am Zugfenster vorbei.
Wir fahren ein in den Hauptbahnhof von Ankara, ein postmoderner im Marmor sich spiegelnder Bau mit vielen Rundungen. Über den Gleisen ist das noble Ankara Hotel untergebracht, von wo die Gäste beim Frühstück auf die einfahrenden Züge blicken. Die Hauptstadt hat sich in den letzten Jahren vor allem in den Außenbezirken, entlang der großen Straßen verändert. Batıkent war vor vielen Jahren nur der Auftakt, jetzt zeigt das ehemalige Dorf Yuvaköy im Norden Ankaras mit neuen Hochhäusern wie es weitergeht.
Ulus, der historische Mittelpunkt mit dem ersten Parlamentsgebäude und die Viertel nördlich der Çankırı-Strasse stehen vor einer Erneuerung (kentsel dönüşüm). Der Burgberg hinauf vorbei am Museum der Anatolischen Zivilisationen hat sich bereits in ein touristisches Kleinod verwandelt. An den Hängen gegenüber räumen Bulldozer Gecekondus, die über Nacht gebauten Siedlungen, beiseite.
Im quirligen Zentrum entlang des Atatürk-Boulevards ist vieles beim Alten geblieben. Die Tunalı-Hilmi-Strasse, der winzige Kuğulu Park, das Viertel um die 5-Sterne-Hotels Hilton und Sheraton hinauf zum Seymenler-Park, – lebendig wie immer, bis in die späten Nachtstunden.
Eine Leichtigkeit des Lebens, die trotz Inflation, Wirtschaftskrise und staatlicher Gängelung überrascht. Zeigt doch die Staatsmacht Präsenz, an den Ausfallstraßen mit Absperrgittern und Verkehrskontrollen. Und wie eine Drohung sind seit dem Militärputsch vor sieben Jahren an der Statue der Menschenrechte Polizeieinheiten hinter Wellblechzäunen in Stellung gebracht. Denn hier, an der Ecke der beliebten Konur- und Yüksel- Fußgängerzone formierte sich gewöhnlich die Protest.
Die Rentner, die Touristen und die Währung
Mit dem Verfall der türkischen Währung, die zu einer bisher unbekannten Steigerung der Kaufkraft der Reisenden aus Europa führte, hat sich das Verhältnis zwischen den Gästen, den sonst so liebevoll umsorgten „Fremden“ und Einheimischen, verhärtet. Im Restaurant, im Hotel, bei jedem Einkauf, überall demonstriert der Euro und Dollar, die Wertlosigkeit der eigenen Arbeit. Der Tee kostet 5 Türkische Lira, d.h. 0,20 Euro, das Essen selten mehr als 5 Euro, eine Übernachtung in 5 Sterne Hotels ist ab 30 Euro zu haben. Es ist eine Demütigung für alle, die hier bedienen, saubermachen, in langen Schichten schuften müssen für einen Tageslohn, den der Gast für sein Essen lässig auf den Tisch legt. Es wird registriert, dass selbst das bescheidene Rentnergehalt eines türkischen „Almancı“ oder „Deutschländers“ ihn hier zum König macht. Seine 600 bis 700 Euro Monatsrente sind so viel wert wie das Gehalt eines Lehrers, eines Uniprofessors.
Am härtesten trifft es die Jugend, die die Welt kennenlernen will. Denn zur Visahürde ist jetzt auch die Unbezahlbarkeit von Auslandsreisen gekommen. So wächst eine Generation heran, der es – wenn nicht gerade ein Erasmus oder DAAD Stipendium winkt – unmöglich gemacht wurde, die Welt kennen zu lernen.
Eine gesellschaftliche Wunde, die lange nicht verheilen wird, und doch in den meisten Berichten über die Türkei unerwähnt bleibt. Warum seht ihr dieses Unrecht nicht, ihr im Westen, die ihr in Europa ein bequemes Leben führt?
Vor den Parlamentswahlen – zwischen Auflehnung, Ratlosigkeit und Schweigen
Es ist ein sonniges Ankara-Wochenende. Wir schlendern mit Freunden über den Campus der ODTÜ, der renommierten Middle East Technical University. Heute feiern die Studenten ihr Sommerfest. Eine bunte Vielfalt hat sich ausgebreitet, die von einem Info-Stand der kommunistische TKP mit Marx, Engels Porträts im Wappen bis zur Werbung für Breakdance-Kurse reicht. Freundlich, entspannte Studenten kommen zusammen, die selbstbewusst ihren rebellischen Geist zur Schau stellen und nicht gut auf staatliche Eingriffe in die Hochschulautonomie zu sprechen sind. Der ungeliebte Rektor bekommt das gewöhnlich zu Semesterbeginn zu spüren, wenn seine Begrüßungsrede in Buhrufen untergeht, die er dann als gedruckte Rede verteilen muss.
Seit einiger Zeit werfen die großen Parlaments- und Präsidenten-Wahlen im Juni 2023 ihre Schatten voraus. Es ist ein symbolträchtiges Jahr, denn es jährt sich auch die Republikgründung vor 100 Jahren.
Trotz Wirtschaftskrise und sinkender Zustimmung glaubt kaum jemand an ein Ende der Ära Erdoğan, der mit seiner AKP Partei seit 2002 der Türkei seinen Stempel aufgedrückt hat. Denn das Vertrauen in eine Oppositionskoalition, die sich aus sechs Parteien, aus Sozialdemokraten, ehemaligen AKP Regierungsmitgliedern und Religiösen gebildet hat, ist gering. Sollte sie die Regierung stellen, könnte das der Auftakt sein für innere Unruhen, befürchten viele. Und so klagen nicht nur Taxifahrer über mangelnde Alternativen. Auch liberale Universitätsprofessoren können sich vorstellen, ihre Stimme der AKP zu geben.
Statt sich der Krise anzunehmen rückt die Opposition in den Fokus die wachsende Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Wie schon vor Jahren, tut sich die sozialdemokratische CHP darin hervor, die Rückführung der Syrer zu fordern. Ein heikles Spiel mit Nationalstolz und dem Leid der Menschen, über das man sich Wählerstimmen verspricht. Und wenig überrascht die breite Zustimmung der Öffentlichkeit zu den Operationen des türkischen Militärs im Nordirak oder syrischen Grenzgebiet. Mit großen Traueranzeigen beklagen auch dieser Tage wieder die Bürgermeister von Ankara, Izmir und Istanbul die gefallenen Soldaten.
Die intellektuelle Opposition, sonst so beredsam, findet kaum Worte für die Probleme des Landes. Mutige Ausnahmen sind die kritischen Kommentare des Weltpianisten Fazıl Say, der wie der Sänger Tarkan – sein Song geçcek, „es wird vorübergehen“ war ein Riesenhit – ganz unverblümt für den Regierungswechsel eintritt.
In der Haltung zum Krieg Russlands gegen die Ukraine dominiert der altbekannte Antiamerikanismus. Vor allem die Linke sieht ihn als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland. Zülfi Livanelli, der Sänger, Komponist und Autor fand es nicht anstößig, zusammen mit dem Filmemacher Nebil Özgentürk nach Moskau zu reisen, um sich in einer Gedenkveranstaltung für Nazim Hikmet, – er liegt in Moskau begraben -, feiern zu lassen.
Ratlosigkeit, Zensur und ein „brain drain“, die Abwanderung von Akademikern, erschweren einen gesellschaftlichen Diskurs, aus dem Perspektiven für eine demokratische, weltoffene, türkische Republik erwachsen könnten.
Doch es gibt auch zarte, ironische Debatten. Eine fand ich im Magazin Bavul/Koffer, eines von vielen monatlich erscheinenden Kunst- und Kulturmagazinen. Auf ihrem Umschlag prangte als Aufmacher: „Türkei, ich bin mit dir nicht einverstanden“, um dann weiter zu fragen „Warum ist es unmöglich, einen Ort nicht zu lieben, der mich seit meiner Geburt fast nur enttäuscht hat? Und die ironische Antwort: „Weil es meine Heimat ist. Wie eine Familie, die du dir nicht aussuchen kannst – also wirst du sie lieben“ (Gökhan Horzum, Bavul 7/2022)
„Dieses Paradies und diese Hölle ist unser“ (Nazim Hikmet)
Kurz vor der Rückreise, noch einmal diese Gegensätze, das Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart, wie wir es nicht kennen.
Während viele Oppositionelle, Richter, Journalisten, Politiker seit dem letzten Putsch im Gefängnis sitzen, oft ohne Anklageschrift, findet an anderer Stelle eine Metamorphose statt. Aus Gefängnissen, Orten von Gewalt und Folter, wo Todesurteile vollstreckt wurden, sind Museen, Kultur- und Kunstzentren geworden. Aus Yassıada, der kleinsten der Prinzeninseln vor Istanbul, wo 1961 nach 872 (!) Gerichtssitzungen der damalige Ministerpräsident Adnan Menderes zum Tode verurteilt wurde, ist heute eine Museumsinsel mit Luxushotel geworden. Die Geschichte des Putsches von 1960 und seiner Akteure wird aufwändig ausgestellt und Adnan Menderes rehabilitiert. Seit 2013 heißt dieser Ort nun „Insel der Demokratie und Freiheiten“.
In Sinop am Schwarzen Meer verwandelt sich gerade das ehemalige Festungsgefängnis – auch mit europäischem Geld – in ein riesiges Kulturzentrum. Der Romanautor Sabahattin Ali machte diesen Ort, an dem er mit vielen anderen Persönlichkeiten der türkischen Geschichte einsaß, mit seinem Gedicht „aldırma gönül – nimm’s dir nicht zu Herzen“ berühmt. Das neue Museum wird nun, 74 Jahre nach seinem Tod, seinen Namen tragen.
Und aus dem Ulucanlar Gefängnis in Ankara, wo Nazim Hikmet und sein Kontrahent Necip Fazıl Kısakürek inhaftiert waren, wo Deniz Gezmiş und Genossen einsaßen und gehängt wurden, ist heute ein vielbesuchtes Museum mit einer Sanat sokağı genannten Künstlergasse samt Ateliers geworden.
Als ich den Taxifahrer, der mich nach Ulucanlar bringen soll, frage, ob er diese Adresse kenne, – ich füge ironisch hinzu „vielleicht auch von Innen?“ – nickt er grinsend. Einige Monate musste er hier für eine Jugendsünde büßen. Ebenso mein Freund der Kalligraph Kadir war einmal im Ulucanlar- Gefängnis in Haft. Heute hat er hier sein Atelier, in dem er mir und vielen Schülern die Kunst der osmanischen Schönschrift zeigt.
Vor meiner Rückreise denke ich wieder an die „Stadtrebellin“, an die „Feige, die den Fels nicht durchbohren kann“. Hat sie etwa weitergeschrieben, was erzählt sie jetzt? Die Unterführung unter der Stadtbahn ist belebt wie immer, Studenten, Hausfrauen eilen an mir vorbei. Ein Blinder verkauft Socken am Eingang. Suchend wandern meine Augen die Kachelwand entlang. Wo ist sie, die Wandzeitung, wo sind die Liebesgedichte, die Anklagen, das Backrezept, wo ist die Fortsetzung? Ich schaue auf blanke, saubere Kacheln, nicht eine Spur ist geblieben.
Incir, die Feige ist verstummt, wie lange noch? … Aktuell Feuilleton
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